Guido Schroeder

Der Fehdebrief


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und es war immer warm gewesen. Hunger war ihm unbekannt gewesen, und die schrecklichen Gerüche von altem Stroh hatte es wohl damals auch nicht gegeben. Aber vor allem konnte er sich daran erinnern, dass sein Vater dauernd bei ihnen gewesen war. Auch war die Kleidung seiner Eltern viel bunter gewesen.

      Er hatte sich in den vergangenen Jahren oft gefragt, was wohl geschehen war. Er hatte den Eindruck, dass er ein glückliches, wohl behütetes Leben gegen eines mit harter Arbeit, der ständigen Bedrohung von Hunger und Kälte und ohne eine richtige Familie eingetauscht hatte. Eines Nachts war er mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern von diesem Paradies aufgebrochen und in ein kleines Dorf gekommen, das von diesem Zeitpunkt an ihr zu Hause gewesen war. Stephan konnte nicht genau sagen, ob das seine eigenen Erinnerungen waren oder sie lediglich aus den kargen Erzählungen seiner Mutter stammten. Jedenfalls wusste er, dass eines seiner drei Geschwister die Reise nicht überlebt hatte. Sein zweiter kleiner Bruder war im ersten Winter nach ihrer Ankunft gestorben. Auch an ihn konnte er sich nur ganz vage erinnern. Viel deutlicher war das Bild seiner verzweifelten Mutter vor seinem geistigen Auge. Er konnte es damals noch nicht richtig verstehen, wusste nur, dass etwas Schreckliches geschehen war.

      Sein Vater war seit ihrer Ankunft im Dorf nur noch sehr selten zu Hause, und wenn er einmal da war, hatte er viel im Dorf zu erledigen, besprach sich lange mit seiner Mutter und hatte nur sehr wenig Zeit für Stephan und seine Schwester. Das Lachen seines Vaters, dass ihm in seinen ersten Lebensjahren das Gefühl absoluter Glückseligkeit gegeben hatte, hatte er kein einziges Mal mehr zu hören bekommen. In den wenigen Gesprächen, die sie geführt hatten, ging es immer nur um eines. Stephan solle hart für seine Mutter und seine Schwester bei einem benachbarten Bauern arbeiten, damit sie wenigstens etwas in den Magen bekamen. Abends übten sie dann mit Mutter gemeinsam lesen, wobei sie ihr schwören mussten, niemandem etwas davon zu erzählen.

      Stephan war das ganz recht gewesen, er hätte sich wohl den Spott der anderen Jungen zugezogen. Sein Vater erklärte ihm, dass er wichtige Angelegenheiten zu erledigen hätte und ihm nicht mehr sagen könne. Er würde aber alles dafür tun, dass es ihnen bald wieder besser gehen würde. Nun fiel ihm auch wieder ein, wie verändert Vater war, als er kurz vor der Katastrophe von einer seiner Reisen zurückkam. Das war das erste Mal seit langem, dass eine Art Lächeln in Vaters Gesicht zu sehen war. Er schien nicht mehr so angespannt und umarmte alle Familienmitglieder ungewöhnlich intensiv. Das war einen Tag vor dem Überfall. Auch seine Mutter beantwortete Stephans brennenden Fragen nach seinem Vater nicht. Es sei sicherer für ihn, wenn er von all dem nichts erfahre, hieß es immer. So arbeitete er tagein, tagaus auf dem Feld. Seine Mutter und seine Schwester arbeiteten ebenso hart, dennoch merkte er, dass sie eine Außenseiterrolle in dieser Dorfgemeinschaft innehatten. Sie wurden zwar mit Respekt behandelt, doch entgingen ihnen die verstohlenen Blicke und die Gespräche hinter vorgehaltener Hand der anderen Dorfbewohner nicht.

      Sie waren allerdings auch die einzigen, die keinen erwachsenen Mann im Haus hatten. Jede der anderen Familien hatte einen Hausherren, der ständig zugegen war. Starb ein Familienoberhaupt, so zog die Familie unmittelbar nach der Beerdigung fort, wahrscheinlich zu Verwandten, oder ordnete sich einem anderen Haushalt unter. Dabei gingen die spärlichen Besitztümer immer an das neue Familienoberhaupt über. Ihre Situation, zwar mit einem Mann im Haus, der jedoch nie da war, war außergewöhnlich.

      Es war zwar ihr Zuhause, und einige schöne Tage hatte auch Stephan erlebt, aber er hatte ständig das Gefühl, fehl am Platze zu sein.

      Zum Glück für Stephan war den gleichaltrigen Jungen ihr Status egal. Vielleicht lag es auch an seiner körperlichen Überlegenheit den meisten Jungen gegenüber, jedenfalls fühlte er sich in deren Umgebung immer wohl, auch wenn sie nur wenige Stunden in der Woche zur Verfügung hatten, gemeinsam zu spielen. Wenn sie am heiligen Sonntag nach der Kirche die Gelegenheit hatten, weil sie mal nicht den Haushalt in Ordnung zu bringen hatten, spielten sie im Wald Räuber und Ritter. Stephan zog es vor, auf der Seite der Schurken mitzumischen. Der Ehrenkodex der Ritter schien ihm unlogisch. Warum sollte er jemandem Gnade gewähren, der kurz zuvor versucht hatte, ihm den Schädel einzuschlagen? Einmal waren sie beim Raufen erwischt worden. Da hatten sie alle zusätzlich so arge Prügel bezogen, dass sie sich am nächsten Tag kaum wieder erkannt hatten. Nachdem die Schmerzen allerdings verflogen waren, sahen sie es als eine Art Härteprüfung an und verabredeten sich gleich für einen neuen „Raubzug“, sobald es die Zeit erlaubte.

      Als er so darüber nachdachte, vermisste er seine Freunde schmerzlich. Alle waren etwas älter als er gewesen, und da von ihnen niemand mit in diesem Fuhrwerk unterwegs war, musste Stephan davon ausgehen, dass ihnen ähnliche oder gar schlimmere Dinge als Michael widerfahren waren.

      Langsam erhellte sich der Horizont, und es kam wieder Leben in das Lager. Auch die anderen Kinder wachten auf, und die Soldaten gaben ihnen sogar etwas kaltes Fleisch, das vom Abend und nach deren Frühstück übrig geblieben war. Danach ging ihre Reise weiter. Es war ein regnerischer Tag, und trotz ihrer Schwermut begann Stephan, so unauffällig wie möglich mit den anderen Kinder zu kommunizieren. Aufgrund der Kälte schmiegten sich alle eng aneinander, wobei es Magdalena irgendwie schaffte, mit einem Mal einen Platz neben Stephan zu ergattern. Er genoss den Umstand, ihnen Trost spenden zu können. Das lenkte ihn von seinem eigenen Kummer etwas ab.

      So fuhren sie über einen matschigen Weg. Zweimal mussten sie sogar absteigen und dabei helfen, den Karren aus dem Dreck zu schieben. Gegen Mittag kamen sie verdreckt und durchgefroren an einem riesigen Gebäude aus Stein an. So etwas hatte von ihnen noch niemand zuvor gesehen. Angst davor was nun mit ihnen geschehen würde, überfiel sie ,als sie das schwere Tor passierten. Stephan entschloss sich, vom schlimmsten Fall auszugehen. So konnte er wenigstens seine Angst etwas im Zaum halten, und er schwor sich, es seinen Häschern nicht allzu leicht zu machen. Aber wie so oft kam alles anders.

      Kapitel 3 - Burg Worringen

      Sie fuhren durch ein gewaltiges Tor in einen riesigen Hof. In der Mitte blieb das Fuhrwerk stehen, und es geschah erst einmal nichts Besonderes. Ein paar Befehle wurden gerufen, und Stephan wagte es, abermals seinen Kopf über den Rand hinaus zu strecken, um seine Umgebung zu erkunden.

      Geschäftiges Treiben überall. Dienstmägde, beladen mit Körben, huschten von einem Gebäude zum nächsten. Bauern brachten Waren durch das Tor in den Hof, und Soldaten patrouillierten auf den Wehrgängen. Und plötzlich sah er ihn. Der Soldat, der ihnen in den Wald gefolgt war, der sich an ihnen vergriffen hatte, er konnte ihm Auskunft über seine Mutter geben. Alle guten Vorsätze waren vergessen. Stephan wollte sich gerade aus dem Wagen schwingen und einen Angriff auf diese schreckliche Kreatur beginnen, als eine schallende Ohrfeige vollkommen unerwartet einschlug.

      „Da haben wir wohl ein ganz forsches Bürschchen. Dir werden wir auch noch Manieren beibringen! Ihr Jungs ab in den Stall, dort wird man sich um euch kümmern. Ihr Mädels lauft zur Küche, aber rasch! Es steht ein Fest an, Irmgard kann alle Hilfe brauchen, und jetzt sputet euch, zack zack. Und du, mein forscher Freund, für dich habe ich eine besondere Aufgabe. Du kommst mit mir.“

      In diesem Moment musste Stephan hilflos mit ansehen, wie ihre kurz zuvor aus der Not geborene Gemeinschaft wieder zerfiel. Und er konnte nichts dagegen tun. Aus Furcht, ein zweites Mal die Hand dieses Mannes, sie musste aus Stein sein, in seinem Gesicht zu spüren, ließ er sich hinterher zerren.

      Der Weg ging quer über den Hof auf einen Verschlag zu, und während Stephan darum bemüht war, nicht zu stolpern, hörte er „Steinfaust“ sagen, dass er den Boden im Geräteverschlag mit Stroh auszulegen habe, da ungewöhnlich viele Gäste für das anstehende Fest erwartet würden.

      Ungewöhnlich war die Lautstärke, mit der Stephan auf seine Aufgabe hingewiesen wurde. Er hatte fast den Eindruck, dass der grobe Kerl auffällig darauf bedacht war, andere Leute im Hof über seine Absichten zu informieren. Was sollte es auch für einen Grund geben, einer Kriegsbeute wie ihm diese Absichten, seien sie auch noch so unbedeutend, mitzuteilen? Stephan beschlich eine dunkle Vorahnung.

      Als die Holztür des Bretterverschlages hinter ihnen zuschlug, wurde seine dunkle Vorahnung zur bitteren Gewissheit.

      Mit den Worten: „So knackiges Frischfleisch ist mir schon lange nicht mehr vor die Flinte gekommen“,