Guido Schroeder

Der Fehdebrief


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      Der positive Nebeneffekt, der aus diesem Verhalten resultierte, war der Umstand, dass Arnulf ihn mit der Zeit immer öfter alleine ließ, und er sich so in der Kemenate und im Bergfried ungestört umschauen konnte. Zwar blieb nie besonders viel Zeit, doch die Regelmäßigkeit dieser Anlässe ließ Stephan genügend Spielraum für eine systematische Vorgehensweise. Jede Woche erkundete er einen kleinen Bereich zusätzlich, und seine Aktivität fiel niemandem auf.

      Auch hatte Wulf dafür gesorgt, dass Stephan sehr oft zu Arbeiten bei den Fußknechten eingeteilt wurde. Er hatte so die Möglichkeit, mehr und mehr durch seine Beobachtungen von den Tagesabläufen, aber vor allem von den Kämpfen der Soldaten zu lernen. Es kam sogar ab und an vor, dass Wulf ihn beiseite nahm und ihm verschiedene Waffen und deren Handhabung erklärte. Dabei erwies sich Stephan als außerordentlich geschickt und wissbegierig. Mit neun Jahren war Stephan bereits in der Lage, zu jeder Waffe die erfolgversprechendste Angriffsstrategie zu nennen, und wusste einzuschätzen, welche Waffe man einsetzen sollte, wenn man die Waffe des Gegners kannte. Für die Praxis mangelte es jedoch noch an Kraft, und obwohl Stephan sich immer wieder ausprobieren durfte, war ihm bewusst, dass er selbst im Kampf gegen einen Zwölfjährigen mit größter Wahrscheinlichkeit unterliegen würde.

      Auch kam es nun vor, dass Wulf mit seinen Fußknechten hin und wieder ausrücken musste und einige Tage fort war. Meistens kamen nicht alle unversehrt zurück. Wulf berichtete von kleineren Kämpfen, die sie für ihren Herrn zu bestreiten hatten. Manchmal käme es nur zu Verhandlungen und manchmal auch zum Kampf. Stephan ließ sich von den Knechten, die Stephan mittlerweile als Teil des Inventars betrachteten, jede Einzelheit berichten und sog alles in sich auf. Er wäre gerne schon mit ihnen hinausgezogen, doch sah er auch ein, dass Wulf Recht hatte, wenn er behauptete, Stephan sei im Kampf eine Belastung, da sich mittlerweile jeder der Knechte verpflichtet fühlen würde, Stephan zu beschützen. Seine Zeit würde früher kommen, als ihm lieb sei, und Wulff hoffte, dass Stephan bis dahin wenigstens in der Lage wäre, einen Dreschflegel aus Holz einige Stunden zu halten.

      Stephan blieb nichts anderes übrig, als älter zu werden, also zu warten und zu lernen. Das tat er auch, und da ihm durch seine veränderte Stellung in der Burg nun auch mehr Zeit blieb, konnte er sich auch wieder anderen Dingen widmen. Es war ja nicht so, dass er sich nichts vorgenommen hatte. Er ließ es trotzdem mit Bedacht angehen und wartete auf seine Gelegenheiten.

      Eine kam ganz unverhofft kurz nach seinem zehnten Geburtstag. Stephan stapfte Wulf auf dem Weg zum Übungsplatz mit dem Arm voller Waffen hinterher, als der Burgherr, Graf Rainald, der sich unüblicher-weise schon länger als drei Wochen in der Burg aufhielt, aus dem Palas Wulf über den Burghof zu sich rief. Wulf sollte eine Auswahl an Waffen mit sich bringen. Da es die Situation hergab, gab Wulf Stephan durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass er ihm folgen solle. Es ging in den Palas und am Tisch des Herrn vorbei die Treppe hinauf. Stephans Herzschlag beschleunigte sich. Seit Jahren hatte er noch niemanden befragen können, der je in den Gemächern des Herrn gewesen war, und nun bot sich ihm selbst die Gelegenheit. Sie folgten dem Burgherrn in eine Kammer, die mit zwei Truhen, einem Regal und einem großen Tisch in der Mitte ausgestattet war. Auf dem Tisch war eine Karte ausgebreitet und auf dem Regal waren vereinzelte Pergamentrollen abgelegt. Der Burgherr sprach zu Wulf: „Es wird ernst. Ich vermute, uns steht ein Angriff bevor. Diese verfluchte Saufott Walram hat es gewagt, seinerseits Anspruch auf diese Burg zu erheben. Dort liegen der Fehdebrief und das blutige Schwert.” In diesem Moment erst bemerkte Stephan das Schwert, das an den Tisch gelehnt war, die Klinge mit getrocknetem Blut besprenkelt. „Er schreibt, dass wir vier Tage Zeit haben, seinen Anspruch anzuerkennen, ansonsten werde er Burg Worringen in Schutt und Asche legen.” Und dann brach es aus Graf Rainald heraus, und er brüllte wutentbrannt: „Dieses Aas! Er weiß genau, dass meine Truppen unterwegs sind und nicht rechtzeitig hier sein können. Das wird er mir büßen. Wulf, sagt mir, können wir uns gegen einen Trupp von hundertfünfzig bis zweihundert gut aus-gerüsteten Soldaten verteidigen? Welche Waffen haben wir gelagert?”

      „Herr Rainald, wir sind seit der letzten Schlacht genau sechsunddreißig Knechte. Unsere Bewaffnung ist in gutem Zustand und die Männer sind kampfeslustig und zäh. Eine Verteidigung wäre möglich, die Anlage und die Mauern sind neu und standhaft. Unser Problem ist jedoch ein anderes. Unsere Vorräte sind stark begrenzt. Arnulf müsste dazu mehr sagen können, doch ich glaube, dass wir derzeit alle drei Tage eine Lieferung an Nahrung bekommen, die sich nicht verspäten darf, weil wir ansonsten die Leute auf der Burg nicht versorgen können. Wenn Walram uns also belagert, würden wir spätestens am fünften Tage ausgehungert einen Ausfall wagen müssen und mit höchster Wahrscheinlichkeit niedergemacht werden.”

      „Haben wir keine Möglichkeit, die Nahrung an Walrams Truppen vorbei zu schmuggeln?”

      „Leider nein, mein Herr.”

      „Können wir die Truppen nicht aus der Burg heraus dezimieren?”

      „Auch das nicht mein Herr, da der Papst die Armbrüste verboten hat, hat Arnulf auf eine Bestellung verzichtet, und die Bögen durchschlagen auf die Distanz die Rüstungen nicht.”

      „Der Papst hat auch verboten, sich unrechtmäßig Besitz aneignen zu wollen und trotzdem versucht es dieser Saufott, schnaubte Rainald. Verdammt, also gut, ich werde nach Jülich reisen und ihm vorgaukeln, dass sein Anspruch gerechtfertigt sei. Das verschafft uns Zeit. Zeit, in der ihr mir dafür sorgt, dass wir einen geheimen Zugang zur Burg errichten, der uns nötigenfalls mit Nahrung versorgen kann. Ich werde mir Arnulf vorknöpfen und ihm zur Not einprügeln, dass sein Herr wichtiger ist als der Papst und er so viele Armbrüste zu beschaffen hat, wie er auftreiben kann. Ihr seid entlassen.” Mit diesen Worten nahm er das Pergament, öffnete eine der beiden Truhen und feuerte es zu den anderen Dokumenten, die bereits darin verwahrt waren.

      Stephan fiel es schwer, sich zu konzentrieren, er hielt immer noch die Waffen auf dem Arm. Niemand hatte ihm erlaubt sie abzulegen, eigentlich hatte niemand Notiz von Stephan genommen. Seine Arme zitterten bereits vor Schmerzen, doch die Stelle, an der wichtige Dokumente aufbewahrt wurden, hatte er sich gemerkt. Ein kleiner Schritt weiter auf dem Weg zu seinem Ziel.

      Die nächsten Wochen waren mit dem Bau eines unterirdischen Zugangs zur Burg ausgefüllt. Schwierig dabei war die Geheimhaltung. Es sollten natürlich so wenige Personen wie möglich davon erfahren. Aus diesem Grunde wurde ein Teil der Burg abgesperrt und nur bestimmte Arbeiter hatten Zugang.

      Da Stephan ein Eingeweihter der ersten Stunde war, war er am Bau des Tunnels beteiligt. Der einzige Gleichaltrige, der in das Geheimnis der Bauarbeiten eingeweiht war, war der Junge des Schmieds, Lucas. Stephan arbeitete einen Großteil der Zeit mit ihm zusammen. Ihre Aufgabe war es, die Erde aus dem Stollen zu tragen. Da sonst niemand auch nur annähernd in ihrem Alter war, freundeten sie sich schnell an. Stephan erfuhr, dass Lucas auf der Burg geboren worden war und als Sohn des Schmieds eine Menge Privilegien besaß. Das sei auch der Grund, warum Lucas ebenfalls Schmied werden wolle. Sein Vater sei angesehen, und jeder behandele ihn und seine Familie mit Respekt. Das läge natürlich auch daran, dass es sich niemand mit seinem Vater verscherzen wolle. Er sei ja nun fast nachweislich der stärkste Mann auf der Burg. Stephan wurde wehmütig bei der Schwärmerei, auch er hatte einst so zu seinem Vater aufgeblickt, und trotzdem gab es einen Unterschied. Lucas sah seinen Vater jeden Tag und oft berichtete er von gemeinsamen Ausflügen zum Angeln oder ihren Abenteuern im Wald. Lucas schien einer der ganz wenigen Jungen zu sein, die das Glück hatten, bei einem Vater aufzuwachsen, der nicht nur Vorbild, sondern auch Freund war. Dieses Glück hatte Stephan nie gehabt, und er würde so viel dafür geben, wenn er doch wenigstens sein Vorbild zurückbekäme.

      Doch auch auf Lucas Glück lag ein Schatten. Es gab Tage, da sprach er kein Wort, war sogar nicht einmal ansprechbar. Das Verhalten kam Stephan gruselig bekannt vor, und er bemerkte die Verletzungen an Lucas, die dieser zwar zu verstecken versuchte, aber Stephans prüfenden Blicken nicht entgingen. Derartige Verletzungen würde der gutmütige Schmied seinem anscheinend so sehr geliebten Sohn niemals zufügen. Einen älteren und gemeinen Bruder hatte Lucas auch nicht, nur einen wesentlich jüngeren Bruder und eine noch jüngere Schwester waren noch am Leben. Einen älteren Bruder und eine ältere Schwester habe auch er gehabt, die seien aber am Fieber gestorben, genauso wie seine Mutter. Er habe eine Zeit alleine mit seinem Vater gelebt und der habe dann wieder