Vera Sterndorf

Wen die Vergangenheit trifft


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Ich lehnte mich zurück und lauschte.

      Was war geschehen, dass mein Vater und ich uns so entzweit hatten? Er war doch kein übler Mensch. Ich hatte ihm viel zu verdanken. Als ich Kind war, hatte er mir Liebe und Respekt geschenkt. Später bezahlte er mein Studium, obwohl es ihm finanziell schwerfiel und wir bereits kaum noch miteinander sprachen. Und jetzt? Anscheinend hatten wir einander so tief verloren, dass er mir nicht einmal sagen wollte, dass er todkrank war. Warum eigentlich nicht? Wollte er mir ein schlechtes Gewissen bereiten? Sollte ich mich dafür schämen, dass ich ihn in all den Jahren und Jahrzehnten so selten besucht hatte?

      Ich sprang auf, ballte die Hände in den Taschen meiner Cordhose, lief zum Fenster und zurück. Ich wollte mich nicht schämen! Sicher, so war es bequemer gewesen für mich. Aber die seltenen Besuche hatten uns beide geschützt. So konnten wir wenigstens die Illusion wahren, dass wir uns verstehen. Denn die räumliche Distanz hatte zwischen uns eine Nähe geschaffen, die es in Wahrheit schon lange nicht mehr gab. Jede Begegnung hatte das offenbart.

      Am ersten Tag freuten wir uns noch, einander zu sehen, weil das Wunschbild, die Sehnsucht nach einer intakten Beziehung, der Trug überwog. Wir hatten, wenn auch oberflächlich, Themen, indem wir uns erzählten, was wir seit dem letzten Treffen erlebt hatten. Da ich natürlich nicht alles preisgab und im Alltag meines Vaters vermutlich kaum noch Neues geschah, war dieser Gesprächsstoff aber bald erschöpft. Am zweiten Tag begann dann das Schweigen. Spätestens am dritten fing einer an, den anderen zu provozieren.

      Häufig war er es. Er machte irgendeine rassistische Bemerkung, indem er beispielsweise von »den kriminellen Ausländern« sprach, die »Deutschland überfluteten, die Sozialsysteme ausnutzten und endlich hinausgeworfen gehörten«.

      Es lief dann stets der gleiche Film ab. Ich ging an die Decke, schimpfte ihn einen Rassisten, schämte mich für ihn und seine Haltung, was mich noch wütender machte, versuchte mich zu beherrschen, argumentierte mit Zahlen und Fakten. Er wiederum nannte mich naiv, was mich augenblicklich noch mehr ärgerte.

      Nachdem ich diesen zerstörerischen Mechanismus durchschaut hatte, reiste ich, inzwischen seit vielen Jahren, stets am zweiten Tag ab, bevor uns das Schweigen wie Mehltau überzog.

      Vielleicht aber hatte mich mein Vater nur schützen wollen, indem er mir sein Sterben verschwieg? Auch dieser Gedanke besänftigte mich kaum. Schließlich war ich kein Kind mehr, das man schonen musste. Allein in meinem Beruf begegnete mir oft genug der Tod.

      Ich trank mein Glas leer. Ich spürte, wie der Wein anfing zu wirken, und goss mir gleich noch ein Glas ein. Vielleicht aber war es die Einsamkeit gewesen, die Gabe und die Last, Freude und Leid mit sich allein auszutragen, die meinen Vater verstummen ließ. So lange ich ihn kannte, hatte er nie über seine Gefühle, Ängste, Träume und Hoffnungen gesprochen. Nur damals, als ich Kind war, hatte er manchmal darüber geredet, wenn er von seiner Kindheit, der eigenen Jugend und dem Krieg erzählte.

      »Ich weine viel in meinen Einsamkeiten. Der Herbst in meinem Herzen währt zu lang«, sang die Altstimme in Mahlers Lied. Plötzlich fühlte ich mich unendlich traurig und schlecht. Ich spürte eine Einsamkeit, wie ich sie bis dahin noch nie empfunden hatte. Ein Alleinsein, so tief und trostlos, das sich wie ein Faden durch das Leben meines Vaters zog und das ich so lange verdrängt hatte. Ich trank mein Glas in einem Zug leer. Mein Gehirn tobte wirr und wund. Irgendwann schlief ich im Ohrensessel ein.

      *

      Als ich wieder erwachte, dämmerte bereits der Morgen. Mein Mund brannte staubtrocken. Die Beine, auf denen Gustav ruhte, fühlten sich bleiern an.

      Ich stand auf, schlürfte in die Küche und kochte Kaffee. Im Badezimmer stellte ich die Kanne und meine Tasse auf den Rand der Wanne und ließ Wasser ein. Ich zog mich aus und tauchte unter. Langsam weckten mich das warme Wasser und der heiße Kaffee. Ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Klar war, zunächst musste ich einen Hospizplatz finden. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie viele davon in Freiburg überhaupt existierten.

      Nach dem Bad rasierte ich mich, putzte mir die Zähne und zog mich an. In der Küche klappte ich mein Notebook auf und tippte bei Google die entsprechenden Suchwörter ein. Die Ausbeute war dürftig. In der ganzen Stadt gab es nur ein einziges stationäres Hospiz. Da es inzwischen nach neun war, rief ich dort an.

      Natürlich hätte ich ahnen können, dass so kurzfristig kein Platz frei war. Ich versuchte alles, erklärte den Notfall und bettelte sogar. Es half nichts. Die Stimme am anderen Ende blieb gleichermaßen freundlich, verbindlich und verwies mich auf das ambulante Hospiz. Es werde, gemeinsam mit Hausarzt und Pflegediensten, ein würdiges Sterben zu Hause ermöglichen und dabei nicht nur meinen Vater, sondern auch mich unterstützen.

      Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich leer, erschöpft und konfus. Die beste, weil einfachste Lösung war gescheitert. Wie es nun weitergehen würde, wusste ich nicht. Ich trank den restlichen Kaffee, gab Gustav frisches Wasser und Futter. Ich selbst konnte nichts essen. Dann brach ich auf zum Krankenhaus.

      Als ich dort das Zimmer betrat, blieb ich überrascht an der Tür stehen. Neben dem Bett meines Vaters saß Frau Eberle. Sie sprach leise und freundlich mit ihm, streichelte seine Wange. Auf ihrem Schoß hielt sie einen Teller mit Birnenschnitzen, die sie meinem Vater reichte. Dieser kaute die Stücke langsam und genussvoll.

      Frau Eberle war klein und drahtig trotz ihres Alters, das mindestens achtzig betrug. Seit rund fünfzig Jahren lebte sie Tür an Tür mit meinem Vater. Dass sie sich gut kannten und mochten, wusste ich. Doch nie hätte ich eine solche Vertrautheit vermutet, wie sie diese zärtliche Geste nun offenbarte.

      Frau Eberle schaute auf und sah mich. »Guten Morgen, Stefan. Ich habe deinem Vater etwas zu essen gebracht. Die Krankenhauskost mag er nämlich nicht.« Ich begrüßte beide verlegen und setzte mich. Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Der junge Mann im Nachbarbett war nicht im Zimmer. Gleichwohl lief der Fernseher, lautlos.

      Für meinen Vater, der in seinem ganzen Leben stets nur ein Radiogerät besessen hatte, musste die Flut billiger Bilder und dummer Sätze unerträglich sein. Insofern hatte Dr. Lenhard sicherlich recht. Apropos Dr. Lenhard, den musste ich dringend sprechen. Somit hatte ich einen wirklich guten Grund, um meinen Vater und Frau Eberle allein zu lassen.

      Während ich an der Tür des Arztzimmers klopfte, kam die Oberschwester, der ich bereits am Vortag begegnet war, vorbei. »Grüß Gott, Herr Eppinger. Falls Sie Herrn Dr. Lenhard sprechen wollen, müssen Sie sich gedulden. Er ist noch im OP. Überblicken Sie schon, wie es mit Ihrem Vater weitergeht?«

      Ich berichtete, dass ich keinen Hospizplatz bekommen hatte und somit nur eine ambulante Sterbebegleitung möglich sei. Dass ich aber nicht wisse, wie ich das alles organisieren könne, wo ich doch morgen wieder nach Berlin müsse. Schwester Hanna musterte mich ernst. »Bitte verzeihen Sie mir die Frage: Müssen Sie morgen zurück oder wollen Sie?«

      Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Die meisten Menschen haben ja Angst vor dem Thema Sterben. Erst recht, wenn es jemanden trifft, der ihnen nahesteht. Es ist meist nicht mal das Sterben selbst, das sie so sehr schreckt, sondern die Hilflosigkeit und die Angst, die falschen Worte zu wählen. Ich weiß ja nicht, wie gut Sie sich mit Ihrem Vater verstehen. Und natürlich müssen Sie selbst entscheiden, was Sie tun oder lassen. Aber denken Sie daran, Sie müssen hinterher damit leben.«

      Sie bestätigte noch, was die Hospizdame am Telefon bereits gesagt hatte. Dass mit allen Hilfen, die es gebe, die Belastung, insbesondere die psychische, zwar noch immer schwer, aber tragbar sei. Auch beim Organisieren der Unterstützung könne ich Beistand erhalten. Ich solle mich an den Sozialarbeiter des Krankenhauses wenden. Der habe jetzt Sprechstunde und residiere in Zimmer 108.

      Verstört und aufgewühlt folgte ich dem Rat der Schwester und suchte den Sozialarbeiter, Herrn Wenninger, auf. Der notierte sich zunächst den Namen meines Vaters sowie alle relevanten Daten und Fakten. Zudem wollte er noch wissen, wie die Wohnung meines Vaters in pflegerischer Hinsicht ausgestattet sei, insbesondere ob ein Pflegebett und ein Toilettenstuhl vorhanden seien. Beides konnte ich bejahen, wie mir ein Blick ins Schlafzimmer meines Vaters am Vorabend verraten hatte.

      Herr Wenninger versprach, alles in die Wege zu leiten, den