Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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sich nun die Strände des Schwarzen Meeres vor, bevölkert von Einsamen. Unüberschaubare Ladungen von faulen Äpfeln kollerten begleitend am Wellenrand vor und zurück.

      So also bewahrte man das Gemeinwesen von dieser, besonders von Politikern gefürchteten Pest, die anscheinend auch in Edda hauste. Man versuchte mit dem Drill dagegen schon im Kinderhort zu beginnen. Gesellschaftliche Solidarität sollte die wichtigste Bedingung darstellen, um nicht als bemitleidenswert oder sogar anormal zu gelten. Jeder Einzelne musste als Teil des Ganzen erkennbar sein, ansonsten bedeutete er eine Gefahr für die Anderen, für die Normalen, für das System in dem sie funktionieren sollten.

      Das hatte man verpasst Edda klarzumachen, sie hatte als Kind allein im Wald herumgespielt, gehaust. Deshalb also, habe ich immer krampfhaft versucht irgendwo zugehörig zu sein, hatte sie damals zu Fausto gesagt.

      „Das Unbehagen der Einsamkeit begleitet die Menschheit nun einmal seit ihrer primitivsten Zeit“, hatte Fausto sie getröstet. „Sie begleitet jeden Menschen! Es sei denn, er spielt, von der Furcht getrieben, das Theater des „Sich Betrügens“ perfekt. Der erste Schritt dagegen ist ein wenig erfolgreicher doch unaufhörlich praktizierter Versuch der Einsamkeit mit dem Liebeswunsch zu begegnen, um ihr zu entkommen. Damit wird aber nur die Möglichkeit des individuellen Erkennens endgültig verraten.“ In diesem Punkt schien sich Fausto besonders sicher zu sein, er hatte ihn immer wieder angesprochen.

      Aber wieso denn endgültig, meinte Edda damals, man könne doch, wenn man es einige Male ausprobiert hätte und dann bemerke, dass man auf diesem Weg der wahren Einsamkeit nicht entfliehen könne, aufgeben, von vorne beginnen und immer noch die andere Richtung einschlagen, einen Neubeginn wagen. Das könne man schließlich immer wieder im Leben.

      „Nein“, hatte er geantwortet, „man verliert sich in der Menge und findet nicht mehr den nötigen Ausgangspunkt, man verliert die Verbindung zum instinktiven Vertrauen in die Einsamkeit, man verliert sich selbst in der Masse.“

      Ja was denn nun, hatte Edda gedacht, Masse oder Individuum? Sie wollte die Sache nicht im Ganzen erfassen, ihren Traum nicht verhöhnt davonschleichen sehen. Fausto bestand auf der bewussten Einsamkeit, als wichtigste Basis für die geistige Entwicklung. Das konnte er ernsthaft behaupten, vor einem rund getrunkenen Deckel, mitten in der vollbesetzten Kneipe sitzend.

      Edda wusste inzwischen von Vielem etwas, von Manchem etwas mehr, aber von nichts genug, um behaupten zu können, sie sei Expertin. Kein Gebiet gehörte zu ihr. So wie sie später viele Länder kennenlernte aber nirgendwo wirklich zugehörig war, kein Zuhause empfand. Geographisch blieb sie überall eine Fremde, und kein Experte akzeptierte sie unter Experten. Nicht einmal Freundschaftsexperten hielten sie zuständig für Freundschaft. Es gab genügend Menschen, die immerzu von ihren zahlreichen besten Freunden zu berichten wussten. Die für diese durchs Feuer gingen, sich eine Hand abhacken ließen oder sogar beide Hände der Glut zu opfern bereit waren. Edda hatte solche Freunde nicht, keiner handelte mit seinen Gliedmaßen im Vertrauen auf die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft. Doch sie erinnerte sich mit zärtlicher Zuneigung an ihre kleine Schwester, die sich todesmutig, mehr als einmal, mit gesammelter Kleinkindkraft zwischen Edda und ihren gemeinsamen Erzeuger geworfen hatte, um seine von Schlägen gesteuerten Erziehungsversuche an Edda zu verhindern. Die Kleine hatte dem Vater gegen das Schienbein getreten und sich mit einer Heidenangst zwischen ihn und Edda geworfen. Sie war übrigens nie getauft worden. Einmal hatte sie sich in seiner Wade festgebissen um ihn abzulenken, um Edda zu beschützen.

      Den Bierschaum vorsichtig rüsseln, diese Geste saß sehr tief, selbst wenn sie, was nicht oft vorkam, ihre Oberlippe vom unvermeidlichen Konturenstift verschont hatte. Eine gezeichnete feine Linie, etwas dunkler im Ton als ihr ebenfalls nicht wegzudenkender Lippenstift. Eine Linie, die ihr nicht einmal annähernd den in Jungmädchenjahren ersehnten Schmollmund verlieh.

      Eine besonders herzlich scheinende, vollbusige, wulstlippige Geliebte ihres Vaters, hatte ihr vor Jahren, als sie sich noch im Zwitterzustand befand, ihren Sexus und etwas Weiblichkeit an sich zu entdecken suchte, dringend zu dieser Linienführung geraten. Damit Edda etwas femininer aussähe. Denn, mit ihrem schmalen langen Mund, ihrer schmalen langen Nase, ihrem schmalen langen Körper und ihren kurzen breiten Händen, wirke sie leider sehr maskulin. Wusste diese Beraterin etwa nicht, dass Edda die meisten jungen Jahre ihres Lebens genau das zu sein versucht hatte, dem Vater einen Sohn zu ersetzen, im Vier-Mädchen-Haus.

      Doch nun war die Zeit gekommen, nun wollte auch Edda eine Frau sein. Sie hatte Dutzende von Konturenstiften seitdem angespitzt. Sie hatte ihren Gang tänzerisch aufrecht ausgefeilt, kleinere Schritte geübt. Nicht mehr breitbeinig wie ein Seemann von einem Bein auf das andere geplumpst. Nein, einen Fuß gezielt vor den anderen gesetzt, trainiert, bis sie mit geschmeidiger Eleganz über den Schulhof stolzieren konnte, die lange Nase, die gar nicht so lang war, in die Höhe gereckt. Nun wollte sie verführerisch, mit Stil kokett und begehrenswert sein. Ebenfalls, wie Vater es sich nun wünschte. Es hatte viele Jahre benötigt bis dieser Wurm, der sich um dieses Outfit gewunden hatte, vertrocknet war.

      Edda begann mühsam eigene Vorstellungen zu entwickeln, über das, was sie zu sein beabsichtigte und wie sie sich kleidete oder schminkte. Sie hatte jene üppige, stupsnasige Circe boshaft Speckschwarte genannt, in Anwesenheit des Allmächtigen, und sie wurde seines Hauses verwiesen. Das hatte sie nicht erschüttert, mehr oder weniger hatte sie wohl genau das angestrebt, denn sie wusste, ein Bruch mit dieser Frau, war ein Bruch mit ihrem Vater. Aber Edda hatte es erst vor kurzem gewagt, als sie Fausto schon in der Hinterhand glaubte. Sie hatte immer noch die Gewohnheit aufrecht gehalten, stets bewundernd von ihrem Vater zu erzählen, besonders Fausto erfuhr wiederholt und kritiklos von dessen Bocksprüngen. Diese Geschichten quollen unermüdlich aus Eddas Mund an Faustos Ohr, bis er dem, kurz vor dem Ende ihrer ersten gemeinsamen Wochen, mit einem einzigen Satz ein Ende bereitet hatte.

      „Im Sanskrit gibt es das Wort Papa, das bedeutet, das Unterworfen-Sein unter die vitale Unreinheit.“ Edda hatte ihn fragend angesehen.

      „So steht es in den Erläuterungen zu den Sanskrit Begriffen“, hatte er achselzuckend hinzugefügt, „das Unterworfensein unter die vitale Unreinheit, unter das Begehren und den falschen Impuls den wir Sünde nennen. Papa, welch ein Wort.“

      Sie hätte beinahe einen Mirabellenkern verschluckt. Ihre Zunge hatte schon eine ganze Weile damit gespielt, ihn beinahe glattgelutscht. Die vitale Unreinheit, im Zusammenhang mit Papa, hatte ihr das Blut in die, von spanischer Sonne getönten Wangen gejagt, doch sie hatte zu dieser Erläuterung geschwiegen.

      Edda ersehnte sich schon lange nichts mehr von der Speckschwarte, dieser Hure, wie Mutter sie ausnahmslos nannte. Schon gar nicht ihren vollen Mund, mit dem bewusst geformten, albernen Loch in der Mitte, das sie entstehen ließ, wenn sie ein männliches Wesen erblickte. Ein winziges Löchlein, in das knapp ein Streichholz gepasst hätte, das sich trotz eifrigen Übens nicht zwischen Eddas damals noch kindliche Lippen hatte zaubern lassen. Denn Vater hatte dieses kleine Loch als den Gipfel der Erotik gelobt. Auch über ein etwas größeres Loch dieser Dame war Edda von ihm genauestens informiert worden. Mit einer Packung Henna hatte sie damals gehofft diesem Ideal, das von einer rotbehaarten Vulva umsäumt wurde, näher zu kommen. Der brühend heiße Brei hatte ihrem noch spärlichen Schamhaar das gewünschte Caobarot beschert und einen von Brandblasen gekrönten Venushügel. Niemand bewunderte die feurig rote Pracht.

      Die unzähligen Giftpfeile der Kritik und Eifersucht, an beiden Fronten, vermisste Edda kein bisschen. Auch die Aufmerksamkeit des Vaters nicht mehr, sie hatte sich aus diesem Begehren hinaus gewunden, hatte sie doch den tierischen Überlebenstrieb ihres Vaters geerbt. Der Gedanke an diese Wirren um des Vaters Gunst und Willen, ließen sie allerdings nicht kalt, und der Konturenstift steckte immer noch griffbereit in ihrer Handtasche.

      Etwas an ihrem Erinnerungsvermögen wollte keine Ruhe geben, es rann und stolperte durch dunkle Gassen, suchte nach Daten und Fakten der Geschehnisse aus dieser Vaterzeit, es drängte nach Klärung. Sie hatte Fausto nur zum Teil in jene Zeit eingeweiht.

      So wie eine Zunge nach einer Mahlzeit automatisch, irritiert erregt im Mund herumfuhrwerkt, die Zahnreihen nach Erhebungen der Reste abtastet, die sich in die Rillen gequetscht hatten, so versuchte sie den unbewussten Schmerz aufzuspüren. Sie wühlte in Löchern und tiefen