Dr. Wolfgang Lipps

Das Leben findet während der Fahrt statt


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testen, wie schnell die Feuerwehr irgendwo ist, zum Beispiel bei einem Feuer. Axel fand das auch erhebungswürdig.

      Und deshalb sassen wir am oberen Ende der Herchenbachstrasse in Baden-Baden, Axel mit der Stoppuhr in der Hand, und warteten. Wir waren inzwischen guter Hoffnung, denn eine alte Vettel hatte im ersten Haus soeben aus dem Fenster geguckt, „huch, ein Feuer“ gerufen, und war ins Zimmer zurückgeeilt. Das war kurz vor dem Moment, in dem Axel den Knopf der Stoppuhr drücken sollte.

      Ich fand das eigentlich unwissenschaftlich, denn wir konnten damit natürlich den genauen Zeitpunkt des Alarmanrufes nicht präzise festlegen. Aber wir kamen überein, dass man mit der natürlichen Geschwindigkeit einer alten Vettel vom Fenster zum Telefon zuzüglich der üblichen Sprachverzögerung der badischen Mundart ganz gut rechnen konnte. Also hatte Axel, als sie ins Zimmer zurückgesaust war, die Stoppuhr hochgehalten und folgendermassen gesprochen; er war einfach als Sohn eines badischen Landarztes in solchen Dingen erfahrener als ich als Berliner Junge:

       Ach Gottsche wo is dann jetzt das Telefon do brennt die Wiesn glab i o lieber Monn o lieber. Alla gottseidank do isses. Wie jetzerdle – äh, 110, glaab i. Oder?

       Ja des klappt - alla Sie hier is die Frau Mechels do brennt die Wies die trockene kommeseschnell…, wie? Ei die Frau Mechels. Ach so! Ha, Herchebachstross 7 in Bade Bade, ja ja also komme Sie? Gut.“

      Diesen wahrscheinlichen Verzögerungseffekt hat Axel eingerechnet. Nach genau 7 Minuten erschien die Baden-Badener Feuerwehr mit 3 Wagen; die Wiese brannte schon ganz nett. 5 Minuten später kamen zwei weitere Wagen und mehr C-Rohre. Das Feuer breitete sich aus. Nach weiteren 6 Minuten erschien die Gernsbacher Wehr mit 4 Wagen, 5 Minuten später eine aus Neuweiher mit 2 Wagen. Die mussten die angrenzenden Häuser unter Wasser setzen, weil die Wiese zunächst nicht zu bändigen war und der Brand inzwischen seine eigene Windkraft entfachte – ein Phänomen, das wir als vorher nicht bedacht, aber für die Zukunft höchst bedenkenswert sofort registrierten.

      Inzwischen waren mehrere Polizeifahrzeuge eingetroffen, das technische Hilfswerk und die Malteser und die Johanniter und die Presse.

      Axel und ich verbuchten die Aktion gerade als grossen Erfolg, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um und gewahrte im Lichte der immer noch eindrucksvoll brennenden Wiese meinen eingeheirateten Grossvater, den Herrn Pfarrer Ippach.

      Er sah mich ernst und durchdringend an, eine alte Masche von ihm, er kiekte immer so, und fragte, mit Seitenblick auf Axel:

      „Habt Ihr mit der Wiese da was zu tun???“

      Und so blickte ich ihm treuherzig in´s verschwommene blaue Auge und fragte zurück:

      „WELCHE WIESE?“

      Da, sagte Axel später, war ihm das erste Mal klar, dass ich jedenfalls mal Rechtsanwalt werden würde.

      Eine bedeutende Grossmutter

      Damit haben wir also schon kurz meinen Grossvater kennengelernt, der, was Sie nicht verwundern wird, der Mann meiner Grossmutter war, aber von allen nur „der Karl“ oder allenfalls „der eingeheiratete Grossvater“ genannt wurde – denn meine Grossmutter war eine geborene von Heyl (geschiedene von Königsmarck und Verwitwete von der Planitz, um vollständig zu sein). Der Karl galt als Mesalliance, nicht standesgemäss. Denn die von Heyls galten weithin als „vom wilden Baron gebissen“, was andeuten soll, dass sie sich auf ihren Adelstitel ganz schön was zugute taten. Da passte der Pfarrer Karl Ippach aus einer Essener Arbeiterfamilie nicht so richtig rein.

      Der Karl

      Der Karl merkte das sehr wohl, denn eines seiner geflügelten Worte zu meiner Grossmutter, die Alice hiess, aber Sela genannt wurde, war: „Wenn einer von uns beiden stirbt, zieh´ ich zurück nach Essen“. Das war ihm allerdings, wie an dieser Stelle vorauseilend gesagt werden muss, nicht vergönnt, denn mit den kryptischen Worten „lasst alle Hoffnung fahren“ verstarb er lange vor meiner Grossmutter; die bemerkte danach oft, wie sehr sie sich danach sehne, alsbald im Himmel mit dem lieben Karl vereint zu sein – deutete sich aber eine leichte Grippe an, so bemühte sie sofort alle erreichbaren medizinischen Kapazitäten, um das gewünschte Wiedersehen so effektiv wie möglich zu verhindern.

      Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wahrscheinlich, soweit sie das konnte, den Karl wirklich geliebt hat - ausser Max von der Planitz, ihrer ganz großen Liebe, aber auf den komme ich noch. Nach seinem Tod hatte sie aus gesellschaftlichen und Standesgründen einen Herrn von Königsmark geheiratet, aber sich alsbald, weil er ziemlich proletenhaft war, wieder von ihm getrennt und ihn mit einem Landgut abgefunden. Danach erlag sie dem religiösen Eiferertum des jungen Pfarrers Karl Ippach, der, ein massiger dynamischer Gottesmann nahezu lutherischen Wesens und Aussehens, sie, die ebenfalls tief religiös war (wovon ihr selbstverlegtes Büchlein „Lichtstrahlen aus Gottes Wort“ Zeugnis ablegte) offenkundig im Sturm eroberte.

      Das hatte ein psychologisch ausserordentlich interessantes Nachspiel. Er war damals verheiratet mit einer Amerikanerin, genannt „Maus“, als er der stolzen, sehr schönen, sehr eindrucksvollen und zudem noch sehr reichen geschiedenen Gräfin Königsmarck, ehemaliger Hofdame der Markgräfin von Baden, begegnete und verfiel, sich hurtig und unter Bruch seines Versprechens, dass diese Ehe nur der Tod scheiden solle, von ihr trennte – für einen tiefgläubigen Gottesmann ziemlich happig. Wir alle, will heissen meine Verwandten und Bekannten, waren immer der, sicherlich stark verkürzenden, Meinung, der Karl habe das letztlich alles des „schnöden Mammuts“ wegen getan. Denn plötzlich flogen ihm nicht nur in einer hochherrschaftlichen Villa mit weiterem Immobilienbesitz, und schönem Mercedes mit Chauffeur vor der Tür die gebratenen Tauben täglich in den Mund, sondern die Sela baute ihm sogar eine eigene Kirche, als er aus der Landeskirche, mit der er schon vorher auf theologischem Kriegsfuss weswegen auch immer stand, austrat.

      Diese eigene Kirche ist die in Baden-Baden stadtbekannte kleine zauberhafte „Christuskapelle“ gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche, heute eine Methodistenkirche, nachdem der Karl und meine Grossmutter sie altersbedingt verschenkt hatten.

      Das psychologisch Interessante ist nun, dass wir alle glaubten, er habe durch die Scheidung von Maus und den Drang zum Geld meiner Großmutter seinen Glauben verraten und dafür büssen müssen. Denn er wurde irgendwann, die Details wurden verschwiegen, so psychisch gestört, dass er zeitweilig in eine Anstalt eingewiesen werden musste. Danach war er merkwürdig. Auf der Strasse sprach er Leute an, fragte sie, ob sie schon zu Gott gefunden hätten, und wie denn so ihr Sexualleben sei. Zur Predigt fuhr er im chauffeurgelenkten Mercedes zur Christuskapelle. Dort hielt er mit vom Frühstück noch vollem Mund vor der kleinen Gemeinde der von ihm gegründeten „evangelischen Stadtmission Baden-Baden“, Alte und sozial Benachteiligte und einige unbeirrbare Ippach-Fans, eine Predigt, die meist wörtlich von einer Bodelschwing´schen Predigt abgekupfert war und den Armen Enthaltsamkeit predigte, liess für Brot für die Welt sammeln, und fuhr im Mercedes nachhause zu einem von der Köchin Fräulein Frei hervorragend gekochten 3-Gänge-Menue.

      Nachmittags lud er uns immer mal wieder, also meine Großmutter und mich und manchmal, wenn er da war, auch meinen Freund Axel zum Kaffee nach Bad Herrenalb ein. Der Chauffeur fuhr uns dorthin. Nach dem Kaffee zerrte der Karl an einem goldenen Kreuz, das aus seiner Brusttasche hing, einen kleinen lila Samtbeutel hervor und förderte daraus neben Hosenknöpfen und spanischen Peseten auch die Kollekte des Morgens an´s Tageslicht, die dann, in weiter Auslegung des Wortes „Brot für die Welt“ in „Schwarzwälder Kirschtorte für seine Gäste“ investiert wurde.

      Das also war, in kurzen Worten, der Karl – wenn man die Heyls kennt, und dazu kommen wir jetzt, versteht man, warum er als Mesalliance galt.

      Die Familie von Heyl

      Ich schildere sie kurz, denn sie ist ein wunderbares zeitgeschichtlich bedeutendes Familiengebilde, eine Art Buddenbrocks der rheinischen Kultur, voll von bewundernswerten Menschen. Man kann auch sagen, eine oder sogar mehrere verwobene Geschichten vom Aufstieg und Fall einer Familie und ihres, so kann man