Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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Edda ihm ins Wort, „es ist nur in diesem Augenblick ein Standpunkt, vielleicht nicht einmal meiner.“ Er ignorierte ihr entwaffnendes Lächeln und griff den Faden über die Inflexibilität wieder auf. Hatte er einmal ein Thema auf der Zunge, wollte er es auch komplett loswerden.

      „Also, das ist wichtig, Edda, man muss frische Einflüsse zulassen, ein Leben lang dem Geist die Gelegenheit bieten sich zu erneuern, oder wenigstens sollte hinzugefügt werden. Das heißt, ein immer neuer Aufbruch ist nötig. Das Leben wird permanent durch alles Mögliche, Angenehmes wie Unangenehmes, überdeckt, doch wirklich zeigt es sich erst im schöpferischen Neuwerden. Dieses bedeutet eine Verbindung mit der Gegenwart, und man kann sie nicht erfahren, wenn man sich fest bindet, egal an wen oder was.“

      Das mit dem schöpferischen Neuwerden verstand Edda nicht. Sie war doch schöpferisch veranlagt und war gerade dabei in ein „Neuwerden“ hineinzuspringen, wovon redete er? Sie, unflexibel? Fausto wusste nicht wie schmerzhaft flexibel Edda sein konnte, sie wollte es ihm schon zeigen. Sie glaubte erneut den verhassten Lehrerjargon zu wittern, aber sie schwieg und zwang sich, geduldig zuzuhören.

      „Der Geist muss besonders gepflegt werden, es heißt in der Welt von der ich spreche, dass das ursprüngliche Wesen des Menschen der Geist ist, als das höchste Ganze, das darf niemals stagnieren. Bevor der Mensch aber bereit ist dieses Ganze zu entdecken, bleibt er unfertig. Ein Teilstück, das sich meist unbewusst zwar, aber doch nach dem Ganzen sehnt. Der größte Teil der Menschheit versucht dieses Sehnen durch eine Partnerschaft mit einem anderen Menschen zu kompensieren, was wie wir wissen, ein Irrtum sein muss. Das Ich ist dabei schmerzhaft separat. In den Upanischaden wird das auch auf die einfache Weise ausgedrückt: Wo immer es ein „Anderes“ gibt, da gibt es auch Angst.“

      Edda wurde das zu abstrakt, erstens empfand sie eine Partnerschaft nicht als Irrtum und zweitens, was gingen sie die Upanischaden an. Sie hatte zwar von diesen philosophischen Schriften aus der Urzeit gehört, doch kannte sie keinen einzigen Satz aus deren Inhalt. Sie wusste nur, dass diese Texte als Quelle der Autorität für eine höhere Wahrheit galten, von der innersten Wahrheit der Dinge sprachen. Eigentlich interessierte sie sich inzwischen brennend für diese Themen, doch nicht zu diesem Zeitpunkt. Edda wollte keine Antithese gegen die Partnerschaft von ihm hören, ihre Liebe zu ihm, nicht als zwangsläufigen Irrtum dargestellt sehen. Sie hätte zu gerne gehört, dass er sie liebe. Er war in seinem Element, bemerkte ihre Enttäuschung nicht und sah sie keinen Moment an, seine Worte ähnelten einem Selbstgespräch.

      Edda hatte keine Fragen gestellt oder ihn mit einer weiteren Bemerkung aufgefordert, vor ihr, verbal in seinen Gedanken zu graben. Sie ahnte, dass er Vieles zitierte. Sie hatte seine Bibel nahe neben der Schreibmaschine liegen sehen und kurz durchgeblättert. “Die Synthese des Yoga“, von Sri Aurobindo. Wenigstens hatte sie den Namen seines geistigen Vorbildes behalten. Edda wurde stutzig, versuchte er sie mit wenig konventionellen, nach Meister-Zitat duftenden Sprüchen darauf vorzubereiten, dass er eine engere Beziehung zu ihr ablehnte, nebenbei aber alles Angenehme daran mitnahm, doch hauptberuflich nach einer Art Erleuchtung des Geistes trachtete?

      Lieber Gott, bitte, lass ihn keinen Spinner sein, dachte sie flehentlich. Das Wort Geist schien ihn besonders zu beeindrucken. Was stellte dieser so umhegte Sondergeist mit dem täglichen Übermaß an Alkohol und Zigaretten an, fragte Edda sich. Auch seine Lust am Sex, er hatte sich zu ihrem Erstaunen, anfangs dabei ein wenig unbeholfen gezeigt, harmonierten nicht mit den Interessen eines Yogin.

      Soweit sie über das Thema Yoga unterrichtet war, mit einigen Vorurteilen fundamentiert, hatte sie eine Menge Gerede darüber immer für eine Art Modeerscheinung oder Wichtigtuerei gehalten. Aber jetzt, aus Interesse an Fausto, war sie bereit einem Yogaverein beizutreten. Yogaschule? Yogaclub? Sie wollte sich auch einige Fachliteratur über sein Hobby besorgen. Hobby, wie sie es unbedarft nannte. So könnte sie ihm vielleicht näher sein und auch wissen, was wirklich gemeint war, wenn er von dem „Höchsten Ganzen“ sprach. Konnte man das aus Büchern erfahren? Erlernen?

      Eigentlich glaubte sie mit dem Gegenwartsgefühl seit frühester Kindheit enge Bekanntschaft geschlossen zu haben. Ihr kam der Tanz der Herbstblätter in den Sinn. Doch offensichtlich hatte sie dabei etwas Wichtiges nicht mitbekommen, es schien mit größerer Anstrengung verbunden zu sein, glücklich in den Moment des Seins zu sinken!

      „Das Positive generell, nicht individuell gesehen, wird immer verschluckt vom Negativen“, sagte Fausto.

      Was kommt denn jetzt noch, dachte Edda ungeduldig. Sie wollte nichts wissen von dem, was er das Universelle Negative nannte. Sie sah ihn zweifelnd an und erwähnte die Geschichte von den bekannten tausend Sorgen, die durch eine Freude vertrieben würden. Fausto meinte, das sei nur ein Sekundengenuss, eine Freude kann nicht gegen tausend Sorgen gewinnen.

      „Bei einer größeren Ansammlung von äußerlich schön zu nennenden Menschen, was rein theoretisch vorzustellen wäre, wirkt der einzelne nicht mehr schön. Er verliert den Anspruch auf die Schönheit durch die Relativität, durch den fehlenden Gegensatz. In der Bewertung verliert er sich. Die Gewohnheit zu messen, hat ihren Reiz eingebüßt. Doch äußere Hässlichkeit in der Masse bleibt bestehen, denn Negativität mit erhöhtem Vorkommen gewinnt an Macht. Es sieht so aus, als ob das Schlechte nicht kämpfen muss, um sich zu behaupten. Innere Schönheit allerdings gewinnt, je häufiger sie auftritt. Ein Rudel gutartiger, harmonisch ausgeglichener Menschen, die den Kampf der Natur nicht als inneres Schlachtfeld zulassen, was leider auch nur eine rein theoretische Vorstellung sein kann, würde für jedermann Empfinden als Außenstehender, ob er es persönlich gut findet oder nicht, als gut bewertet. Auch ohne einen Massenmörder in der Mitte haben zu müssen, wird das Gute erkannt. Das echte moralische Empfinden braucht eigentlich keine sichtbaren Gegensätze. Es ist aber leider zu einer von der Gesellschaft angespitzten Modifikation verschlampt, die sich dann, wie vererbt in den Geistern manifestiert hat. Von Jahrhundert zu Jahrhundert spitzer. Einst fraß man Menschen mit Haut und Haar, besonders die Herzen wurden den Verehrenswertesten der Lebensgemeinschaft zu Füssen gelegt, das war edel, das war gut. Heute gilt es schon als unmoralisch einen toten Spatz auf der Straße liegenzulassen. Es gibt sehr viele plattgefahrene Spatzen. Ich wollte nur sagen, die Moral, je zivilisierter sie ist, schlendert der totalen Degeneration entgegen, ihr Befolgen ist reines Gesetz. Der Abgrund zwischen beidem vergrößert sich beängstigend.“ Edda hatte den deprimierenden Tonfall in seiner Stimme nicht überhört.

      „Eine einseitige Sicht“, sagte sie, „die Moral bestimmt doch unsere Welt. Sie ist der Motor der Zivilisation, der Kultur, der Grundstein unserer Gesetze. Der Grundstein jeder Gesellschaft. Moral ist flexibel, nicht falsch oder richtig, sie vertritt einfach nur die jeweilige Auffassung eines Stammes, einer Nation oder eines Kontinents meinetwegen. Sie hat alle Macht, denn wenn man gegen sie verstößt, meldet sich die Rechtfertigung oder das Schuldgefühl. Sie sorgt dafür, dass mehr Gesetze entstehen, und dass Menschen, die gegen sie verstoßen, bestraft werden.“ Wieder erstaunte ihn ihr kindliches Gemüt.

      „Da sagst du es ja“, antwortete Fausto, „mehr Gesetze, da der Wunsch gegen die Moral zu verstoßen, in jedem Menschen stärker vorhanden ist als er zuzugeben bereit ist. Sobald sich ungesehen die Gelegenheit ergibt, bricht man gerne die Gesetze der Moral. Menschen sind im Grunde nicht gut oder böse, sie werden nur eingeteilt in jene, die nur in Gedanken die Moral überspringen und jene, die das in die Tat umsetzen. Nur die Tat trennt sie voneinander.“

      „Aber wieso n u r die Tat“, protestierte Edda, „sie ist doch das Ausschlaggebende, nicht umsonst heißt es, an ihren Taten werdet ihr sie erkennen.“

      „Nein, an ihren Gedanken wären sie zu erkennen. Sie kennen sich zwar meist nicht einmal selbst, aber sie sind lange nicht so gut, wie sie behaupten, nur weil sie ihre antimoralischen Gedanken nicht ausleben. Genau Jene sind die von mir so gefürchteten Moralisten, welche das gesunde moralische Empfinden enthauptet und über den Stumpf ihre staatlichen Gesetze gestülpt haben.“

      Eines Tages wurde Fausto von seinem Verlag zurückbeordert, er musste innerhalb weniger Stunden abfliegen. Sein Auto, von Edda inzwischen wie ein vertrauter Mitwisser angesehen, wurde in einen Autozug verladen. Sie hatten in seinen Polstern oder auf der Motorhaube rangelnd, allerlei verrückte Sachen angestellt. Eine Fahrt nach Hamburg, auf den eigenen vier Rädern, hätte dieser Kumpane nicht mehr bewältigen können.