Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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und sauber wissen, zur Zufriedenheit der imaginären Zungenspitze, die sich dann leicht gegen den Gaumen gepresst nach hinten wölben würde, und endlich Ruhe gäbe.

      Sie übte sich in der Gedankenhygiene, versuchte Schritt für Schrittchen störende Emotionen zu ignorieren, es funktionierte manchmal sogar. Fausto hatte Recht, man musste sich mitten in einem üblen Gedanken stoppen, ihn bewusst dreimal wiederholen und dann hinauswerfen. Man musste einfach mal klar Schiff machen da oben, den alten Kalfater-Dreck herauspuhlen und frische Luft zwischen die Planken lassen. So hätte es ihr Vater ausgedrückt. Da war er wieder!

      Fausto hatte behauptet, Gedanken kämen von außen, besonders schlechte Gedanken seien wie lästige Kobolde, pfeilschnell kämen sie angeschossen, aus dem Nichts, mitten hinein ins Hirn. Man hätte die Möglichkeiten seine Kopffenster und Türen vor ihnen zu verrammeln. Sie einfach nicht hereinzulassen. Sind sie aber doch wieder durchgewitscht, in einem Moment, in dem man sich in Sicherheit wiege, sich gereinigt fühle, kämen sie von allen Seiten, von oben, unten, hinten, seitlich, regelrecht sichtbar durch unbedachte Schlitze wieder hereingestürmt. Machten sich breit und wichtig, übernähmen das Ruder im Nu, und schwupps, säße man wieder in seinem Gedankenmüll fest. Fausto ermunterte sie, nicht aufzugeben.

      „Wiederhole es jeden Tag, viele Male bewusst, es hilft, und irgendwann gibt es dann den richtigen Platz für die jeweiligen Gedanken. Du kannst sie abrufen wann es dir passt, du musst dich nicht mehr mit einem wilden Mix herumschlagen, du bist kein Sklave deiner Gedanken mehr.“

      Das müsste ein erhebendes Gefühl sein, dachte Edda, und wenn ihr ein Ansatz dessen gelang, triumphierte sie innerlich. Doch dann bemerkte sie auch, dass die andere Seite in ihr, ihre Wunsch-Angst- und Illusionsliste, die recht umfangreich war, ihren Stammplatz verteidigte, sich gegen diese massiven Reinigungsattacken wehrte. Dann wurde sie wieder unsicher, massive Gegenargumente schoben sich dazwischen. Sie meinte plötzlich wünschen zu müssen, sich besser doch nicht ganz von den alten Gewohnheiten zu trennen. Wie viel Ruhe würden ihr diese Übungen geben, wie viel Frieden und Gleichgewicht würde sie erreichen, und welche Portion brauchte sie überhaupt davon. Würde sie etwa langweilig auf ihre Außenwelt wirken, sie war doch keine gefasste, des Lebens überfüllte Großmutter. Was strebte sie da eigentlich an?

      Edda hantierte oft mitten in ihren Übungen mit dem beunruhigenden Gedanken, dass sie, wenn sie Faustos Anweisungen streng befolgte, aufhören könnte sie selbst zu sein. Zumindest der Mensch, der sie war. Sie wollte sich und alles Mögliche an sich zwar ändern, doch wer will schon wirklich raus aus seiner Haut. Von welchem Teil ihres Selbst würde sie getrennt werden auf diesem Pfad. Würde überhaupt etwas von ihr übrig bleiben? Was war es eigentlich genau, was Fausto so anpries, was sie neugierig, doch auch mit Furcht anpeilte. Sollte man wirklich lernen seine Gedanken zu beherrschen, wäre das nicht roboterhaft, die Spontanität vernichtend, würde es freies Erleben beeinträchtigen?

      Fausto hatte erwähnt, dass das, was man dadurch gewänne, alles Positive zugleich und die schönsten Wünsche der Welt, wie Rattenköttel in der Zuckerdose erscheinen ließe, im Vergleich zu dem Empfinden des „All-Eins-Seins“, dessen erste Station auf dem abenteuerlichen Weg des Bewusstseins, die Gedankenhygiene sei.

      Schuster bleib bei deinen Leisten, bremste Edda misstrauisch ab, mit dem „All-Eins“ konnte man sich ja immer noch später intensiver beschäftigen. Sie wollte erst einmal doch lieber auf ihrer gewohnten Ebene kämpfen, ihr Ego wollte Futter. Es gründelte nach einer Technik, das lebendige Ziel ihrer Liebessucht erreichen zu können oder wenigstens erst einmal wirksam anzustoßen. Wenn diese Technik, so dachte sie, aus mangelnden Kenntnissen nicht anschlägt, wobei sie ausschließlich sich selbst diesen mysteriösen Mangel zuschrieb, zieht das Glück an mir vorüber. Verliert sich die Zugehörigkeit, zufrieden mit der Hörigkeit? Sollte sie passen, ihr Pulver in das große All schicken, ihre Liebe ausweiten ins Unendliche, wie Fausto es propagierte. Sollte sie nicht weiter darum zanken, es ihm ankleben zu können? Warum, fragte sich Edda, warum musste es unbedingt Jener sein, der ihre Vibrationen empfangen und verwerten, sich ihr nahe fühlen sollte, so wie sie sich ihm. Dieser Mensch empfand offensichtlich nicht die geringste Sehnsucht nach ihrer Anwesenheit, vergaß wahrscheinlich ihre Existenz, wenn sie nicht gerade vor ihm stand oder lag. Eine Begegnung, ein Sehen, ein Spaß, ein Genießen, ein Vergessen, und er schlenderte seiner Wege. Edda fühlte sich wie auf der richtigen Fährte im falschen Wald, ohne sich davon abwenden zu können.

      Sie schrieb sentimentale Gedichte. Dort raschelten die Sehnsüchte wie trockenes Pergament zwischen ihren Fäusten. Angerissene Liebesbekenntnisse taumelten durch die Lüfte, ähnlich welkem Laub, beinahe schwerelos, ziellos und ohne Empfangsstation. Diesem losen Blattwerk hatte sie sogar einen besonderen Duft angehängt, und in seinem Schweben schien es noch an Weite zu gewinnen, drehte Kreise und passte sich dem Takt des Windes an. Blatt für Blatt tanzten sie geduldig durch ihre Texte, Sehnsucht für Sehnsucht begleitete das dürre Laub, und dazu nagte es immerzu in den entlegensten Winkeln ihrer Seele.

      Edda schrieb und schrieb, immer wieder aufs Neue, als seien Worte nicht verbrauchbar. Das erstickte ihre Pein vorübergehend, lenkte ab wie ein Gegenfeuer. Nebenbei gab sie ihre Examensarbeit ab, musste in die mündliche Prüfung, bestand mit viel Glück und hatte ihren Abschluss in der Tasche, bevor sie Fausto wiedersah. Ihre Gefühle für ihn drängten nach Leben.

      Sehnsucht scheint unbestreitbar mein Ziel zu sein, unkte sie schriftlich ins Leere. Was macht es noch aus, seine Augenlider zu küssen, am Haaransatz das Salz zu schmecken, seine Haut zu messen mit den Fingerspitzen, das zu tun, mit aller Sehnsucht oder auch nicht. Mit Hingabe und aller Zeit des Himmels und der Welt, mit ihm an meiner Seite zu träumen, oder ohne ihn. Sich ihn nur herbeizuwünschen, diesen Fausto, was machte es noch aus, es änderte nichts.

      Edda hatte sich in der Sehnsucht nach Fausto festgeschraubt. Sie versank, schnürte sich ihr Selbstmitleid bis unter das Kinn, wie Rettungsringe aus Blei. Trotzdem ging sie regelmäßig, zweimal in der Woche in ihre Hatha Yoga Gruppe und füllte während der Übungen ihre Gedanken mit überschäumendem Liebesleid. Anschließend hing sie mit der Yoga Decke unter dem Arm in Faustos Stammkneipe herum. Bei jedem Öffnen der Tür blickte sie hoch. Sie vermisste Fausto immer noch, sie hatte ihn mehr als drei Monate nicht gesehen.

      Einige Standardsätze auf zwei Postkarten aus Kolumbien, das war alles, was Edda von ihm in Händen hielt, außer ihrer inneren Verbindung, die einfach keine Ruhe geben wollte. Sie übte Abstand von ihm zu gewinnen und auch ihren frisch geborenen Wunsch, geistig zu erwachen, zu verhöhnen. Mit Fausto in der Ferne fand sie all sein Gerede doch wieder idiotisch, vielleicht für weltfremde Spinner geeignet. Sie wollte leben, normal leben und die Liebe genießen, nicht darunter leiden. Was sollte das für ein Leben sein? Jede Minute des Lebens an diese blöde Vervollkommnung denken, feststecken im Bann der Disziplin, die scheinbar ununterbrochen notwendig war, um dieser Supermensch zu werden? Sie betrank sich lieber mit Alt Bier, wenigstens wusste sie danach genau, warum es ihr schlecht ging. Edda litt fürchterlich nach jedem übermäßigen Alkoholgenuss.

      Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und ihr einen Job in einem berühmten Architekturbüro verschafft. Glühend von ihren Kommilitonen beneidet, sollte sie im Herbst beginnen. Edda nahm diesen Vorzug gelassen hin, während sie sich ihrem Liebesentzug widmete. Herumhängen und Jammern, den ganzen Sommer lang. Einige ihrer Trinkgefährten versuchten sie mit nutzlosen Sprüchen aufzuheitern, mit Kinobesuchen oder einer keuschen Umarmung. Edda ließ niemanden näher an sich heran. Eines Tages luden zwei der hartnäckigsten Tröster sie zu einer Fahrt ans Meer ein. Nach Holland?! Das versprach Tröstung. „Jenever, oude kaas en haringen.“ Matjesfilets, frisch aus dem Fass, enthäutet, ohne Rückgratgräte, ganzleibig in rohe Zwiebelwürfel geschwenkt und geräuschvoll in den Mund geschlungen, mit dem Kopf im Nacken. Sie war begeistert.

      Überall in dem kleinen Ort am Meer waren Plakate angebracht, die eine Vernissage in einer leeren Fabrikhalle ankündigten, mit dem heutigen Datum. Eine Keramikausstellung lokaler Künstler. Es ging hierbei nicht um Gebrauchskeramik, und das interessierte Edda. Doch als sie am Abend mit ihren Begleitern die Halle betrat, wurde ihre Aufmerksamkeit mehr von den Klängen des klassischen Flamenco in Anspruch genommen als von den Ausstellungsstücken. Dabei blieb ihr Blick an dem Gitarristen hängen, der die Eröffnung mit seinem Spiel begleitete. Sie glaubte ihn zu kennen, kannte ihn aber nicht. Das war erregend und musste