Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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Wandschrank hievte.

      „Was denn?“, fragte Ilka nach, die sich im Bad um ihren Kulturbeutel kümmerte.

      „Na, dass wir tatsächlich noch ein Quartier gefunden haben!“, schnaufte Prancock und mühte sich damit ab, den festgezurrten Gürtel zu öffnen, der den Koffer zusammenhielt.

      Ilka lächelte und fuhr sich bedächtig mit einer Bürste durchs Haar. Zufrieden betrachtete sie sich dabei im Badezimmerspiegel. Etwas Müdigkeit funkelte in ihren Augen, aber Anspannung und Anstrengung waren ihr nicht mehr anzusehen.

      „Dazu gibt’s ein passendes Sprichwort, Herr Kommissar!“, rief sie Fox zu, der mit wachsender Verzweiflung an der Schnalle herumnestelte.

      „Stimmt!“, antwortete er seiner Freundin. „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss eben der Berg zum Propheten kommen, oder?“

      „Ich dachte da eher an: ,Auch ein blinder Fox findet mal ’nen Bau.‘“

      Schelmisch grinste sie sich selbst an, legte die Bürste beiseite und forschte im abenteuerlichen Dschungel ihrer Toilettenutensilien nach einem Döschen mit Hautcreme. Verwundert stellte Ilka fest, dass keine verbale Retourkutsche erfolgte. Fox schien wirklich ebenfalls sehr müde zu sein. Ob sie nach dem Auspacken wohl noch viel mehr als einen kleinen Nachmittagsspaziergang und ein gemütliches Abendessen genießen würden?

      Fox schwitzte, beschloss aber, das Fluchen nur innerlich auszuleben – er wollte Ilkas unbeschwerte Urlaubsstimmung nicht unnötig gefährden. Sie reagierte oft mit Enttäuschung und Ärger auf seine Kraftausdrücke. „Meine Güte“, dachte er bei sich, „wie viele Schlösser habe ich schon geknackt, in wie viele Wohnungen von Tatverdächtigen bin ich ohne Schlüssel reingekommen, aber diesen dämlichen Gürtel um den Koffer bekomme ich nicht auf!“

      Er spielte mit dem Gedanken, das Leder mit seinem Taschenmesser zu durchtrennen. Da er aber keine Ahnung hatte, wo sich dieses Werkzeug gerade befand, riss und zerrte er weiter mit den Händen an dem Gurt. Mehr als er es hörte, spürte er ein schwaches Knacken der Schnalle. Noch ein Millimeter und sie würde nachgeben. Mit neuem Mut zog Fox wieder ruckartig an dem Riemen.

      Ilka hörte nur ein gewaltiges Poltern, einen Aufschrei und Flüche, die jede freiwillige Selbstkontrolle vermissen ließen. Verwundert, aber ohne echte Besorgnis stellte sie das Cremedöschen auf die Ablage über dem Waschbecken und ging in das Zimmer zurück. Erstaunt stellte sie fest, dass der Raum anscheinend leer war. Einen Augenblick später allerdings sah sie Fox’ Kopf hinter der Bettkante auftauchen.

      „Was ist denn los, Fox? Du siehst ja aus der Wäsche wie der Papst in der Peepshow!“

      „Lach nur, Kätzchen“, grunzte Prancock, „der blöde Gürtel ist gerissen!“

      „Und deswegen liegst du am Boden herum?“, spöttelte sie, trat an das Bett heran und stellte verwundert fest, dass Fox’ gesamte Wäsche auf dem Fußboden verstreut lag. Fragend sah sie ihren Freund an.

      Dieser zuckte mit den Schultern. „Das war die Fliehkraft!“, brachte er mit entschuldigendem Unterton vor.

      „Ein echtes physikalisches Phänomen: Die Fliehkraft verteilt Wäsche auf dem Fußboden?“

      „Quatsch! Ich hab wie blöd an dem Gürtel gerissen. Als der dann ratsch machte, hat es mich rückwärts flachgelegt, und dabei habe ich den Koffer umgeschmissen!“

      Ilka spielte die Empörte. „Aber nein, Liebster“, säuselte sie im Timbre einer alternden Operndiva, „mit Qualitätsware aus dem Hause ,Rouque-Zouque‘ wäre das nicht passiert!“

      Fox setzte sich ächzend auf und griff nach Ilkas Hand. Sachte zog er die junge Frau zu sich heran. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden und begann ihm sanft durchs Haar zu streichen. Ihre Blicke begegneten sich und schienen sich wie die Pole starker Magnete anzuziehen. Keiner konnte oder wollte nun vom anderen lassen, und wie einem Naturgesetz folgend, fanden ihre Lippen sich. Mit sanftem Nachdruck kitzelte Ilkas Zunge sich den Weg zu der ihres Freundes durch. Ihre Liebkosungen ließen Fox’ Nackenhaare Spalier stehen. Eine warme Woge wie aus den sommerlichen Gewässern der Südsee erfasste Ilka. Die Augen schließen und sich wie ein Wellenreiter der Strömung hinzugeben, war alles, was sie jetzt wollte. Seine Hände fuhren in ihre Haare und umschmeichelten ihren Kopf wie die sanfte Gischt bei Ebbe. So wie das Meer, wenn es nur durch die einfache Faszination seiner Existenz Ruhe und Entspannung spendet. Ihre Finger glitten an seinem Rücken herab, schoben das verschwitzte Hemd beiseite und fassten entschlossen seine Taille. Auch Fox hatte sein schlingerndes Floß gegen ein zielstrebig dahin sausendes Surfboard eingetauscht. Der Geruch von Ilkas Haut zauberte einen fruchtigen Kokoscocktail auf Fox’ innere Leinwand. Er sog den Duft genießerisch ein. Ilka ließ sich in das Gefühl völliger Hingabe gleiten. Das Zimmer um sie herum existierte nicht mehr und sie lagen nicht in einem Berg von Hemden, T-Shirts, Hosen und anderen Sommerklamotten, sondern im heißen Sand des Strandes von Taku Takua. Die Trommeln der Inselbewohner steigerten sich und die Herzen der zwei Verliebten folgten blindlings jedem neuen Stakkato.

      Unvermittelt brach die Flut herein. Die beiden klammerten sich fester aneinander, glitten mittlerweile gemeinsam auf einem Surfbrett dahin. Eine gigantische Welle trug sie davon. Dann lagen sie wieder unter den Palmen des Strandes. Sie ruhten, und doch schnellten sie über das Wasser. Sie fühlten sich geborgen und doch den Naturgewalten ausgesetzt. Ein leiser, fast singender Laut drang an Fox’ Ohr. Sanft gab er Ilkas Mund frei. Ihr Atem traf seine Wange, er fühlte ihre Hitze und lauschte den Klängen, die wie eine zärtliche, aber zugleich wilde Beschwörung aus ihrer Kehle hervorbrachen. Das Schnurren, das er von sich gab wie ein zufriedener Kater, der faul in der Mittagssonne döst, nahm er nicht wahr. Dennoch wusste er, dass er Teil jener Combo war, die hier eine eigenwillige Coverversion des „Liebestraums“ intonierte: Ilka hatte die erste Stimme übernommen, er brummte den Bass und ihre Herzen überschlugen sich als Rhythm Section: Immer neue Variationen virtuoser Polyrhythmik trieben sie vorwärts. Die Flut hatte sie in einen Taifun gezogen, aber die beiden standen fest auf dem nicht zu erschütternden Surfboard. Der andere Teil ihres Seins nahm die Hitze des Sandes in sich auf, gab gleichzeitig Hitze an ihn ab. Mehr und mehr Körnchen klebten an ihren schweißnassen Körpern, rieselten durch ihre Haare, rannen durch liebkosende Finger.

      Jäh stoppte ein durchdringendes Schrillen den Taifun, ließ wie ein göttliches Machtwort Strand und Palmen im Nirwana verschwinden. Die beiden Surfer strandeten unsanft in einem Atoll aus Sommerkleidung. Ilka und Fox öffneten die Augen und wandten ihre Köpfe zu dem kleinen Beistelltischchen, auf dem ein altmodisches Telefon ungeduldig klingelte. Unwillig löste sich Fox aus Ilkas Umarmung, ging zu dem Apparat und nahm ab.

      „Hier ist der Pensionsservice. Möchten Sie Ihr Abendessen um 18 oder 19 Uhr zu sich nehmen?“

      „19!“, nuschelte Prancock genervt in die Muschel und legte – ohne weiteren Kommentar – auf.

      Jeannie sah sich in ihrem Wohnzimmer um und hatte das Gefühl, sie wäre an einem fremden Ort. Die heil gebliebenen Gegenstände befanden sich wieder an den gewohnten Plätzen. Entstandene Lücken hatten Jasmin und Yasemin geschickt und liebevoll mit Blumen und Nippes aufgefüllt, sodass nichts mehr daran erinnerte, was sich vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier abgespielt hatte. Eine fröhlich pfeifende Jessica kam herein und hielt ein zusammengerolltes Stück Papier in ihrer rechten Hand.

      „Sieh an“, bemerkte sie auf ihre typische, nicht zu überhörende Art, „da ist noch ein freier Fleck an der Wand.“

      Ohne Zeit zu verlieren, trat sie vor die noch ungeschmückte Stelle. Sie hielt den Kopf schräg und warf einen prüfenden Blick auf die weniger ausgebleichte Region der Tapete. Die ursprünglichen Farben deuteten darauf hin, dass hier einmal ein Poster gehangen hatte.

      „Könnte passen!“, befand das Mädchen. Dann rollte sie das Papier auf und befestigte es passgenau an der Wand, sodass die farbliche Unregelmäßigkeit völlig verschwand. Als sie damit fertig war, drehte sie sich zu Jeannie um und strahlte sie an.

      „Gefällt’s dir?“, fragte Jessy und konnte nicht anders, als hinzuzufügen: „Darauf hab ich ’ne Eins bekommen.“

      Jeannie