Vera Sterndorf

Wen die Vergangenheit trifft


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hatte, weil er sich dort am sichersten fühlte. Und er sagte, dass man an der Front im Dunkeln niemals rauchen dürfe, weil das Glühen der Zigarette dem Feind verrate, wo er die Stirn treffen könne. Ich war ja noch klein, keine zehn Jahre alt. Daher verstand ich von all dem, was er erzählte, nur wenig wirklich. Doch es bestätigte mich in meiner Meinung, dass mein Vater etwas ganz Besonderes war.

      Ich war sicherlich kein einfaches Kind gewesen. Wenn mir etwas nicht behagte, bekam ich regelrechte Tobsuchtsanfälle. Einmal riss ich meinem Vater den Hut vom Kopf und warf ihn vor die Straßenbahn. Warum, weiß ich nicht mehr. Der Hut war kaputt und mein Vater zornig, doch er schlug mich nicht. Das tat er nie.

      Ich glaube, den ersten tieferen Kratzer bekam unsere Beziehung, als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Damals brachte ich einen Pudel mit, als ich von einem Ausflug mit meiner Mutter heimkehrte. Wir waren in der Stadt unterwegs gewesen und dabei an einer Zoohandlung vorbeigekommen. Im Schaufenster hatte ich diesen Hund gesehen und meiner Mutter lautstark erklärt, dass ich ihn unbedingt haben wolle. Vermutlich hätte sie mir sogar einen Löwen geschenkt, wenn ein solcher im Angebot gewesen wäre und ich darauf bestanden hätte. So aber war es bloß ein Pudel.

      Schon als er bezahlt war, hatte ich jedes Interesse an dem Tier verloren. Als ich mit ihm nach Hause kam, fragte mein Vater bloß: »Was willst du damit?« »Weiß nicht.«

      Er schaute mich lange an und sagte nichts. Fortan gehörte der Pudel zum Buchladen und wurde mit der Zeit zu Vaters bestem Freund. Ich glaube, er nannte ihn Heinrich, nach Heinrich von Kleist.

      Als ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, begann die Entfremdung zwischen uns unübersehbar zu werden. Ich ließ mir die Haare bis zur Schulter wachsen, immerhin waren wir schon in den siebziger Jahren. Zudem verachtete ich weder einen gelegentlichen Joint noch gute Rockmusik und ging in einem Bademantel, den ich auf dem Flohmarkt für fünfzig Pfennig erstanden hatte, zur Schule und zu Demos.

      Zu Hause ließ ich mich nur noch unregelmäßig blicken. Wenn ich dann mal kam, gab es meist Streit. Mein Vater verlangte, dass ich mich an »die Ordnung« hielt, ankündigte, wohin ich für wie lange gehe, und zur verabredeten Zeit nach Hause kam. Selbstverständlich hatte er auch etwas gegen lange Haare, Joints, Demos, Rockmusik und Bademantel außerhalb des Schlaf- oder Badezimmers.

      Eines Tages erklärte ich ihm nach einer besonders hitzigen Diskussion, die wir zum x-ten Mal zu diesem Thema geführt hatten, er rede wie ein Nazi. Ordnung, Gehorsam, Sauberkeit und Fleiß seien schließlich auch die Tugenden der Nazis gewesen, die sie sogar über die Tore ihrer Konzentrationslager geschrieben hätten. Und überhaupt seien ja alle in seiner Generation Nazis gewesen, wenn sie nicht Opfer waren.

      Es war das erste und einzige Mal, dass mein Vater völlig außer sich geriet. Ich hatte mich bereits von ihm abgewandt, um hochmütig das Wohnzimmer zu verlassen, wie ich es immer am Ende einer solchen Debatte tat. Da packte er einen schweren Kerzenständer aus Messing, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er riss ihn in die Höhe und lief mir nach. Dabei brüllte er: »Ich bin kein Nazi, ich war nie in der NSDAP gewesen und habe sie auch nie gewählt.«

      Ich drehte mich zu ihm um und sah, wie er den Kerzenständer mit beiden Händen hochhielt, bereit, ihn mir auf den Kopf zu schlagen. Ich sagte nichts. Stattdessen schaute ich ihn an, mit einem Maß an Verachtung, zu dem einen wohl nur die Arroganz der Jugend befähigt.

      Als er meinen Blick sah, senkte er zunächst die Arme und dann die Augen. Getroffen wandte er sich ab und ging zur Garderobe. Dort nahm er Hut und Mantel und lief mit Heinrich hinaus in die Nacht.

      Ich hingegen fühlte mich als Sieger. Endlich hatte ich dem Alten die Wahrheit gesagt, die er, wie alle anderen seiner Generation, verdrängt hatte. Und ich hatte eine Macht gespürt, die ich zuvor noch nie empfunden hatte. Eine Macht, geboren aus der Scham eines anderen, gezeugt durch dessen Schuld und Verantwortung. Zugleich ergriffen mich Stolz und das beglückende Gefühl, auf der Seite der Wahrheit zu stehen, also auf der richtigen Seite.

      Natürlich spielte ich weiter auf der Naziklaviatur. Es war ja so einfach, diese moralische Macht auszuspielen. Ich hatte, wie fast alle Kinder und Jugendlichen, ein unglaubliches Gespür für die Schwachpunkte des eigenen Vaters und keinerlei Scheu, diese auszunutzen. Das galt hier erst recht, da es sich um etwas handelte, was im Bereich des Schattens lag. Es bereitete mir boshafte Freude, das Verdrängte vermeintlich ans Licht zu zerren, den Finger in Wunden zu stecken und mich dabei gut und gerecht zu fühlen. Ich zog sogar nachts gelegentlich mit Freunden los, um an Wände und Türen »Ihr seid alle Nazis!« zu sprühen.

      Als ich dann endlich das Abi in der Tasche hatte, war die Beziehung zwischen mir und meinem Vater mehr oder weniger am Ende. Beinahe jedes Thema war so vermint, dass ein Gespräch meist schon nach wenigen Sätzen explodierte. Und so schwiegen wir. Ich zog aus, ging nach Tübingen, um zunächst Politik- und Sozialwissenschaften zu studieren, bevor ich zu Jura wechselte. Anfang der achtziger Jahre landete ich in Berlin, wo ich blieb und schließlich Staatsanwalt wurde.

      Mein Vater lebte weiterhin in Freiburg, in der kleinen Dreizimmerwohnung, in der ich aufgewachsen war, nah am Annaplatz. Den Buchladen schloss er erst, als er fünfundsiebzig wurde. Inzwischen hatte er die dreiundneunzig überschritten und fühlte sich nach wie vor gut, wie er mir bei unseren Telefonaten stets versicherte.

      *

      Es war früher Nachmittag, als ich in Freiburg ankam. Die Sonne schien golden. Menschen umarmten sich auf dem Bahnsteig, lachten vor Wiedersehensfreude. Andere strömten geschäftig zum Ausgang. Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Krankenhaus. Dort bezahlte ich den Fahrer und stieg aus. Eine Brise strich durch die Bäume und ließ die Blätter rascheln. Ich fröstelte, obwohl mir eigentlich nicht kalt war.

      »Ich möchte zu meinem Vater, Karl Eppinger.« Der Mann am Empfang tippte den Namen in den Computer. »Innere Abteilung, dritter Stock, Zimmer 317.«

      Ich nahm die Treppe, um das Wiedersehen noch ein wenig länger aufzuschieben. Schließlich stand ich vor der Tür. Ich klopfte und trat ein. Mein Vater war nicht allein im Zimmer. Im Bett neben ihm lag ein Mann, vielleicht Anfang zwanzig und, soweit zu erkennen, zumindest an den Armen großflächig tätowiert. Er hatte Besuch von zwei jungen Frauen, von denen eine hochschwanger war. Ihr weißes T-Shirt spannte über dem Bauch, am rechten Handgelenk klapperten schmale, bunte Plastikreifen. An der Wand hing ein Fernseher, der halblaut lief.

      Mein Blick fiel auf meinen Vater. Der war einmal ein stattlicher Mann gewesen, nicht sonderlich groß und schwer, aber eben stattlich. Nun wog er höchstens noch fünfundfünfzig Kilo.

      Klein und schmal lag er in seinem Bett, der Bauch dick aufgetrieben, die Augen fest geschlossen. Die Haut, gelb verfärbt, spannte über Kinn, Stirn und Wangen. Sein greises Gesicht, eingefallen, klar und scharf, glich einer unwirklichen Maske, die über Zeit und Raum erhaben schien, wie der Abdruck eines Menschen, der noch hier und doch schon fort war. Es war das Gesicht eines Sterbenden.

      Ich griff nach der mageren Hand, spürte jede Faser und jedes Knöchelchen. Mein Vater blinzelte und schlug die Augen auf. Er sah und erkannte mich. »Du hier? Hast du nichts Besseres zu tun?« »Frau Eberle hat mich angerufen und mir gesagt, dass du im Krankenhaus bist.« »Die Adele? So eine Schwatzbase!«

      Die Tür öffnete sich. Eine junge Schwester glitt fröhlich herein und brachte dem Mann im Nachbarbett Kaffee und Kuchen. »Ah, wann ist es denn so weit?«, fragte sie die Schwangere. »In drei Wochen.« »Na, dann alles Gute für die Geburt.« Sie drehte sich um zu uns: »Und der Herr Eppinger hat Besuch. Sind Sie der Sohn? Schön, dass Sie hier sind.« Leise bat sie mich, später ins Schwesternzimmer zu kommen. Laut fuhr sie fort: »Ihr Vater mag ja keinen Kuchen mehr und erst recht keinen Kaffee.«

      Als sie ging, knurrte mein Vater: »Was hat sie dir ins Ohr geflüstert? Dass ich bald sterbe? Das hätte ich dir auch sagen können.« Verlegen entgegnete ich irgendetwas, das so belanglos war, dass ich es gleich wieder vergaß. Ungefähr eine halbe Stunde blieb ich neben ihm sitzen. Ratlos schwiegen wir uns an. Schließlich begann ich von der Fahrt, meiner Arbeit und meiner Tochter zu berichten, um dem eigentlichen Thema Sterben auszuweichen.

      Ich war erleichtert, als ich mich endlich verabschiedete. »Ich habe mir drei Tage freigenommen. Morgen komme ich