Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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bei Jeannie!“, antwortete Jessica, ohne den Blick von den Tasten ihres Keyboards zu wenden.

      „Hätte ich mir ja denken können!“, murmelte Nick genervt in die nun ertönenden Bassläufe hinein. Der Sound war klar, das Warm-up konnte beginnen.

      „Was hättest du dir denken können?“, fragte Jessica zurück.

      „Dass sich das Ding hier in der feuchten Scheune andauernd verstimmt!“, klammerte sich Nick fast schon verzweifelt an seinen Bass.

      Jessys Finger hielten mitten in der Melodie von „Dangers for Strangers“, einem neuen Song von Jasmin, inne. Sie wandte sich Nick zu. Er tat so, als gäbe es für ihn im Moment nur die Saiten seines Instruments. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er aber Jessicas gerümpfte Nase. Er wusste genau, was diese Vokabel in der Körpersprache seiner Klassenkameradin zu bedeuten hatte: „Du bist durchschaut, Mann!“

      „Eifersüchtig?“, fragte sie ihn unverblümt.

      Er schwieg. „Verdammt noch mal“, dachte Nick, „wenn’s nur das wäre!“ Er hatte sich seine Eifersucht ja schon längst eingestanden, aber noch brutaler waren die Schuldgefühle, die seit der Geschichte mit dem Handy an ihm nagten. Klar, sie hätten in dem Moment auch nicht viel für Jeannie tun können. Die Typen waren ja bereits voll in Fahrt gewesen. Er erinnerte sich an das Krachen und Splittern der Türe und Janines Schreie auf der Mailbox. In der Stunde, die bis zum Abhören der Nachricht vergangen war, hätte Jeannie auch sterben können. Was wäre aus seiner Psyche geworden, wenn die kleine Hexe schwerere Verletzungen davongetragen hätte? Und wenn sie gar verblutet wäre? Und wenn ...?

      Nick bemerkte, dass Jessy plötzlich neben ihm stand.

      „Gibt’s da was, worüber du reden möchtest?“, fragte sie ihn.

      Das Mitgefühl, das er, wie er fand, nicht verdiente, ließ sein schlechtes Gewissen so sehr anwachsen, dass er glaubte, sein Herz würde in wenigen Sekunden platzen. Er spürte Galle und Cola in seinem Hals aufsteigen. Gerade noch rechtzeitig schnallte er die Bassgitarre ab, drückte sie Jessica in die Arme und rannte aus der Scheune. Würgend erbrach er sich ins Gras. Sein Magen verkrampfte sich wieder und wieder, selbst, als seine Vorräte an Säure, Getränken und Speisen schon erschöpft waren. Eine Hand legte sich zart auf seine Schulter. Er drehte sich um, wollte einfach nur brüllen, die Worte herauskotzen wie vorher seinen Mageninhalt: „Lass mich einfach in Ruhe, verdammt noch mal!“

      Verblüfft hielt er inne. Mit einem Mal schämte er sich seines Ausbruchs und auch sein Anblick war ihm peinlich. Im eigenen Erbrochenen kniend, mit Tränen in den Augen und mit wutverzerrter Miene schrie er den Menschen an, der ihn trösten wollte. Er hatte vermutet, Jessica wäre ihm nachgekommen. Er blickte jedoch nicht in Jessys Gesicht, sondern geradewegs in Yasemins erstaunte Augen.

      „Entschuldige bitte ...“, stammelte Nick, aber die junge Kurdin gab ihm nur einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter und lachte ihn frech an: „Jaja, diese Rockmusiker, schon vor dem Auftritt besoffen!“

      Ein unerbittliches Zittern in seinen Knien hätte beinahe verhindert, dass Nick aufstand, aber schließlich rappelte er sich doch hoch. Ein wenig gequält lächelte er das unverdrossen fröhliche Gesicht Yasemins an, noch immer peinlich berührt.

      „Schön wär’s“, nuschelte er, gegen den wieder aufsteigenden Geschmack von Magensäure ankämpfend, „dann hätte ich wenigstens vorher meinen Spaß gehabt!“

      Yasemin erwiderte nichts, aber ihr Blick zeigte, dass sie verstand. Selbst heftig kauend, hielt sie Nick ein geöffnetes Päckchen „Ripley’s Spearmint“ hin. Als Werbeveranstaltung zu ihrem wortlosen Angebot produzierten ihre Lippen eine überdimensionale Blase aus grünem Bubblegum. Die Farbe erinnerte Nick unglücklicherweise an jenes Gemisch aus Körpersäften und Wiedergekäutem, das er gerade erst von sich gegeben hatte. Zu seiner eigenen Verwunderung rebellierte sein Magen nicht mehr. Die Kaugummiblase platzte und die zähe Masse hing wie ein alter Putzlappen an Yasemins Nasenspitze. Verwundert schielte das Mädchen die Bescherung an. Als wäre er eine Digitalkamera, speicherte Nick diesen Anblick ab. Noch nie hatte er erlebt, wie, wenigstens für einen Moment, alle Sorgen und Selbstbezichtigungen gemeinsam mit einer Kaugummiblase platzten. Er nahm sich selbst einen Streifen aus der Packung und begann zu kichern. Schließlich standen beide lachend auf der Wiese und nicht einmal der penetrante Geruch des frisch Erbrochenen konnte ihre Heiterkeit vertreiben.

      Jessica hatte behutsam erst den Bass zur Seite geräumt, den Volume-Regler des Verstärkers auf „0“ zurückgedreht, um Rückkopplungen zu vermeiden, und war dann zum Scheunentor gelaufen. Ihr war es ein echtes Bedürfnis, Nick zu trösten. Der Freund ihrer besten Freundin war ihr seit der Zeit, in der sie schon als Band zusammen waren, ans Herz gewachsen. Als sie aber ins Freie trat, glaubte sie, ihre Augen und Ohren wären im falschen Film gelandet: Der gerade noch depressiv und todkrank wirkende Nick stand dort und bog sich vor Lachen, ebenso wie Yasemin. Das orange schimmernde Licht der Abendsonne verlieh der Szene den Reiz einer Freilichtaufführung von Shakespeares „Komödie der Irrungen“.

      „Kann es sein, mein liebes Füchslein, dass die Nachricht in unserem Safe dich etwas verwirrt hat?“, fragte Ilka und löffelte bedächtig „Creme du Joli Bois“, die Dessertspezialität des Hauses.

      „Wie kommst du denn darauf, Kätzchen?“ Mit dem üblichen Unschuldsblick sah er von seinem Nachtisch hoch.

      „Weil du gerade irgendein Kräuterextrakt auf deine Weincreme gibst. Schoko- und Vanillesoße stehen daneben!“

      Verdutzt wandte Prancock sich der Ordnung auf dem Tisch zu, dann hob er das Fläschchen, aus dem er gerade etwas in die Süßspeise geträufelt hatte, vor seine Augen.

      „Was macht eigentlich stinknormales Maggi bei einem echt französischen Menü?“

      „Gerade hier muss es das geben!“

      „Wieso denn das?“, fragte Fox.

      „Weil man es in Frankreich wie ,Magie‘ ausspricht!“

      Ilka verstand die Welt nicht mehr. Normalerweise konnte sich Prancock über solche Wortspielereien köstlich amüsieren. Nun aber wirkte er fast wie ein verdatterter Greis. Er musterte kurz das gelbrote Etikett und gab noch einige Tropfen in sein Schüsselchen. Dann stellte er das Fläschchen beiseite, nahm einen Teelöffel zur Hand und begann seine Creme mit dem Maggi zu verrühren.

      „Wenn du meinst“, murmelte er gedankenverloren. Dabei betrachtete er die in seinem Nachtisch entstehenden bräunlichen Strudel, als würde gleich ein Flaschengeist daraus aufsteigen.

      Unauffällig blickte sich Ilka in dem kleinen Speisesaal um. Sie hoffte, dass die übrigen Gäste nichts von Fox eigenwilliger Dessertzubereitung mitbekamen. Diese schienen jedoch in eigene Gespräche vertieft zu sein.

      „Findest du die Sache nicht auch merkwürdig?“, fragte Prancock.

      „Die Pampe, die du gerade zusammenmixt?“ Ilka stellte sich dumm. Sie wusste genau, was in Fox vorging: Der Kriminalkommissar in ihm war geweckt, und für den gab es angesichts der rätselhaften Nachricht ausschließlich eine Bestimmung: ermitteln, was sonst?

      Sicher – Ilka fand die Botschaft aus dem Safe ebenfalls seltsam. Sie konnte die „sunny side of life“-Abteilung in sich einfach nicht davon überzeugen, dass das Ganze ein Scherz war – keine Chance! Auch ihre Neugier, wer hier um Hilfe bat und warum, war von beunruhigender Intensität. Doch fuhr da auch diese andere Stimme in ihr Achterbahn, die sagte: Dies hier ist der erste Urlaub mit dem Mann, den ich liebe. Und genau das will ich haben: Urlaub! Freizeit, Entspannung, lachen, spazieren gehen, gemeinsame Stunden und Tage. Einfach nur genießen! Kein neuer Fall und keine brandheiße Story bitte. Die Achterbahn war eine Steigung hinaufgeächzt, nun stand ihr Wagen auf dem höchsten Punkt: Nase in den Wind strecken und schon ging die Fahrt sturzflugartig talwärts. Das Gefühl ungezwungener Freiheit wich augenblicklich beklemmendem Herzrasen: Was war, wenn nun wirklich jemand in Gefahr schwebte? Oder sogar um sein Leben fürchten musste? Wie würden sie sich fühlen, wenn einen oder zwei Tage später die Nachricht von einem Mord publik würde, dessen Opfer kurz vor seinem