Leider. Ich muss zurück, bevor sich die anderen womöglich um mich sorgen.«
»Niemand weiß, dass Sie hier sind?«
»Nein, weshalb auch«, lachte Kim.
»Sie sollten nicht alleine durch Frankreich gehen. Nicht Sie.«
»Was deuten Sie damit an, Pater? Droht mir etwa Gefahr, von irgendwoher?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Gräulichs Vorahnung, und jetzt auch noch die Andeutung des Priesters. Was soll das nur alles?, fühlte sie erneut Furcht aufkommen, und fröstelte.
»Es könnte gefährlich für Sie werden. Sehen Sie zu, dass immer jemand weiß, wo Sie sind, dass Sie jederzeit gesucht und gefunden werden können«
Sie schluckte. Ein dicker Kloß setzte sich in ihrem Hals fest. »Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
Er sah, wie die Angst in ihren Augen zu wachsen begann, und sie tat ihm leid. Noch derartig jung, und dennoch bereits in tödlicher Gefahr schwebend. Einer Gefahr, der, wenn alles dumm lief, die Frau noch nicht einmal würde entkommen können. Er senkte die Stimme: »Nein, wie ich schon sagte: Was ich Ihnen zu sagen habe, das lässt sich nicht zwischen Tür und Angel bereden. Es war mit Sicherheit kein Zufall, dass Ihre Füße Sie hierher, hierher zu St. Claire, geführt haben. Sie werden wiederkommen, Kim König, dessen bin ich mir sicher.«
Kims Augen weiteten sich; und neuerlich erkannte er ihre Angst darin. »Und Sie, Pater Pascal, werden Sie dann auch hier sein? Da sein, um meine Fragen zu beantworten? Um mir meine Angst zu nehmen?«, fragte sie, und musste sich zwingen, nicht ins Stottern zu kommen.
»Kim König, ich werde immer da sein, wenn Sie mich brauchen sollten. Doch nun sollten Sie gehen, bevor Ihre Freunde noch die Gendarmerie verständigen, aus lauter Sorge um Sie.«
»Ja, das sollte ich tun. Gute Nacht, Pater.« Sie reichte ihm die Hand, während sie einen Knicks vor ihm machte, und er ihre Hand ebenfalls ergriff.
Für einen Bruchteil fühlte sie die Wärme, die von dem Priester ausging, und irgendwie beruhigte es sie, auch wenn sie nicht zu sagen gewusst hätte, weshalb.
»Sie sollten sich ein wenig mit der Geschichte des Le Petites vertraut machen. Möglicherweise könnte es für Sie einmal von Nutzen sein.«
»Von Nutzen? Inwiefern?«
»Weil Sie nicht grundlos in Frankreich sind. Sie sind kein Tourist wie die anderen Touristen. Sie sind aus einem ganz anderen Grund hier in Paris, in Frankreich, auch wenn Sie es selbst vielleicht noch gar nicht wissen. Und jetzt müssen Sie gehen, denn der Morgen graut schon bald.« Sein Blick lag nachdenklich auf ihr. Seine Augen betrachteten sie aufmerksam. »Auch, dass Sie im Le Petite abgestiegen sind, kann kein Zufall sein!«
»Pater, ich …, wir …«, setzte sie an, doch er unterbrach sie.
»Nein, Kim König. Gehen Sie zurück in die Pension. Heute Nacht wird Ihnen nichts passieren. Sie haben in dieser Nacht den Schutz St. Claires, der Sie begleiten wird.« Er zeichnete mit seinem rechten Daumen die Form des Kreuzes auf ihre Stirn. Andächtig sagte er das Vater Unser auf. Danach entließ er sie auf ihren Heimweg.
Kim lief, ohne sich noch einmal nach der Kathedrale St. Claire oder nach Pater Pascal umzusehen, zurück ins Le Petite.
Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe hoch. Behutsam öffnete sie ihre Zimmertür.
Quentin lag immer noch da, wie sie ihn vor zwei Stunden verlassen hatte. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie weggewesen war.
Nur Nickel war weder ihr Gehen, noch ihr Kommen entgangen. Zum Zeichen dafür hatte er beide Male verhalten geknurrt.
11 – Morgenschmerz
Gräulich zog eine alte Taschenuhr aus seiner Jacke. Er drückte den kleinen goldenen Knopf und der Deckel der alten Uhr sprang auf. Nachdenklich sah er auf das Ziffernblatt. »Wo sie nur bleibt? Es ist gar nicht ihre Art unpünktlich zu sein.«
»Wer?« Kim verschwendete in diesem Augenblick keinen Gedanken an Zink. Sie wurde durch die Uhr abgelenkt, die sie anerkennend bestaunte. »Ein sehr schönes Teil.. Ein Erbstück?«
»Erbstück?«, wusste er nicht gleich, was sie eigentlich meinte. »Ach, die Uhr«, begriff er, und betrachtete sie. »Nein, die habe ich gestern gekauft, als ich auf der Suche nach einem geeigneten Bilderrahmen für Madames Portrait war.« Erneut sah er auf die Uhr. »Ich verstehe es nicht …, es ist so gar nicht ihre Art.«
»Wie bitte?« Jetzt war es an Kim, die nicht gleich wusste, wovon der Professor es hatte. Ihre Locken sprangen auf ihre Stirn, während sich ihr Blick fragend auf Gräulich richtete.
»Madame«, sagte er nur. »Ich verstehe nicht, wo sie so lange bleibt.«
»Sie wird verschlafen haben, Gräulich«, beruhigte Quentin ihn, der sich nichts weiter dabei dachte, dass Zink nicht pünktlich war.
»Hier, in Frankreich? Obwohl sie sich so sehr auf den Besuch des Louvre gefreut hat … Nein, verschlafen, das glaube ich nicht.« In seiner Miene lag die Sorge um Zink. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sie wollte sich doch auch auf die Suche nach einem echten Schmidt machen.«
»Ein echter Schmidt? Was soll das sein? Ein Künstler, dessen Werke auch im Louvre hängen?« Kim hatte noch nie etwas von ihm gehört, noch, dass sie dessen Werke kannte.
Gräulich lächelte, als er an Madames Begeisterung für diesen Maler dachte. »Ja, ein Maler. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass Schmidts Werke im Louvre aushängen. Meiner Meinung nach ist er dazu noch zu unbekannt, außerdem noch viel zu jung. Ungefähr Mitte sechzig. Zudem lebt er auch noch. Und meine ganz persönliche Meinung dazu ist, dass er bisher nur ein Hobbymaler aus Deutschland ist. Einer Stadt.« Er dachte nach. »Ich glaube Mannheim. Ja, er kommt aus der Universitätsstatt Mannheim, soweit ich weiß.« Wieder suchte sein Blick das Ziffernblatt seiner Taschenuhr.. »Sie müsste doch schon da sein, schon längst.«
»Professor, sie wird mit Nickel seine Morgenrunde laufen«, vermutete Kim, während Madame Le Blanc das Speisezimmer des Le Petites betrat. Sie stellte eine große Kanne frisch überbrühten Kaffees auf den Tisch. Das Frühstücksbuffet hatte sie bereits an einem langen Tisch, gleich rechts neben der Tür, angerichtet. Lächelnd sah sie die anderen an, während Sorbonne schwanzwedelnd auf Kim zurannte.
»Guten Morgen, ich hoffe Sie haben alle gut geschlafen.« Madame Le Blanc sah sich um. »Wie mir scheint, hat unsere Pariser Luft, einige von Ihnen schläfrig gemacht.« Ihr war sofort aufgefallen, dass sowohl Zink, als auch die Li Nola noch nicht mit am Tisch saßen. »Schade, eigentlich. Meine Sorbonne hätte sich ganz bestimmt gefreut, ein bisschen mit Madame Zinks Hund zu spielen.« Sie pfiff nach Sorbonne. Sofort sprang der Dalmatiner auf sie zu. »Komm, Sorbonne, gehen wir nach draußen, wer weiß, vielleicht begegnen wir dort deinem kleinen Cocker-Freund.« Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um. »Heute sollten Sie nicht ohne Regenschirm aus dem Haus gehen. Der Wetterbericht hat für den ganzen Tag Regenschauer angekündigt.« Sie blickte aus dem Fenster. »Dieser Sommer ist sehr verregnet. Bisher hat es fast den ganzen Juli geregnet, und es macht den Anschein, dass auch der August nicht besser werden wird. Entweder es regnet, oder es ist so heiß, dass man sich schon gar nicht mehr bewegen mag. Aber was soll man machen?« Das Wetter gefiel ihr nicht. »Das Wetter konnte es den Menschen wahrscheinlich noch nie recht machen. Und nun sollten Sie zugreifen, solange die Eier und Croissants noch warm sind.« Zusammen mit Sorbonne verließ sie den Speiseraum.
»Ich mache mir ernsthaft Sorgen um Madame. Auch, dass Evelyn noch nicht da ist.«
»Wer weiß, vielleicht sprechen sich die beiden auch gerade aus. Vergessen Sie nicht, gestern Abend sind die beiden nicht gerade im besten Einvernehmen auseinander gegangen«, erinnerte Kim an den Disput, den die beiden am Vorabend gehabt hatten.
Noch bevor Professor Gräulich antworten konnte, kam Madame Zink durch die Tür. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, mit Ausnahme einer kurzen rosafarbenen Zopfmusterstrickjacke. An ihrem linken Handgelenk trug sie eine breite