Guido Schroeder

Der Fehdebrief


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Luft zu bekommen, da war dieser grobschlächtige Unmensch auch schon über ihm und nestelte an seiner Hose herum. Stephan versuchte, nach Luft schnappend, kriechend, um sich schlagend und in totaler Panik, irgendwie dem nahenden Unheil zu entkommen. Doch seine Fluchtmöglichkeiten wurden auf der einen Seite von der Bretterwand und der anderen Seite von „Steinfaust“ begrenzt. Es half alles nichts, weder der Versuch sich zu entwinden, noch zu beißen, er war hilflos ausgeliefert und versuchte, sich auf das nun kommende Martyrium vorzubereiten. Seine Gegenwehr schien sein Gegenüber noch zu beflügeln, und als das Monster in Stephan eindrang, waren Schmerz, Scham, Wut und Hass so außerordentlich groß, dass er am liebsten an Ort und Stelle gestorben wäre. Doch selbst die Bewusstlosigkeit blieb ihm verwehrt.

      Nachdem Steinfaust von ihm abließ, seine Hose hochzog, flüsterte er ihm beim Hinausgehen noch zu: „Danke, junge Dame, ich freue mich schon darauf, dir das nächste Mal den Hof zu machen“, lachte dabei dreckig und rief anschließend wieder übertrieben laut: „Beeil dich mit dem Stroh und melde dich danach im Stall.“ Doch Stephan hörte nicht mehr zu, er lag als Häufchen Elend zusammengekauert, zitternd und blutend auf dem Lehmboden und wünschte sich zu seinem Vater, seiner Schwester und seinem besten Freund.

      Nachdem er eine Weile so dalag, polterte die Tür auf und „Steinfaust“ stand im Raum. In Stephan zog sich aus Angst sofort alles zusammen, doch „Steinfaust“ zischte ihn nur an, sich ja nichts anmerken zu lassen. Er wäre nicht der Erste, der „geflohen“ sei und in Wirklichkeit am Grunde des Teiches außerhalb der Burg den Fischen Gesellschaft leistete. Und als er merkte, dass er dieses Kind wohl gebrochen hatte, fügte er hinzu, dass die süße Kleine, die ihm Wagen neben ihm gesessen hätte, auch im Teich an seiner Seite bleiben dürfe.

      Und zum Schluss: „Wenn ich zum Morgengrauen diese Hütte nicht mit Stroh ausgelegt und dich einigermaßen vorzeigbar sehe, sehen du und die Kleine die nächsten Sonnenstrahlen nicht mehr, einen Schwur drauf.“

      In diesem Moment achtete Stephan nicht auf die Drohung. Doch im Laufe der nun folgenden Nacht, der schlimmsten seines bisherigen kurzen Lebens, erwachten die totgeglaubten Lebensgeister, nicht aus Furcht um sein Leben, sondern aus Furcht um das Leben der kleinen Magdalena und aus Hass auf Steinfaust.

      So fand ihn sein Schänder am nächsten Morgen in einem Verschlag mit ausgelegtem Stroh und, wie befohlen, soweit vorzeigbar vor, wie es die Blessuren und die teilweise zerrissene Kleidung zuließen.

      „Da hast du aber Glück gehabt“, sagte Steinfaust, „ich hab schon gar nicht mehr damit gerechnet“, und schmiss den vorsorglich mit-gebrachten Leinensack in eine Ecke.

      „Ab zu Irmgard in die Küche, dort gibt’s was zu beißen, und denk dran, ein Wort und der Sack hier findet seine Bestimmung.“

      Stephan hatte keine Ahnung, wo die Küche war, doch just als er den Bretterverschlag verließ, sah er ein paar junge Burschen, unter ihnen auch die aus seinem Dorf, auf ein Gebäude unmittelbar neben dem Hauptgebäude zutrotten. Er schloss sich an und erntete von den Burschen verwunderte Blicke. Sein apathischer Zustand ließ ihn das jedoch nicht mitbekommen, auch nicht das karge Frühstück, die Küchenmagd Irmgard oder die harte Arbeit an diesem Tag in den Stallungen.

      Am späten Abend folgte er dann den Burschen zunächst wieder in die Küche, wo es eine Suppe gab, und anschließend in eine nicht genutzte Box im Stall, wo alle Burschen sich zum Schlafen niederlegten.

      So zogen die nächsten Wochen an ihm vorüber, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er hatte sich in seinen Geist zurückgezogen und ließ nur Befehle durchsickern, die er dann ausführte. Nichts sonst beachtete Stephan.

      Als er eines Morgens gerade damit beschäftigt war, Pferdemist im Burghof aufzusammeln, öffnete sich das Tor, und ein kleiner Trupp Reiter ritt in den Hof. Als einer der Berittenen Befehle brüllte, erstarrte Stephan fast zu Stein. Diese Stimme kannte er und verknüpfte sie sofort mit einer der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens. Bei dem Mann auf dem Pferd handelte es sich um den Schurken, der ihm und seiner Mutter in den Wald gefolgt, ihn in den Schlaf gehauen, gefangen genommen hatte und bestimmt schlimme Dinge mit seiner Mutter angestellt hatte. Stefan starrte Hauptmann Anno an und konnte seinen Blick nicht abwenden, als ihn ein Schlag auf den Hinterkopf in den soeben zusammengeschobenen Pferdemist beförderte, gefolgt von den barschen Worten: „Steh nicht im Weg, Bursche!“.

      Ein Soldat des Reitertrupps schmiss Stephan alsdann die Zügel zu und gab ihm zu verstehen, dass er sich gut um sein Pferd zu kümmern habe. Wenn er drei Stunden vor der Abenddämmerung seinen Gaul nicht in bester Verfassung vorfinden würde, würde es eine Tracht Prügel setzen.

      Anno, auf die Szene aufmerksam geworden, kam der Bursche seltsam bekannt vor. War das nicht der Junge, der vor einigen Monaten bei der „Rekrutierung“ zukünftiger Soldaten so kampflustig seine Mutter verteidigt hatte? Ja, das musste er sein. Genützt hatte es seiner Mutter zwar nichts, die Hure dürfte mittlerweile bereits von den Würmern wieder ausgeschissen worden sein, aber er erinnerte sich an die Wut und den Zorn in den Augen des Jungen und daran, dass er sich sicher war, dass das einmal ein guter Soldat werden würde, falls er die ersten Jahre auf den Schlachtfeldern überlebte. Anno nahm sich vor, später mit Arnulf, dem Hofmeister, über die weitere Verwendung des Jungen zu sprechen.

      Zunächst musste er jedoch mit seinem Herrn sprechen und ihm die Neuigkeiten erzählen. Was für ein Glück, die Gerüchte über den Tod Ottos schienen sich bestätigt zu haben. Zwar war seine Leiche nicht gefunden worden, doch waren die Aktivitäten und Nachforschungen rund um Burg Wassenberg seit einigen Wochen vollkommen erloschen. Spuren des französischen Gelehrten waren endlich ausfindig gemacht worden. Er hatte Sack und Pack in einer Herberge in Erkelenz stehen lassen und war seither nicht mehr gesehen worden. Vielleicht war auch er wie Otto irgendwo, irgendwie verreckt. Sollen sie doch in der Hölle schmoren, es lief derzeit einfach alles wie am Schnürchen. Sein Herr würde jedenfalls sehr zufrieden sein.

      „Reinold, nimm die Papiere, die der Miletto in der Herberge zurück gelassen hat, und komm mit"!

      Der Soldat, der Stephan mit der Pflege seines Pferdes betraut hatte, nahm eine Holzkiste, die am Pferd befestigt war, und folgte Anno… während Stephan kaum noch Luft bekam.

      Da war er, der Name, den sein Vater im letzten Atemzug genannt hatte, und den er sich seit diesem Tage einmal täglich wiederholt hatte, um ihn nicht zu vergessen. Er war zu ungewöhnlich und fremdländisch, als dass es sich um einen anderen Miletto handeln könnte. Außerdem wurde er von dem Mann ausgesprochen, den er am meisten hasste und der just an jenem Tage sein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte, als er den Namen zum ersten und einzigen Mal gehört hatte. Das konnte kein Zufall sein.

      In Stephan regte sich was. Etwas, das verloren gegangen schien. Doch es war noch da und bahnte sich seinen Weg zurück an die Oberfläche. Diesen Namen aus diesem Mund zu hören, ließ Stephan sein Ziel wiederfinden. Seine Lebensgeister waren mit einem Mal wieder vollständig da! Koste es, was es wolle, er würde Gerard de Miletto finden und das Geheimnis lüften. Wenn er dafür über die Leiche dieses Hauptmanns klettern müsste, um so besser!

      Die nächsten Tage verbrachte Stephan damit, die Burg zu erkunden. Die letzten Monate war er wie in Trance umhergewandelt und hatte die ihm zugewiesenen Aufgaben erledigt, so gut es sein Zustand zuließ. Dabei hatte er seine Umwelt größtenteils ausgeblendet.

      Nun nahm er die Dinge um ihn herum wieder wahr. Vor einem halben Jahr, als noch alles in Ordnung schien, hatte er noch davon geträumt, so eine Burg wie diese hier zu sehen.

      Auf einer leichten Anhöhe gelegen, quadratisch angelegt, mit meterdicken Mauern, Wehrgängen, Zinnen, Schießscharten, insgesamt fünf Wachtürmen und einem enormen Fallgitter aus Holz mit Metallbeschlägen. Im Inneren befand sich der Bergfried, ein breiter, hoher Steinturm, der leicht versetzt neben dem Torhaus gerade so weit von der Mauer entfernt stand, dass man nicht hin oder her springen konnte. Der Zugang befand sich in etwa drei Metern Höhe und war nur über eine Leiter zu erreichen, die bei Bedarf hochgezogen werden konnte. Im Innenhof der Burganlage befand sich der Übungsplatz. Dort wurde tagtäglich trainiert, sowohl mit Bögen, Armbrüsten und Schwertern als auch mit Pferden und an der Stechpuppe. Ausbilder dort war ein glatzköpfiger Haudegen namens Wulf, der den ganzen