Guido Schroeder

Der Fehdebrief


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die ganze Zeit über beobachte und beobachtete er sowohl die Kämpfer als auch die Menschen in seiner Umgebung.

      Dabei fiel ihm auf, dass Wulf etwas zu schaffen machte. Wulf war nicht der Typ, der sich mit seinen Problemen an andere wendete. Stephan konnte immer mal wieder beobachten, wie Wulf einen Fetzen Pergament aus seinem Wams holte, ihn drehte, wendete und manchmal zusammenknüllte und wegwarf, nur um ihn später wieder glatt zu streichen und in seinem Wams verschwinden zu lassen. Das tat er allerdings nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Stephan war durchaus bewusst, dass er am allerbesten gar nichts von sich preisgab. Vor allem die Tatsache, dass er lesen konnte, war viel zu außergewöhnlich, um sie jemanden wissen zu lassen.

      Er fühlte sich jedoch zu Wulf auf unerklärliche Weise hingezogen. Vielleicht weil Wulf der Einzige war, der ihm in der Zeit seit seiner Ankunft so etwas wie Freundlichkeit entgegen gebracht hatte, vielleicht aber war es auch nur das starke Gefühl, dass er Wulf vertrauen konnte. Als wieder so ein Moment kam und Wulf mit sich und seinem Stück Papier haderte, trat Stephan neben ihn und fragte: „Soll ich ihn vorlesen?“ Wulf erschrak für den Bruchteil einer Sekunde, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. Wulf wollte Stephan zunächst mit einer verächtlichen Geste davonjagen, doch die Art und Weise, wie dieser Junge dastand und ihn anblickte, ließen keinen Zweifel zu, dass er tatsächlich lesen konnte. Darum reichte er ihm das Pergament mit einem respektvollen Blick. Und Stephan las: „Diesem tapferen Soldaten Wulf verdanke ich mein Leben! Sollte er je nach Köln reisen, ist ihm bei jedem aus dem Hause Overstolzen und denen, die den Overstolzen gut gesonnen sind, Freundlichkeit zu gewähren. Gerhard Overstolz“. Wulf fing an zu lachen, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Und ich zermartere mir seit Jahren den Kopf, was dieser alte Haudegen bloß von mir wollte.“ Dann blickte er Stephan an und sagte: „Ich danke dir mein Junge, du hast was gut. Ich werde dir bei Zeiten erzählen, was es damit auf sich hat. Bei der Gelegenheit kannst du mir dann erzählen, woher du das kannst. In dir steckt noch mehr, als ich dachte.“ Damit ging Wulf weg, wobei er wieder leise lachte und den Kopf schüttelte.

      Stephan wusste, er hatte alles richtig gemacht. Wulf zu helfen, war eine riskante, aber gute Entscheidung gewesen, und mit dieser Euphorie ging er beschwingt über den Burghof, am Bergfried vorbei. Da packte ihn ganz unverhofft von hinten eine eisenharte Faust in den Nacken.

      „Was hast du denn mit dem Wulf zu schaffen, Freundchen? Anstatt zu schwätzen, hast du doch bestimmt Arbeit zu erledigen. Anscheinend nicht! Rauf auf die Leiter und ab in meine Kemenate mit dir, da kannst Du mal richtig Reine machen!“ Stephan erstarrte. Er wollte wegrennen oder um Hilfe rufen, doch der Griff von Arnulf im Nacken ließ Ersteres nicht zu. Auch wenn Stephan in dem Jahr, das er hier lebte, wesentlich an Kraft gewonnen hatte, so hatte er keine Chance gegen diesen Griff, der die Gewalt eines Schraubstockes zu haben schien. Es blieb also nur noch der Hilferuf. Verzweifelt rief er den Namen von Wulf, was dazu führte, dass der Schraubstock noch gefühlte drei Zentimeter enger wurde und ein Atmen beinahe unmöglich machte, geschweige denn ein Rufen. Gleichzeitig wurde er auf der Leiter vor Arnulf her nach oben gestoßen oder schon beinahe getragen. Panik stieg in Stephan auf, als plötzlich die Stimme von Wulf ertönte, die über eine gewisse Entfernung rief: „He Arnulf, schick mir den Burschen doch mal zu uns, wir haben da ein paar Arbeiten zu erledigen.“ Arnulf antwortete: „Klar mach ich, zunächst muss er aber noch bei mir Reine machen. Danach schick ich ihn rüber.“ Der Hoffnungsschimmer bei Stephan erlosch, als er weiter voran zum Eingang des Bergfrieds getrieben wurde.

      „Na warte, du glaubst wohl, dein neuer Kumpel kann dich vor dem beschützen, was dir jetzt blüht. Nix da, hier hab ich immer noch das Sagen, und so ein hergelaufener Vagabundensoldat hat nix zu kamellen. Wenn die Zeiten nicht so gefährlich wären, hätt ich ihn schon längst vom Hof gejagt. Wir brauchen aber jeden Mann. Und nun zu dir.“

      Als Stephan das Martyrium zum zweiten Mal hinter sich gebracht hatte, befahl im Arnulf, sich bei Wulf zu melden und für den Fall, dass er auf die Idee kommen sollte, auch nur ein Sterbenswörtchen über die Vorlieben des Hofmeisters zu erwähnen, würde der Leinensack samt ihm doch noch den Grund des Teiches erkunden.

      Stephan brauchte auch kein Wörtchen zu erwähnen, als er bei Wulf im Aufenthaltsraum erschien. Wulf erfasste mit einem Blick das Geschehene anhand des Häufchens Elend, das vor ihm stand und sagte: „Ich hatte ja keine Ahnung, ich hab gedacht, du kriegst ´ne Tracht Prügel und gut ist. Das wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir! Auch wenn dir das im Moment kein Trost sein mag. Geh, leg dich hinten in den Schlafraum der Soldaten. Da bleibst du, bis ich dich wecke.“

      Arnulf konnte es kaum fassen, als er Wulf in seine Kemenate eintreten sah: "Was fällt Dir ein, unangemeldet hier herein...".

      „Auf ein Wort, Hofmeister Arnulf!"

      „Komm wieder, wenn es mir besser pa...."

      „Solltest du dem Jungen je wieder so etwas antun, hat deine letzte Stunde geschlagen!"

      „Was fällt dir ein, so mit mir zu reden und mir zu drohen! Hat der kleine Scheißer Lügen über mich erzählt, nur weil er eine Tracht Prügel bezogen hat? Mit mir nicht, ich werde...." „Lass es mich klarer ausdrücken, fuhr Wulf in ruhigem und eiskaltem Tonfall fort, „Bekomme ich mit, dass du deinen Schwanz noch ein einziges Mal in Öffnungen steckst, in denen er nichts zu suchen hat, werde ich jeden Atemzug darauf verwenden, dich zu vernichten! Du weißt, dass mir alle Soldaten treu zur Seite stehen, sollte es drauf ankommen. Für mich soll das Thema hier enden und nie wieder Erwähnung finden, wenn du dich von nun an im Zaum hältst." Ohne die Erwiderung abzuwarten, verließ Wulf den Bergfried.

      Was für ein Dummkopf, dachte Arnulf. Das hätte auch schlimmer enden können. So bekommt weiterhin keiner was von meinen Vorlieben für kleine Jungs mit.

      Stephan hatte sich auch bei diesem letzten Mal so gewehrt, dass es fast keinen Spaß gemacht hatte. Der Junge vom Schmied war immer wie ein verängstigtes Kaninchen, das gefiel ihm sowieso viel besser. Sollte Stephan doch bleiben, wo der Kaiser die Huren her bekam. Ihn zu drangsalieren und Wulf loszuwerden, da würde ihm schon was einfallen. Und wenn Wulf erst einmal weg war, wer weiß... vielleicht würde er Stephan dann noch einmal eine Chance geben.

      Stephan wurde wach, als ein Soldat ihm Wasser reichte.

      „He Junge, schäm dich nicht. Das ist schon ganz anderen passiert." Es war der engste Vertraute von Wulf, der diese Worte zu ihm sprach. Doch sie verfehlten ihr Ziel, zumindest teilweise. Er schämte sich unendlich, doch den Tod wie beim letzten Mal wünschte er sich nicht mehr herbei. Sein Geist war besessen von Rache. Arnulf würde dafür elendig zu Grunde gehen, das schwor er sich in diesem Moment. In diesem Augenblick war ihm das noch wichtiger als die Suche nach seiner Mutter oder die letzten Worte seines Vaters.

      „Ich soll dir von Wulf ausrichten, dass Arnulf ab jetzt die Hände von dir lässt. Und mach dir keine Sorgen, außer mir weiß niemand mehr davon und es wird auch keiner erfahren. Das solltest Du auch beherzigen, die Sache auf sich beruhen lassen und das Leben geht weiter."

      Stephan nickte und dachte: Bis auf das Leben von Arnulf, das wird enden. So wahr mir Gott helfe.

      Kapitel 5 - Der Plan

      Die Monate vergingen, und Arnulf ließ keine Anstalten erkennen, die Drohung, die er Stephan gegenüber ausgesprochen hatte, in die Tat umzusetzen. Kurz nach dem Ereignis im Bergfried hatte er ihn ein weiteres Mal in seine Kemenate befohlen. Dank Stephans Gabe, Situationen und Menschen richtig einschätzen zu können, merkte er jedoch sofort, dass Arnulf nicht vorhatte, ihn erneut zu vergewaltigen. Es ging eine ganz andere Aura von ihm aus. Er machte zwar zweideutige Bemerkungen, und Stephan merkte, dass Arnulf ihm Angst einjagen wollte, doch eine wirkliche Gefahr ging nicht von ihm aus. Also spielte er einfach mit und gab sich ängstlich und kämpferisch zugleich. Das ging ein paar Minuten so, und Arnulf ließ zufrieden von Stephan ab, um ihm dann zu befehlen, die Kemenate tatsächlich zu säubern.

      Das geschah wieder und wieder, mittlerweile wöchentlich. Immer wieder die gleiche Leier, so dass Stephan schon Angst hatte, sein Schauspiel der Angst könnte auffliegen. Doch entweder war Arnulf weniger intelligent als das Ungeziefer, das Stephan absichtlich in seiner natürlichen