Günter Holschbach

Raumstation ISS


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Einflussnahme. Sofort verscheuchte er ihn wieder. Er hatte logisch und konstruktiv sein Hirn einzusetzen. Solche Ideen können niemand weiterbringen, der eine Abteilung von fast hundert Mitarbeitern leitet!

      Zum wiederholten Male ging Frank alle für ihn in Betracht kommenden Möglichkeiten für das Verschwinden von John durch. Ausstieg aus der Luke im selbstmörderischen Alleingang? Unmöglich. Die Luke war von innen verschlossen und die Öffnungsmechanismen konnten von außen nicht betätigt werden. Bewusster Mord? Jemand öffnet die Luke und stößt John hinaus und verschließt die Luke wieder. Wer von den drei Besatzungsmitgliedern wäre dazu in der Lage? Und wenn es dazu gekommen wäre, dann hätte sich John wohl bestimmt gewehrt. Es sei denn, er war aus irgendeinem Grund zuvor ohne Bewusstsein. Außerdem hätte der- oder diejenige vorher sämtliche elektrische und elektronische Schaltkreise unterbrechen müssen, um keinen Alarm auszulösen bei der Öffnung der Druckkammer und der Luke. Das alles schien für Frank weit hergeholt. Wo lag der Gedankenfehler?

      Ashley hatte den Raum fast geräuschlos betreten.

      „Frank, Sie denken daran, dass heute Mittag ISS-Familientag ist?“

      Familientag, den konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Der Tag in der Woche, an dem die Astronauten ausführlich mit ihren Familien reden konnten. Es wurden Telefonverbindungen geschaltet von der ISS jeweils zu den Familien der Astronauten. Bis dahin war es aber noch lange hin und bestimmt würden sich die Umstände bis zu diesem Zeitpunkt geklärt haben.

      „Daran habe ich gar nicht gedacht“, räumte Frank ein. „Danke für die Info. Ashley, wenn wir in den nächsten zehn Minuten, also bis fünf Uhr, keinen Erfolg haben, so muss der stille Alarm auf Stufe 2 ausgeweitet werden. Beginnen Sie bitte mit den Vorbereitungen...“

      „Die habe ich bereits weitgehend abgeschlossen“, entgegnete Ashley lächelnd.

      „Danke“, sagte Frank kurz. Er bewunderte diese Mrs Winters, die in hektischen und kritischen Situationen souverän reagierte und dabei zusätzlich eine beruhigende Atmosphäre ausstrahlte, mit der sie ihre direkte Umgebung anzustecken schien.

      Die digitale Uhr auf Franks Schreibtisch zeigte 3:15 Uhr. Ein Blick auf den Bildschirm bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen: Die ISS war in allen Bereichen grün markiert. Frank hielt es nicht mehr aus in seinem Sessel.

      Im Kontrollzentrum sah er von weitem, wie Branden an seinem Arbeitsplatz den Kopf in den Händen stützte und völlig ratlos auf seinen Bildschirm blickte. Die Mitarbeiter rechts und links neben ihm saßen an den Terminaltischen und blätterten in Unterlagen.

      Frank blieb neben Branden stehen. Dieser schaute müde zu ihm auf.

      „Was sollen wir jetzt tun? Ich weiß nicht mehr weiter.“

      „Ashley wird jetzt in diesen Minuten Alarmstufe 2 auslösen. Branden, gehen Sie in den Quartiertrakt und schlafen Sie sich aus, sobald die Ablösung hier ist. Sie haben sehr viel geleistet. Mehr können Sie jetzt nicht tun. Das Gleiche gilt auch für Sie beide.“ Damit schaute er die Ingenieure links und rechts neben Branden an.

      „Danke Mr Random, aber schlafen können wir bestimmt nicht“, meinten beide übereinstimmend. „Wir werden zunächst hierbleiben…“

      „Das gilt auch für mich“, bemerkte Branden.

      Franks Handy summte.

      „Ja, Ashley?.“

      „Mr Spoks ist auf dem Weg in Ihr Büro.“

      Bill Spoks war Franks Vorgesetzter. Im Notfallplan stand, dass er bei Alarmstufe 2 zu benachrichtigen war und er dann ins Raumfahrtzentrum zu kommen hatte.

      Frank war gerade dabei, sich in seinem Sessel niederzulassen, als die Tür zu Ashleys Büro aufgerissen

      wurde. Mit großen und schnellen Schritten durchquerte es Bill Spoks, ohne die Sekretärin zu bemerken, und stürmte durch die offenstehende Verbindungstür in Franks Raum.

      Bill Spoks war ein Südstaatler. Mit seiner Größe von über einsneunzig und seiner oft grimmigen Mine konnte er Respekt und manchmal auch Furcht einflößen. Wenn er auf Stabskonferenzen mit seiner dunklen Stimme lospolterte, konnte er sich stets der Aufmerksamkeit der anwesenden Ressortleiter gewiss sein. Er hatte klare, nachvollziehbare Gedanken und großes Durchsetzungsvermögen. Man schätzte ihn um die fünfzig. Nicht zuletzt war er aufgrund seiner schlanken, hochaufgerichteten Gestalt, den dunkelbraunen Augen und den schwarzen, an den Schläfen leicht ergrauten Haaren, der Schwarm vieler Frauen. Die meisten von ihnen wussten, dass er sehr galant sein konnte und wann immer er sich der Aufmerksamkeit der Damenwelt bewusst war, versprühte er Charme.

      „Was soll das Frank. Die Party lief gut. Warum holen Sie mich an meinem freien Tag aus der besten Stimmung?“, legte er los und warf sich unaufgefordert in den Besuchersessel gegenüber von Frank. „Also, was gibt’s?“

      Frank stellte fest, dass Bill wohl nicht mehr so ganz nüchtern war und blieb gelassen. Er kannte seinen Chef. Ruhig schaute er ihn an und sagte provokant: „John ist verschwunden!“

      „Wenn hier irgendein John verschwunden ist, dann hätten Sie mir das schlimmstenfalls am Montag in meinem Büro sagen können. Frank, sind Sie betrunken? So kenn ich Sie nicht!“, donnerte Spoks.

      „Ich meine John Hudges auf der ISS.“ Frank blieb ruhig.

      „Sie meinen John auf der ISS?“, wiederholte Spoks genervt.

      Frank nickte. Zuerst musste bei Bill Spoks die Luft raus. Dann konnte man mit ihm reden.

      „Frank, haben Sie schlecht geschlafen? Ist Vollmond? Verdammt, was ist hier los? Spinnt ihr alle hier?“

      Ashley hatte Franks Büro mit einer Tasse Kaffee betreten. Spoks schaute sie an, als würde ein Geist vor ihm stehen.

      „Ashley? – Wo kommen Sie denn her? Seid ihr alle durchgeknallt?“

      „Nein, Mr Spoks“, erwiderte sie. „Trinken Sie ein paar Schluck Kaffee. Der wird Ihnen gut tun.“

      „Ich brauche keinen Kaffee!“, herrschte er sie an und nahm dankbar die Tasse entgegen. Frank musste trotz der ernsten Situation grinsen.

      „Also“, sagte Bill nun weniger laut, „schießen Sie los!“

      Frank berichtete in knappen präzisen Sätzen den Hergang bis zum derzeitigen Status. Bill war verstummt und hörte konzentriert zu. Dabei trank er in kleinen Schlucken den Kaffee aus und stellte die Tasse auf den Beistelltisch.

      „Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee“, fragte Ashley, die im Vorzimmer gehört hatte, dass Bill seine Tasse abgestellt hatte.

      „Ja, gerne Ashley“, erreichte sie Bills Stimme nun in normaler Lautstärke und versöhnlichem Ton.

      Als Frank seinen Bericht beendet hatte, beugte sich Bill in seinem Sessel nach vorne und überlegte.

      „Und es gibt an dieser Geschichte keine Zweifel?“ „Nein, keine Zweifel.“

      „Und wie gehen wir jetzt vor?“ Bill hob den Blick und schaute Frank an, während er seine zweite Tasse Kaffee von Ashley entgegennahm.

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Frank mit einem leichten

      Seufzer. „Ich weiß es wirklich nicht. Allmählich glaube ich an eine andere Macht. Dabei bleibt die Frage: Ist sie irdischer Natur oder kommt sie aus dem Weltraum? Beides klingt paradox...“

      „Hat Alexej oder jemand anderes einen Situationsbericht an die Russen weitergegeben?“ fragte Bill.

      „Nein, es ist bisher keine Silbe nach draußen gegangen. Auch nicht von der ISS“, antwortete Frank.

      Bill stand schwerfällig von seinem Sessel auf: „Ich werde den Part mit den Russen übernehmen. Das ist wohl meine Aufgabe. Um sechs Uhr werden die bekanntlich Alexej rufen. Prima von ihm, dass er bis jetzt dicht gehalten hat.“ Es folgen präzise Anweisungen von Bill: „Ashley soll den inneren Führungsstab aus den Betten werfen. Die sollen um 5:15 Uhr einschließlich Ihnen im Besprechungsraum 3b sein. Frank,