Dr. Wolfgang Lipps

Das Leben findet während der Fahrt statt


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angstfreien Unbekümmertheit, bis es eines Tages einen tödlichen Unfall gab. Da erst schaffte es die S-Bahn, Fenster einzusetzen, und das machte unserem Spuk ein Ende. Zudem machte ich zunehmend meine Schularbeiten erst in der S-Bahn zwischen Savigny-Platz und Heerstrasse, also über fünf Stationen, und hatte zu Klettereien keine Zeit mehr.

      An zwei Schulkinder-Delikatessen erinnere ich mich noch deutlich: Es gab auf dem Schulweg einen Laden, wo man Brausepulver in Tüten kaufen konnte. Das, wahrscheinlich ein grausames karzinogenes Chemieprodukt, haben wir mit grossem Genuss aus der hohlen Hand gefuttert. Und im Winter gab es auf meinem Schulweg vor dem Bahnhof Savignyplatz eine Bude, die für einige Pfennige Brühe in dicken weissen Tassen verkaufte. Die war total durchsichtig und unten auf dem Tassenboden wuselten ein paar ganz kleine Krümel herum, aber sie war heiss und schmeckte, jedenfalls in meiner Erinnerung, ganz köstlich. Wahrscheinlich war auch sie ein sehr merkwürdiges und sicherlich weitgehend fleischfreies Produkt. Wenn ich allerdings die heutige Presse zum Thema gesunde Ernährung verfolge, kommt mir das alles noch paradiesisch natürlich vor angesichts dessen, was uns die Nahrungsmittelchemie heute zumutet.

      Alt Heidelberg

      Rückblickend muss ich sagen, dass meine Studentenzeit zur schönsten Zeitspanne meines Lebens gehört, und aus dieser noch vor meinen Aufenthalten in Berlin, Paris, London und Den Haag die Zeit in Heidelberg. Dieser unter den alten und romantischen Universitätsstädten vielleicht schönsten und liebenswertesten Stadt gehören meine liebsten Erinnerungen. Hier fand das Leben ganz besonders turbomässig während der Fahrt statt. Wir veranstalteten die verrücktesten Studentenulks wie die Gangstershow, die Diplomatenshow und den Volponischen Kongress, nur unterbrochen von eher dämlichen Standardscherzen wie Waschpulver im Alten Brunnen. Wir umschwärmten die schönsten Mädchen von der Dolmetscherschule in Germersheim bis zur Haushaltsschule in Ludwigshafen. Mindestens eine grosse und unsterbliche Liebe blühte immer in Heidelberg. Meine hiess Heidi und wird noch eine blutige Rolle spielen.

      Sie werden sehen.

      Nur studiert haben wir etwas zurückhaltend; glücklicherweise hatten wir damals so zwischen 1955 und 1965 noch überhaupt keinen Erfolgsdruck – meine Freunde und ich jedenfalls nicht – und dachten mit nicht einem einzigen Gedanken daran, dass wir vielleicht im späteren Leben mal mit irgendwas Geld verdienen müssten. Geld verdienen fiel uns damals außerdem leicht. Ich spielte mit meiner Band eben auch verjazzte Tanzmusik gegen Geld, und von Zeit zu Zeit führte ich amerikanische Touristen und erklärte ihnen, auf dem Heidelberger Schloss habe Luther die Bibel übersetzt – wenn sie das bitte mal in Ihren Baedeckern korrigieren wollten – yes Maam, takes an insider to tell you all these secrets, believe you me!

      Gelegentlich, wenn er gerade Zeit hatte, stellte ich meinen hageren aristokratisch aussehenden Freund Dieter Umbach dabei als „his Highness the Duke of Heidelberg“ vor, der den Touristen dann „the parental castle“ erklärte, dessen Renovierung, insbesondere des leider von den „Frenchmen“ gesprengten Pulverturmes, das ganze Geld der adligen Familie verschlänge – das gab Höllen-Trinkgelder, die wir brüderlich bei Livio in 15 Kugeln Schokoladeneis oder im „Seppl“ in Bier umsetzten. Der Mann ist heute, wenn er nicht bereits emeritiert ist, wohlbestallter Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Er hat ein Buch herausgegeben, und einen Artikel darin verfasst, das unter dem Titel „Das Wahre Verfassungsrecht – zwischen Lust und Leistung“ vorgibt, eine Gedächtnisschrift für F. G. Nagelmann zu sein, einen Verfassungsrechtler, den es nie gab. Das Buch ist für jeden Juristen ein Muss und ein Quell steter Heiterkeit, in welchem Umbach unter anderem den erleuchtenden Satz geprägt hat:

      „Die Basis ist das Fundament der Grundlage“.

      Schön gesagt, finde ich, und so wahr – wir begegnen ihm später noch einmal..

      Einer der berühmtesten deutschen Jazzkeller war damals das „Cave 54“, meine Wiege als Klarinettist und ständiger Anlaufpunkt so toller deutscher Jazzer wie Igel (Klarinette und Sopransaxofon), Fritz Hartschuh (Vibraphon) oder Klaus Doldinger und und und… Aber auch nicht wenige amerikanische Studenten erschienen immer mal wieder im Cave, die Trompete in einem Küchenhandtuch unter dem Arm, und swingten, dass uns die Ohren wegflogen. Wenn in Frankfurt dann Norman Granz sein jährliches Jazzkonzert gab, verirrten sich regelmässig unsere Idole nach Heidelberg, und so konnte ich, ohne nach New Orleans zu müssen, immer wieder mit Leuten spielen wie Louis Armstrong, Pee Wee Russel, Sidney Bechet, den ich nach Jahren in Paris wiedertraf, Jack Teagarden, Barney Bigard, Edmond Hall … you name´em we got´em!

      Einer unserer Starpianisten war Ludy, der später in Berlin und noch später in Mallorca, während meiner Anwaltszeit, ein grosser Immobilienvertreiber wurde, und damals in Heidelberg eine gelegentlich erforderliche knochentrockene Rechte schlug. Die, wenn sie eben gebraucht wurde, von unserem Freund „Bomber“ unterstützt wurde, der bei jedem Wetter im Ruderleibchen im Cave sass und trank und der einen VW Käfer mit einer Hand anheben konnte, wenn man die Räder wechseln wollte. So etwas habe ich später nur noch bei meinem Freund Hansi gesehen, dem Berufsjager aus den Salzburger Bergen, den wir auch noch kennenlernen werden. Der dritte, ein eleganter Linksausleger, war der hübsche 1,88 grosse Ägypter Atif, ein Traum der deutschen Jungfrau, der eigentlich Sport studierte, dann nicht mehr nach Hause zurückkonnte oder vielleicht wegen des Militärdienstes nicht wollte und deshalb dann eine vielbesuchte dufte Kneipe aufmachte.

      Sie sehen, ich war ziemlich sicher und beschützt. Nicht dass ich das gebraucht hätte, aber es war ein gutes Gefühl, so smarte Freunde zu haben. Außerdem war Ludy der einzige Mensch, der einen massgeschneiderten ganzen Jeansanzug besass, ein unerhört elegantes Teil. Wann immer ich eine besonders aufregende Braut originell anmachen wollte, lieh ich mir diesen Anzug – der wirkte dann von ganz allein.

      Sonst gab es immer wieder die Gelegenheit, sich die eine oder andere hübsche Frau im Cave mit der Klarinette ein zwei drei Stunden lang ins Bett zu spielen. Man müsste Klavier spielen können, wer Klavier spielt hat Glück bei den Fraun! Ok, aber trag´ mal immer ein Klavier mit Dir rum. Da ist Klarinette schon einfacher. Gelegentlich wachte man dann morgens auf, drehte sich stöhnend zur Seite, fuhr empor und dachte entsetzt: „Um Gottes Willen, wer ist SIE denn??“. Aber das passierte selten genug.

      Da ich nie vor zwei Uhr morgens ins Bett kam, begann der Tag regelmässig damit, dass ich so um 11:00 ins Livio ging und 15 Kugeln Eis ass. Dazu 3 Tassen Kaffee, und der Tag konnte losgehen. Vielleicht lag irgendwas an im Heidelberger Kreis, meiner studentischen Verbindung. Die war, vor meiner Zeit gleich nach dem Krieg, eine Fortsetzungsverbindung des alteingesessenen Corps „Saxo Borussia“ gewesen, als die nach dem Kriegsende weiter studierenden Kriegsteilnehmer es ausgesprochen albern fanden, Mensuren zu schlagen, nachdem sie gerade mit Gottes Hilfe und den eigenen Reflexen grösseren Verwundungen im Felde entgangen waren.

      Aber wie immer bei deutschen Vereinen gab es Unstimmigkeiten – nach einigen Jahren wollte die Mehrheit der Alten Herren, dass das Fechten wieder eingeführt werde, und anstatt sich das herrliche Verbindungshaus der Sachsenpreussen unter den Nagel zu reissen, was wahrscheinlich möglich und jedenfalls mein Petitum gewesen wäre, zog die Aktivitas aus und nannte sich fortan „Heidelberger Kreis“. Nichtsdestotrotz genossen wir unter den Heidelberger Verbindungen historisch begründet ein hohes Ansehen und wurden zu allen Festen derselben eingeladen.

      So auch ich in den Semestern, in denen ich die Ehre hatte, dem Heidelberger Kreis als damals traditionell noch so genannter „Erstchargierter“, also Vorsitzender, anzugehören – Eierschalen der Geschichte!

      Liebe und das leichte Gewerbe

      Bevor die Zugehörigkeit zum Heidelberger Kreis dazu führte, dass ich dennoch eine im wahrsten Sinne des Wortes „schlagende Verbindung“ herstellte, muss ich über einen typischen Studentenwettbewerb berichten, was ich umso lieber tue, als ich den häufig gewann. Damals fanden wir natürlich Mädchen, Frauen, Jungfrauen, Damen, was immer, einfach toll, und die damals noch nicht so harten Anforderungen des Studentenlebens gaben uns die Gelegenheit, den Objekten unserer Begierde auf mannigfache Weise nachzustellen.

      Besonders sportlich war es, attraktive Damen des horizontalen Gewerbes kostenfrei zu verführen.

      Jeder