Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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Er verabschiedete sich kurz und verschwand aus ihrem Blickfeld, ohne sich auch nur einmal nach ihr umzudrehen.

      Danach sah sie ihn monatelang nicht, auch hörte sie nichts von ihm. Aber sie hatte einen großen Schatz in sich geborgen, mitgebracht. Es war ein heilendes und gleichzeitig berauschendes Zugehörigkeitsgefühl Fausto gegenüber, ein Gefühl, das sie auch ohne seine Anwesenheit erfüllte. Es war, als könne sie nur in Gedanken an ihn, richtig atmen. Fausto besetzte sie, besser gesagt, sie besetzte sich mit ihm. Edda nannte es Liebe.

      Ihr Cousin, der Psychiater, dem sie ihr Gefühlschaos anvertraute, attestierte ihr Idolatrie ersten Ranges, über den Vater direkt auf den Liebsten übertragen.

      Edda sah es weniger krank als abenteuerlich rosarot. Sie stürzte sich in die Literaturwelt des Yoga, erfuhr von Meistern und etwas weniger meisterlichen Besserwissern über das Sein. Sie orientierte sich mit großer Skepsis und fand ihren Fausto gar nicht mehr so abgehoben. Schon nach dem Verschlingen weniger dieser Bücher, wollte sie am liebsten nach Indien abreisen, natürlich nicht ohne ihn. Doch ihr Liebster war unauffindbar. Außerdem stand ihr Abschlussexamen einer Indienreise im Weg. Sie schob Philosophie und Yoga zwischen ihren Uni-Kram.

      „Der Individualismus ist für die Vollkommenheit wichtig und ebenso notwendig wie der Gruppengeist“, las sie. Hatte Fausto das in Verbindung mit seinem Selbst-Ideal nicht anders gesehen?

      Dabei versuchte Edda das Wort Vollkommenheit zu übergehen, ähnlich dem „Ideal-Seiner-Selbst“, und es durch etwas weniger Erschreckendes in Gedanken zu ersetzen. Sie musste sich Mühe geben nicht das ganze Buch wegzulegen, nur wegen dieses einzigen Wortes, das ihr gegen den Stich ging. Sie wollte über Einsamkeit und Individualität lesen, von „Experten“ darüber erfahren, von Leuten, die sich damit auskannten, die der Einsamkeit etwas Positives abgewinnen konnten, die in die Tiefe geblickt hatten. Sie erwartete ein fertiges Rezept in den Büchern zu finden, aber wenn man schon gleich am Anfang von Vollkommenheit sprach, fühlte sie sich fehl am Platze. Fehl in diesem Buch, bei diesem Denker. Edda zwang sich weiterzulesen, obwohl sie nicht vollkommen werden wollte. Sie gestand das einem Baum zu oder einer Landschaft, aber bei einem Menschen hielt sie das für unmöglich und auch unnötig.

      Zurück zu Gruppengeist und Individualität. Beide Kräfte, so las sie, ergäben zusammen das berühmte anzustrebende Gleichgewicht.

      Aha, diese Vollkommenheit sollte also nur dem Gleichgewicht zugeschrieben werden, nicht dem Menschen direkt! Sie hatte also wieder übereifrig kombiniert, einem Satz ihre Interpretation untergeschoben, bevor sie den nächsten las. Fausto vertrat die Gruppe, die ganze Welt und alles was nötig war. Edda war das Individuum, welches die Kräfte, wie vorgeschlagen, zu vermischen gedachte. Sie verstand darunter eine symbiotische Bindung und betitelte diese mit Liebe. Ihr Ideal, zwei ineinander vernarrte Menschen, die nur sich sahen und sonst niemanden liebten. Nach Faustos Meinung, ein Egoismus zu zweit. Sie schwebte in ihren Gedanken über die Buchseiten hinaus und starrte ins Leere, dachte an einen von Faustos Monologen, dem sie unwillig gefolgt war und ihn trotzdem nicht aus ihrem Kopf verbannen konnte. Erwartete er von dem Zusammenspiel zweier Menschen, die sich nahe gekommen waren, wirklich etwas so anderes als sie? Sie erinnerte sich an seine Worte.

      „Zwei Menschen, die ihre Trennung vom „All Eins“ so lösten, dass sie gemeinsam in der Illusion schwebten nicht allein zu sein, die Fremdheit des Anderen einfach mit ihren Projektionen übermalten, lebten schlicht und einfach im Irrtum.“

      Edda empfand schon das Wort „All Eins“ als ihren Feind. Sie hatte auch den Eindruck, wenn er von diesem „All Eins“ sprach, dass er das Wesentliche darüber zwar intellektuell erfasst zu haben schien, aber fühlte er es auch? Fehlte es ihm vielleicht an Glauben? Faustos Gesichtsausdruck veränderte sich, wenn er dieses Wort erwähnte, das war ihr aufgefallen. Der Zug um seinen Mund wurde leicht bitter oder sogar traurig. Eine Trauer in Begeisterung, nannte sie es. Als empfinde er es als schmerzhaft von dieser so gelobten Art des Seins getrennt zu sein. Schmerz, mit der Begeisterung der Sehnsucht gepaart. Edda überlegte, wie man seinem Glauben zur Geburt verhelfen könne.

      Sie legte ihre Unterlagen für ihre Diplom Arbeit zur Seite und stapelte versunken, auf der Suche nach Hinweisen, seine Bücher durch, die sie sich aus seiner Wohnung besorgt hatte. Er hatte ihr in Spanien einen Zweitschlüssel überlassen, damit sie nach dem Kaktus sähe und den Briefkasten leere. Für Edda war die Schlüsselübergabe ein Liebesgeständnis gewesen.

      Sie stieß auf C.G.Jungs Welt der Symbole und ihre Bedeutung im kollektiven Unterbewusstsein. Hier sollten sich diese Symbole auf die Psyche so auswirken, dass sie Assoziationen hervorriefen, welche die Vorstellungskraft mobilisieren und stärken. Mit dieser jeweils individuellen Imagination ließe sich der Glaube aufbauen. Das klang für Edda nachvollziehbar. Leider konnte man sich schwerlich ein Symbol des „All Eins“ bildlich vorstellen und schon gar nicht solch ein Etwas, das von Fausto auch als solches beachtet und täglich geschmückt werden sollte. Vor dem er vielleicht sogar meditieren würde. Ein sichtbares Symbol, stets an seiner Seite?

      So legte sie sich die Theorie mit den Symbolen zurecht. Und dann entschied sie, ein Mandala für ihren Liebsten zu malen, ein einzigartiges, das seinem Glauben auf die Sprünge helfen sollte.

      Und wie sah es mit ihrem eigenen Glauben aus? Edda überlegte, an was glaubte sie selbst, wirklich. Dabei fiel ihr nur die Liebe ein. Dafür, so entschied sie, benötige sie keine zusätzliche Fantasie oder die Reise in das kollektive Unterbewusstsein auf den Pfeilern der Symbole. Sie beschloss eine kleine Liste zu erstellen, an was sie glaubte oder gerne glauben würde. Ein Spiel auf einer äußeren Ebene, bei dem sie gedachte ihren Glauben überprüfen zu können. Es entstand nur eine Wunschliste, keine Glaubensliste. Sie hatte Wunsch mit Glauben verwechselt.

      Eddas Gedankengänge wankten zwischen kindlicher Naivität und wissenschaftlichem Verständnis. Hin und Her. Die wenigen Kritiker ihrer Bilder warfen ihr vor, sie male zu symbolisch. Vielleicht hatte das seine Bedeutung, sehnte sie sich nach einem greifbaren Glauben? Eigentlich, wenn sie intensiv lauschte, fühlte sie, seit jeher, stark und sicher und ohne Zweifel, eine höhere Intelligenz in und über sich. War ihr das nicht Glaube genug? Sie müsste nur das Lauschen üben!

      Über diese Sicherheit hatte sie nie zuvor nachgedacht, geschweige denn, sie in Worte verpackt. Und nun hatte Fausto an diesen Umrissen gerüttelt, und der zusätzliche Inhalt vieler seiner Bücher bohrte sich in die Tiefe und drang zurück in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich dadurch, wie eines wertvollen, unbewussten Geheimnisses beraubt. Der Vorwurf des fatalen Irrtums, in dem sie Faustos Überzeugung nach lebte, um sich mit Hilfe der Zuneigung zu einem Geliebten aus der Einsamkeit zu hieven, beleidigte sie.

      Sie liebte ihn, ohne Wenn und Aber. Sie war bereit und würde gerne alle Erkenntnis der Welt verraten haben, inklusive sich selbst, nur um das Gefühl der unbedingten Zugehörigkeit zu Fausto, mit ihm an ihrer Seite leben zu dürfen. Ihr Wunsch nach Zugehörigkeit wollte nicht im „All Eins“ herumirren, er strebte unbedingt personengebunden einer Erfüllung zu. Das war offensichtlich nicht in Faustos Sinn, denn er war immer noch wie vom Erdboden verschluckt.

      Edda war sehr beschäftigt mit ihrem Abschlussexamen. Es gelang ihr die Gedanken an Fausto weitgehend auf die Nächte zu verbannen, und wenn er sich störend zwischen ihr Lernpensum schob, praktizierte sie ihre neuerworbenen Kenntnisse der Atemübungen aus der Welt des Yoga. Sie zählte und schnaufte, abwechselnd aus ihrem linken, dann aus dem rechten Nasenloch, hielt die Luft an und versuchte so ihre Einsamkeit und Enttäuschung zu überwinden. Bis ihr schwindelig wurde. In der Nacht fielen die Erinnerungen über sie her, ungeschützt lag sie da und vermisste den Klang seiner Stimme.

      „Der Einsame wird von unserer Gesellschaft als Kranker dargestellt“, hatte Fausto behauptet. „Wie ein Eimer Rohöl hunderttausende von Litern Trinkwasser verderben kann, verdirbt er sein funktionierendes Umfeld. Der Einsame ist ein Glied in der Kette, und so wie ein fauler Apfel im Obstkeller kann er den anderen schaden, die Gesellschaft anfaulen. Anstatt sich auf den Konsum zu konzentrieren, rührt er an unerwünschte Wahrheit, stiftet Unruhe. Das wird als krank eingestuft. Der Einsame sollte zum Wohle der Gesellschaft vor seiner Krankheit bewahrt, therapiert oder am besten ausgestoßen werden, verbannt. Beinahe ein Todesurteil, oder schlimmer noch, wie es damals schon Ovid empfand, als man ihn an das Schwarze Meer abschob.“

      Die