sah auf das verwitterte Schild des kleinen Landgasthauses. In abgeblätterten Buchstaben war das Wort Bremedelle zu lesen.
»Bremedelle, was dieser Name übersetzt, wohl bedeuten mag?«
Quentin ließ den Namen des Gasthauses in sich klingen. »Nichts, Schatz. Es wird einfach nur ein Name sein. Nicht alles muss eine Übersetzung haben. Wozu auch, Kim?«
»Es war nur so ein Gedanke, mehr auch nicht. Lass uns aussteigen und nachschauen, wie es innerhalb des Gasthauses aussieht. Vielleicht haben sie auch ein Gartenlokal mit dabei, so dass wir im Freien sitzen können.«
Sie durchschritten den kleinen, einfach eingerichteten Gastraum, und sahen ein Schild, das den Weg zum Gartenlokal auswies. Kurzentschlossen suchten sie sich dort einen Platz. Gleich darauf kam eine bäuerliche Kellnerin, Quentin vermutete, dass es die Wirtin selbst war, und fragte nach ihren Wünschen, während ihre roten Wangen glänzten, als hätte sie sie soeben frisch eingecremt.
Nachdem die beiden bestellt hatten, entfernte sich die mollige Frau dienstbeflissen. Es dauerte nicht lange und sie kam mit dem Gewünschten zurück. Während Quentin und Kim aßen, stand an einem anderen Tisch ein Mann, Mitte dreißig, auf und kam auf ihren Tisch zu. Mit einem entschuldigenden Lächeln sah er die beiden an. »Pardon, wenn ich störe, doch ich fühle mich in der Pflicht …« Ein Blick auf Quentins hochgezogene Augenbraue, ließ ihn verstummen. Besorgt betrachtete er Kim. »Mademoiselle, Sie wissen, wovon ich rede, nicht wahr?«
»Wie bitte? Was soll sie wissen? Wovon redet der Mann, Kim? Seid ihr euch schon einmal begegnet?« Quentin sah erstaunt von dem Fremden zu Kim, und wieder zurück zu dem Fremden.
»Nein, wir kennen uns nicht, Monsieur. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, antwortete Kim freundlich.
»Ach so ist das. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können«, kam es erleichtert über Quentins Lippen.
»Wie Sie meinen. Dürfte ich mich dennoch zu Ihnen setzen und Ihnen etwas über das Arkadenfest berichten?«
»Warum auch nicht. Oder Kim? Warum nicht einmal einen ganz normalen Gast an unserem Tisch haben. Ist doch etwas ganz anderes als den Platz immer mit einem Geist, oder gar einem Dämon teilen zu müssen«, flüsterte er Kim zu.
Sie nickte, lächelte dem Mann zu und bot ihm an, Platz zu nehmen.
Er nickte ebenfalls freundlich, fast erleichtert. Er setzte sich auf einen Stuhl und gab der Wirtin ein Zeichen ihm noch ein neues Glas Wein, wie auch für Kim und Quentin, zu bringen. Danach sah er Kim an. »Das Arkadenfest, es ist zweideutig. Zum einen bitten die Bauern darum, dass der Sommer ihnen einen ernteträchtigen Herbst bereiten mag. Es erinnert fast, aber auch nur fast, an das Erntedankfest. Doch das Arkadenfest kann auch ein Vorbote, ein Zeichendeuter, sein, wenn die richtigen Menschen an diesem teilnehmen«, erklärte der Fremde geheimnisvoll.
»Zeichendeuter? Was wollen Sie damit sagen, Monsieur?«
»Dass es Menschen gibt, die von einer Aura umgeben sind. Einer Aura, die nur für einige auserwählte Menschen sichtbar ist.«
»Und Sie wollen so ein Mensch sein? Ein Auserwählter.« Quentins Wangenknochen knackten. Konnten sie denn nirgendwo hinfahren, ohne dass sie jemandem begegneten, der ihnen nach dem Leben trachtete, oder der sie warnen wollte? Was war nur aus ihrem einfachen, normalen Leben geworden? »Einer von denen, die die Aura eines Menschen sehen können?«, kam es beinahe tonlos von Quentin.
»Ja, das bin ich. Ich kann die Aura Mademoiselles sehen. Ich spüre, dass ein Schatten der Vergangenheit sich an sie geheftet hat.«
»Oh nein! Wer? Was will dieser Schatten von mir? Und warum ausgerechnet ich?« Kim nahm das Glas Wein und trank einen gierigen Schluck. Ihre Finger zitterten, während sie sich eine Zigarette aus ihrem Etui holte. Der Fremde gab ihr Feuer, während er sie mit seinen dunklen Augen ansah.
»Weil Sie hier mit der Vergangenheit zusammengetroffen sind. Einer Vergangenheit, die seit mehr als einem Jahrhundert auf Sie gewartet hat.«
»Aber …« Kim war den Tränen nahe. Sie durchlebte im Bruchteil einer Sekunde erneut ihre Träume, hörte noch einmal Pater Pascals Warnungen. Und nun dieser Fremde. Auch er wollte sie warnen. Warnen vor dem Schatten der Vergangenheit. Doch was, wer, war dieser Schatten? Warum tauchte er ausgerechnet jetzt und hier in ihrer Gegenwart auf?
War das der Grund, weshalb sie nach Frankreich hatten kommen müssen, weil es hier einen Vergangenheitsschatten gab, der nur auf sie, Kim, gewartet hatte?
17 – Malcolm, der Zigeuner
Der Fremde lächelte sie beruhigend an. Mit leisen Worten, dass auch niemand von den Nachbartischen sie hören konnte, antwortete er: »Um Ihnen zu erzählen, worum und weshalb es sich bei dem Schatten handelt, brauchen wir etwas mehr Zeit als nur ein paar Minuten.«
»Wir haben Zeit, nicht wahr, Quentin. Wir können doch versuchen, in dieser Landgaststätte ein Zimmer zu bekommen und übernachten. Somit hätten wir Zeit genug, um einige Dinge zu besprechen.« In ihren Augen lag die Angst, aber auch die Hoffnung, dass der Fremde etwas wusste, um sie von ihren fürchterlichen Träumen, von denen ihr Verlobter bisher nicht die geringste Ahnung hatte, zu befreien.
Quentin blickte mit unglücklicher Miene vor sich hin. Er legte die Finger gegeneinander und dachte nach. Wie sehr hatte er sich auf einen Tag und eine Nacht mit ihr alleine gefreut. Und nun das. Warum hatten sie ausgerechnet heute auf diesen Fremden treffen müssen? Und warum hier in Frankreich? Und weshalb immer sie? Warum wurden sie wieder und wieder mit den Schrecken der Vergangenheit konfrontiert? Als er Kims bittende Augen sah, konnte er nicht Nein sagen, und so stand er auf, ging zu der molligen Wirtin an den Tresen und fragte nach einer Übernachtungsmöglichkeit.
Mit bedauerndem Gesichtsausdruck kam Quentin zurück an den Tisch. »Nichts zu machen. Alles ausgebucht. Die Wirtin sagt, dass es zurzeit des Arkadenfests, stets voll und ausgebucht ist. Tut mir leid, Kim.«
»Schade.« All ihre Enttäuschung lag in diesem einen Wort. Sie wollte, musste, mehr über diesen Vergangenheitsschatten herausfinden. Unbedingt!
»Ich könnte meinen Vater fragen. Vielleicht hat er eine Idee, wo sie heute schlafen könnten.« Der Fremde sah Kim aufmerksam an. »Ich glaube, dass es sehr wichtig für Sie wäre, etwas darüber zu erfahren. Immerhin ist es Ihr Leben, das in Gefahr ist.« Er stand auf, verließ, mit einer kurzen Entschuldigung auf den Lippen, den Tisch. Kurz danach war er wieder da. »Ich habe es geregelt. Sie können für heute Nacht mit zu uns kommen. Ich habe soeben mit meinem Vater telefoniert, habe ihm von Ihrem Problem erzählt, und er war sofort damit einverstanden, dass ich Sie mitbringe. Dabei fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Malcolm.«
»Malcolm? Malcolm, wie weiter?« Quentin war nicht begeistert von dem Vorschlag des Fremden. Zudem war er überzeugt, dass er auch in Kims Gesicht den Anflug von Zweifeln bemerkt hatte.
Der Fremde lachte, wobei er makellos weiße Zähne zeigte. »Nennen Sie mich einfach, wie es hier jeder tut: Malcolm, der Zigeuner. Das reicht schon.«
»Mir aber nicht. Ich, ich bin auch nicht nur Quentin, sondern Quentin Sommerwein. Und meine Verlobte heißt König. Kim König. Und Sie? Malcolm, wie?«
»Malcolm, der Zigeuner. Und mehr auch nicht.«
»Aber …«
»Mademoiselle, wozu ein Aber? Was machen Namen schon für ein Gewicht?« Er lachte erneut. Zu Quentin gewandt, sagte er: »Monsieur, und sollten Sie befürchten, dass ich Ihnen etwas zuleide tun wollte, glauben Sie, dass dann ein Nachname daran etwas verändern würde? Ich bitte Sie. Ich bin Malcolm, akzeptieren Sie es, so wie es ist.«
Quentin schluckte, beharrte jedoch nicht weiter auf den Nachnamen des Fremden. Immerhin machte es Sinn. Wenn er sie tatsächlich in eine Falle locken wollte, dann würde es am Ende auch nichts daran ändern, ob er ihnen einen Nachnamen genannt hätte oder auch nicht.
Sie tranken noch ein weiteres Glas Wein, danach zahlten