Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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der Adressat: „Mr. P.“!

      Fox kratzte sich am Kinn. Konnte das wirklich Zufall sein? Es musste einer sein, denn niemand wusste, dass er und Ilka in diesem verschlafenen Nest waren. Auch, dass es in der „Pension du Joli Bois“ noch ein warmes Plätzchen für sie beide gegeben hatte, war schon mehr Zufall gewesen, als ein rational denkender Kriminalbeamter normalerweise verkraftete. Gut, er konnte also nicht gemeint sein, schließlich gab es genügend Namen, die mit „P“ begannen: Prentice, Pearson, Prince ...

      „Seltsam, was?“, drang Ilkas Stimme in den Dunst seiner Gedanken.

      „Allerdings!“, sagte er, zuckte mit den Achseln und starrte weiterhin auf den Brief.

      „Soll ich ihn öffnen“, fragte Ilka unsicher, „oder geben wir ihn lieber an der Rezeption ab?“

      Wieder Schweigen.

      Prancock begann laut zu denken: „Wenn der Brief absichtlich im Safe hinterlegt worden ist, wer kann dann der Empfänger sein?“

      „Der Zimmerservice?“, versuchte sich Ilka an einer Deutung.

      „Unwahrscheinlich“, brummte Fox, „ich glaube, im Safe machen die höchstens alle hundert Jahre mal sauber!“

      „Vielleicht liegt der Umschlag ja schon so lange da drin!“ Ilka seufzte ratlos und setzte sich auf die Bettkante. Noch immer hielt sie den Brief fest, als handele es sich um eine Schatulle, in der sich höchst wertvoller Schmuck befand. „Wenn er für einen Gast gedacht war oder ist, müsste der Schreiber genau wissen, wer nach ihm hier übernachtet ...“

      „... und dann genau dieses Zimmer bekommt? Klingt nicht gerade plausibel, großer Meisterdetektiv!“

      „Ich hab’s!“ Fox’ Augen funkelten und Ilka wusste genau, was das bedeutete: Der Scherzkeks in ihrem Freund war wieder erwacht: „Wir sitzen im Zentrum der Weltverschwörung – und das ,Joli Bois‘ ist total darin verwickelt ...“

      „... und übersieht lediglich ein wichtiges Dokument in diesem Safe. Noch dazu in einem Zimmer, wo harmlose Urlauber einziehen. Die sind allerdings rein zufällig ein Kriminalkommissar und eine Reporterin! Aus welchem Film mit Sandra Nullbock hast du denn die Story?“

      „Es war Julia Robbers!“, gab Fox den Ball zurück.

      Ilka verlor langsam die Lust am Witzeln und beendete das Spielchen kurzerhand mit dem Ausspruch: „Außerdem war’s die Nachtigall und nicht die Lerche! Mensch, Fox, ich hab keine Lust mehr, ewig herumzuspekulieren!“

      „Was willst du dann machen?“, fragte er. Sein Mienenspiel ähnelte dabei dem eines Pudels, der in die Schafschur geraten war.

      „Ich mache den Umschlag auf!“, sagte Ilka fest entschlossen.

      Fox spürte zu seiner Verwunderung, wie Skrupel in ihm aufstiegen. Doch noch bevor er „Aber ...“ sagen konnte, hatte seine Freundin mit einem Fingernagel das Kuvert aufgeschlitzt und dann einen kleinen Zettel herausgezogen. Die zerfranste Oberkante des kleinen Blattes ließ vermuten, dass es eilig aus einem Notizblock gerissen worden war. Ilka las, was darauf stand. Ihre Augen weiteten sich und Fox glaubte, schauspielerisch übersteigertes Entsetzen in ihnen zu erkennen.

      „Gute Ilka“, dachte der Engländer, „jetzt will sie’s extra spannend machen für ihren alten Kriminalkommissar!“

      Ilka streckte ihm im selben Moment den Zettel entgegen. Er las die Botschaft, die jemand darauf gekritzelt hatte. Wie schon die Anschrift auf dem Kuvert, war sie augenscheinlich sehr hektisch zu Papier gebracht worden. Nun wusste er, dass er Ilkas Schauspielkunst überschätzt hatte. Es war echtes Entsetzen gewesen: Zwei Wörter starrten ihm entgegen und ihm war, als könnten sie ihn in jedem Moment anspringen. Die Nachricht war einfach, kurz, knapp und unmissverständlich: „Help me!“

      „Was war das denn für ein Flop? Noch immer keine Meldung im Radio, nichts im Polizeicomputer und dann faselst du noch was von Augenschmerzen!“ Das wütende Schaben der Zähne schien vom Kugelschreiber direkt auf den Hörer übergesprungen zu sein. Schnaubende Geräusche dröhnten wie Sturm aus der Muschel.

      „Hätte ich sie kaltmachen dürfen, hättest du jetzt deine Meldung!“, dachte der Anrufer. Diesmal war er sich sicher, dass die Lippen sich keinen Millimeter auseinanderbewegt hatten. Seine Rechte umkrampfte zittrig das Telefon, mit der anderen Hand presste er einen kalten Waschlappen auf das linke Auge.

      „Und was geht dort nun vor sich?“, bellte der andere aus dem Hörer.

      „Habe ich doch schon gesagt ...“

      „Alles etwas wirr, Mann!“

      „Also noch mal Klartext: Irgendwelche Kumpels dieser Göre renovieren ihr Haus ... jede Menge Türken, auch ein paar Schlitzaugen und Nigger. Dazwischen noch deutsche Jugendliche ...“

      „Und was war das mit dieser Musikkapelle?“

      „Keine Ahnung! Jedenfalls haben sie auch Gitarren und ein Schlagzeug in die Scheune geschleppt!“

      Beide schwiegen einen Moment. Die Frage, was die Sache mit den Instrumenten zu bedeuten hatte, wand sich unausgesprochen durch Telefonkabel und Gehirnströme. Aufgrund der verwirrenden Fakten bildete sich jedoch weder bei dem einen noch bei dem anderen Gesprächspartner ein Reim auf den Einzug einer Band. Das schabende Geräusch wechselte seine Intensität, als hätte jemand einen Schalter von „abwartend“ zuerst auf „energisch“ und dann auf „nervös“ gestellt.

      „Und was war das mit deinem Auge?“, fragte die Stimme aus dem Hörer.

      „Keine Ahnung! Ich hatte so ’ne Türkenschlampe im Visier. Weiß auch nicht, was die gerade so machte, fingerte mit irgendwas rum, hat vielleicht ’ne Zigarette gedreht oder so. Ein paarmal hat sie in meine Richtung geschaut ...“

      „Du hast dich also blicken lassen!“

      „Nein, die hat mich garantiert nicht gesehen! Mein Versteck war viel zu gut! Keiner hätte mich in dem dichten Gebüsch ausmachen können! Jedenfalls blitzte es auf einmal in meinem Feldstecher. Ein irres Licht hat mein Auge erwischt ...“

      „... und du hast bestimmt so gebrüllt, dass man dich noch zehn Kilometer weiter gehört hat!“, spöttelte der Chef bitter.

      „Aber nein“, log der Anrufer, „ich hab mich total zusammengerissen. Aber die Schmerzen sind ganz schön heftig!“, sagte er.

      Er bemühte sich, nur zu denken, dass er dem anderen mindestens die zehnfache Qual an den Hals beziehungsweise in den Augapfel wünschte. Eine kurze Gesprächspause entstand. Atem und Kaugeräusche am Kugelschreiber waren ruhig und gleichmäßig geworden. Die Vorstellung, einen Vorschlaghammer zu nehmen und dem großen Boss damit den Stift in den Hals zu jagen, war zu komisch. Der Anrufer hatte gewaltige Mühe, sein Lachen zurückzuhalten. Dann folgten zwangsläufig die inneren Filmclips, wie der Hammer das erstaunte Gesicht traf, wieder und wieder. In einer Schreckensstarre blieb der Körper aufrecht sitzen, als wollte er dazu auffordern: „Ja, weiter! Gib’s mir!“ Und dieser Wunsch sollte sich ihm erfüllen. Nur zu gerne. Wieder und wieder traf der Hammer den Kopf. Schließlich blieb nur eine unförmige Birne aus blutigem und haarigem Matsch übrig, aus der ein Kugelschreiber herausragte. Darauf war ein Auge gespießt.

      „Was gibt’s da zu lachen?“, drang die Stimme des Chefs an das Ohr des Anrufers. Dessen linke Hand ließ reflexartig den Waschlappen los und er legte sie auf seinen Mund. Das letzte Kichern erstickte. Überreste davon schluckte er hinunter wie modrige Medizin. Dann gab er seinen Mund wieder frei und sagte: „Nichts, nichts, Chef! Habe nur gehustet! Wie machen wir nun weiter?“

      Die Stimme am anderen Ende antwortete ruhig, doch ohne jedes Zögern: „Plan zwei!“

      „Jetzt schon?“, fragte er sich und sein Kichern erstarb. Warum nur waren dem Chef dieses Mädchen und der Hof so wichtig? Die Sache mit diesem Ibrahim war ganz einfach gewesen. Es hatte nur geheißen: „Mach ihn kalt!“ Dieses Mal lag der Fall ganz anders. Sicher, diese ausländerfreundliche Ziege hatte eine Lektion verdient, aber jetzt schon ...

      „Plan