Angelika Nickel

Cemetery Car®


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bereits im nächsten Moment ein.

      »So sehr ich ihn auch mag, aber mitunter ist er ein sehr eigenartiger Kauz«, murmelte Gräulich, während er sich wieder dem Bildnis Madames zuwandte. Kopfschüttelnd betrachtete er es. Besah jeden einzelnen Zeichenstrich ihrer Gesichtszüge. Der Straßenmaler hatte sie tatsächlich einfach nur hässlich gezeichnet, wie auch er zugeben musste.

      Nach einer Weile löschte er das elektrische Licht, entzündete anstelle dessen eine Kerze, und setzte sich, Pfeife rauchend, in einen Sessel nahe dem Portrait.

      Gräulich dachte über Zink, über die Zeit mit ihr und über die Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit nach. Er sah das gemeine Gesicht Valenco da Rigas ebenso lebensecht vor sich, wie den lodernden Wahnsinn in den Augen Polo Plogidas.

      Mein Gott, was hatten sie bereits alles erlebt, seit Evelyn li Nola verstorben war, und ihrem Großneffen, Quentin Sommerwein, die Villa Punto vererbt hatte.

      Wie viele dieser Abenteuer, dieser Gefahren, würden noch auf sie zukommen?

      Und was erwartete sie hier in Paris?

      Weshalb hatte er dieses ungute Gefühl, Frankreich betreffend, gehabt? Damals, als sie nur knapp Shadowisland entkommen waren.

      Seinen Gedanken nachhängend, fielen Gräulich die Augen zu. Die Brille rutschte ihm von der Nase, seine Pfeife qualmte im Aschenbecher still vor sich hin, während aus Salvatores Bett lautes Schnarchen zu hören war.

      Die Glocken St. Claires schlugen Mitternacht, als der Professor erwachte.

      Das Licht der Kerze zitterte, warf den Schatten des Professors, in gespenstigem Licht, an die Wand.

      Gräulich erhob sich langsam aus dem Sessel. Er wollte hinaus auf den Balkon, wollte die Nachtluft Paris’ einatmen, dabei den Duft seiner Pfeife um seine Nase wehen lassen. Doch als er zu Madames Bildnis sah, wusste er, dass daraus nichts werden würde, sondern, dass er sich einem Phänomen widmen musste, das sich soeben direkt vor seinen Augen zutrug.

      Und während er das Geschehen beäugte, welches sich dicht vor ihm abspielte, fiel ihm Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray ein. Jenen Roman, der 1890/91 veröffentlicht wurde.

      In Madames Bildnis kam Leben. Ihre Gesichtszüge veränderten sich. Ähnelten immer mehr ihr selbst. Zerflossen ineinander, bis Gräulich am Ende glaubte, der wirklichen Madame Zink ins Gesicht zu sehen.

      »Was, um alles in der Welt, geht hier vor? Wie kann es sein, dass ein Bild zu leben anfängt? Welche teuflischen Mächte haben hierbei ihre Finger im Spiel?« Hastig schielte Gräulich zu Salvatore hin. Doch der ergötzte sich eines tiefen und festen Schlafes. Alle Versuche Gräulichs, ihn wachzubekommen, scheiterten kläglich.

      Als er sich wieder dem Portrait Madames zuwandte, war der Spuk zu Ende. Nichts erinnerte weiter an eine Ähnlichkeit mit Zink, noch sah es weiterhin aus, als würde sie ihm von diesem entgegenblicken.

      10 – Pater Pascal

      Auch in dieser Nacht erwachte Kim schweißgebadet.

      Wieder hatten Hände nach ihr gegriffen. Hände, die aus Karten heraus, nach ihr langten. Karten, die denen ihres Tarots gleichsahen.

      Kim schlich leise aus dem Bett, ging ins Badezimmer, unter die Dusche. Dass das Wasser zu so später Stunde nur noch kalt aus der Brause kam, störte sie nicht weiter. Sie wollte ohnehin richtig wachwerden, einen klaren Kopf bekommen, um über das Geträumte vernünftig nachdenken zu können.

      Was wollte ihr dieser Traum sagen? Und wollte er ihr überhaupt etwas sagen, oder war es einfach nur ein Traum gewesen? Doch warum dann die Tarotkarten? Was hatten sie in ihrem Traum zu suchen, und weshalb tauchten sie in diesem auf?

      Kim trocknete sich ab, warf das gelbe Frotteehandtuch über die Stange der Duschkabine.

      Sie schlüpfte in ihre schwarze Jeans und zog ein grünes

      T-Shirt über.

      Kim griff nach ihrer Handtasche, nahm den Zimmerschlüssel vom Tisch und verließ leise das Zimmer.

      Auf Zehenspitzen lief sie an Madame Zinks Zimmer vorbei. Sie konnte Nickels unterdrücktes Knurren, der ihre Schritte auf dem Flur wahrgenommen hatte, hören.

      Ohne ein Wort, verließ sie das Le Petite. Lief hinunter zur Seine, an deren Ufer sie sich setzen und nachdenken wollte.

      Die Nacht war lau, der Himmel sternenbehangen. Wie still und friedlich es doch ist, dachte Kim, und kam sich bereits jetzt schon lächerlich vor, diesen Traum dermaßen ernstgenommen zu haben. Es war nichts weiter als ein Alptraum. Möglicherweise schlief sie nicht gut in den alten ausgelegenen Matratzen. Zumal sie sowieso sehr gerne daheim in ihrem eigenen Bett schlief.

      Kim setzte sich ans Ufer der Seine. Sie folgte mit den Augen dem sanften Spiel der Strömung. In der Stille der Nacht dröhnte das Klicken ihres Feuerzeugs ohrenbetäubend, kam es ihr vor. Sie entzündete sich eine Zigarette. Den Rauchstreifen nachblickend, dachte sie nach.

      Die Tarotkarten, die sie in dem kleinen Laden geschenkt bekommen hatte, hatten sie etwas zu bedeuten? Für sie? In ihrem Leben? Weshalb hatte sie auf sie aufmerksam werden müssen?

      Kim warf den Kopf in den Nacken: »Närrin, du machst dich selbst verrückt! Die Karten sind einfach nur Tarotkarten, die sehr alt sind. Mehr aber auch nicht. Und, dass sie in deinem Traum aufgetaucht sind, das ist nichts als Zufall. Also, geh wieder zurück ins Le Petite und leg dich ins Bett. Morgen steht dir ein langer Tag bevor. Madame Zink hat bereits einen Besuch im Louvre eingeplant«, sagte Kim zu sich, während sie den Kippen ihrer Zigarette austrat und in ihren kleinen Handtaschenaschenbecher legte.

      Zwei Schwäne schwammen auf der Seine, als Kim aufstand, um zur Pension zurückzugehen.

      Eigenartig, dass die beiden nicht schlafen, wunderte sie sich.

      Als sie den Weg zum Le Petite einschlagen wollte, ertönten die Glocken St. Claires.

      Kim blieb stehen und lauschte. Ohne es zu bemerken, änderte sie ihre Richtung. Von den Glocken angezogen, folgte sie deren hallenden Schlägen. Solange, bis sie vor der Kathedrale St. Claire stand.

      Kim sah hoch zum Glockenturm. Versuchte die Glocken zu erkennen, deren Klang wieder verstummt war.

      Sie umlief die Kathedrale, blickte zur großen Tür der Kirche. Kim drehte sich um, wollte zurückgehen, als die Tür geöffnet wurde und ein Mann, bekleidet mit einem schwarzen Priesterrock, heraustrat. Er sah ihr direkt in die Augen. Lächelnd kam er ihr entgegen. »Zu so später Stunde noch unterwegs? Wollten Sie zu mir? Zu St. Claire? Ach, verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin übrigens Père Pascal.«

      »Père?«

      »Entschuldigung, ich habe nicht gewusst, dass Sie eine Touristin sind. Pater, ich bin Pater Pascal«, stellte er sich nochmals vor.

      »Hallo, ich bin Kim König. Wir, meine Freunde und ich, sind seit gestern hier in Paris.«

      »Schön. Wo wohnen Sie?«

      »Im Le Petite«, antwortete sie.

      Der Pater pfiff leise durch die Zähne. »Im Le Petite? Dann ist es kein Zufall, dass Ihr Weg Sie hierher zu St. Claire geführt hat.«

      »Wie bitte? Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Kim überrascht. Sie überlegte. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, den Weg zur Kathedrale eingeschlagen zu haben. Sie wusste, dass sie auf dem Weg zurück war. Zurück ins Le Petite. Doch dann hatte sie Glocken läuten hören. Sie musste ihrem Klang gefolgt sein, ohne es selbst bemerkt zu haben. Eine andere Erklärung hatte Kim nicht.

      »Was ich damit sagen will, ist nicht mit einem Satz beantwortet. Ich weiß, dass es bereits sehr spät ist, aber, wenn Sie vielleicht hereinkommen möchten …« Er zeigte auf das geöffnete Portal St. Claires.

      Kim zögerte. Auf der einen Seite war sie sehr neugierig, doch auf der anderen wusste sie auch,