Vera Sterndorf

Wen die Vergangenheit trifft


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Schild »Schwesternzimmer« und machte mich auf den Weg, die Bitte der Schwester zu erfüllen. Sie selbst sah ich zwar nicht. Dafür traf ich eine ältere, ernst blickende Oberschwester, Hanna, laut Schild am Kittel.

      »Sie sind der Sohn von Herrn Eppinger? Schwester Steffi hat mich bereits informiert, dass Sie endlich da sind.« Ich wolle doch bestimmt mit dem behandelnden Arzt sprechen, was ich bejahte. Sie führte mich zu einem jungen Oberarzt, der, was sein Alter betraf, beinahe mein Sohn hätte sein können.

      Dr. Lenhard, so hieß er, klärte mich schnell und effizient über den Zustand meines Vaters auf. Leberkrebs im Endstadium, so lautete der klare Befund. Eigentlich hatten sie ihn bereits vor einem Monat zum Sterben nach Hause entlassen. Dort habe es jedoch an einer Rundumbetreuung gemangelt. Als sich der Zustand weiter verschlechterte, habe ihn der Hausarzt erneut ins Krankenhaus eingewiesen. Aber jetzt sei ich ja da, um mich um ihn zu kümmern, sodass er zum Sterben wieder heimkönne.

      Ich war sprachlos. Von alldem hatte mein Vater nie etwas erzählt. Als ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte, schien noch alles zum Besten zu stehen. So zumindest hatte es am Telefon gewirkt. Ich versuchte dem Arzt zu erklären, dass ich in drei Tagen wieder nach Berlin müsse, wo meine Arbeit auf mich warte.

      Dr. Lenhard schaute mich schweigend an. Ich fühlte mich unbehaglich und begann unter seinem Blick auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er nahm seine Brille von der Nase und wischte sie mit einem Taschentuch. »Sie wollen also Ihren Vater hier sterben lassen, derweil im Hintergrund ›Deutschland sucht den Superstar‹ oder ähnlicher Müll läuft?«

      Dieser Schlag mit der Moralkeule traf mich mitten in die Magengrube. Mir wurde übel. Ich versuchte nochmals, mit meinen Akten und Fällen zu argumentieren. Dr. Lenhard setzte seine Brille wieder auf und erhob sich. »Nun, Ihr Vater kann hier nicht bleiben. Sein Zimmer ist kein Ort zum Sterben, und extra Zimmer dafür haben wir nicht. Im Übrigen wünscht er sich, wie die meisten Menschen, zu Hause einzuschlafen. Wenn Sie ihn nicht heimholen wollen, besorgen Sie ihm wenigstens einen Hospizplatz. Viel Zeit bleibt nicht.«

      Damit war das Gespräch beendet. Ich verließ das Krankenhaus und fuhr zur Wohnung meines Vaters. Dort, wo früher seine Buchhandlung war, gab es jetzt einen Weinladen. Durch das Schaufenster sah ich eine Frau, vielleicht Anfang, Mitte vierzig, mit haselnussbraunen kurzen Haaren. Anscheinend war sie die Inhaberin. Sie bediente gerade zwei Kunden, ein älteres Ehepaar.

      Ich wendete meine Augen zur Klingel an der Haustür. Frau Eberle öffnete gleich beim ersten Läuten. Ich lief die Treppe hoch. Als ich vor ihr stand, rief sie: »Grüß Gott, Stefan. Du willst bestimmt den Wohnungsschlüssel holen. Wie geht es deinem Vater? Ich war gestern bei ihm. Da sah er nicht gut aus.«

      Ich murmelte irgendetwas und wollte mit dem Schlüssel, den sie mir reichte, schon gehen. Doch da sagte sie: »Moment mal, ich habe noch was für dich.«

      Sie verschwand kurz in einem Zimmer am Ende der Diele und kehrte mit einer Katze zurück, die sie mir in den Arm drückte. Ich war so überrascht, dass ich mich nicht dagegen wehrte.

      »Das ist Gustav, der Kater deines Vaters. Nun, da du hier bist, brauche ich mich ja nicht mehr um ihn zu kümmern.« Ich stand für einen Augenblick regungslos da. Jetzt, mit dem Tier auf dem Arm, erinnerte ich mich dunkel, dass mein Vater eine Katze besaß.

      »Frau Eberle, es tut mir leid, ich kann mich nicht um Gustav kümmern. Ich fahre übermorgen nach Berlin zurück. Können Sie ihn nicht behalten oder ins Tierheim bringen?« Frau Eberle schaute mich schweigend an. Ihr bis dahin freundlicher Blick verdüsterte sich. Sie strich sich eine Strähne ihres kinnlangen weißen Haares hinter das Ohr, kniff zunächst die Augen und dann den Mund zusammen.

      »Auf keinen Fall!« Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Ich zuckte zusammen. Der Kater wand sich in meinen Armen, sodass ich ihn fallen ließ. Ich dachte, dass sich das Problem so vielleicht von allein lösen könne, indem er einfach davonlief. Aber der Kater machte einen Satz zur Wohnungstür meines Vaters gegenüber. Dort setzte er sich auf die Hinterpfoten und begann sich zu putzen. »Also gut, Gustav. Dann komm rein. Wir werden schon eine Lösung finden.«

      Ich schloss die Tür auf. Drinnen roch es sauer und abgestanden. Alle Räume waren aber aufgeräumt und blitzsauber. Eilig öffnete ich die Fenster. Der Kater lief in die Küche zum Kühlschrank. Der war zwar leer, doch im Schrank fand ich Trockenfutter, das ich in ein Schälchen füllte. Gustav schnüffelte kurz und wandte sich dann ab. Offenbar gab es bei Frau Eberle etwas Besseres zu fressen.

      Ich verließ die Wohnung und ging in den Bioladen gegenüber. Dort kaufte ich Brot, Käse, Butter, Kaffee, Milch, etwas Obst und Schinken. Anschließend betrat ich den kleinen Weinladen in unserem Haus. Verstohlen musterte ich die Frau, die einem Kunden gerade mehrere Weine vorstellte. Sie trug ein dunkelgrünes Samtkleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte.

      Ich fand die Frau auf eigenartige Weise schön. Sie war klein und zierlich. Die kurzen Haare umrahmten weich das ovale, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Das Besondere aber waren die Augen. Das eine grün und das andere grau, zogen sie mich in ihren Bann. Plötzlich konnte ich weder das eine noch das andere mehr loslassen.

      »Sie wünschen?« Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang tief und melodiös, samtweich wie zwanzigjähriger Cognac. Sie sprach zwar Hochdeutsch, doch ihr Akzent erinnerte sowohl an die Schweiz als auch an Frankreich.

      »Kennen wir uns?« »Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Mein Vater hatte hier mal seinen Buchladen.« »Der Herr Eppinger? Dann sind Sie der Sohn? Wie geht es ihm? Frau Eberle hat mir erzählt, dass er wieder im Krankenhaus ist.«

      Ich antwortete, zerrissen zwischen der Lebendigkeit, die sie ausstrahlte, und dem sterbenden Gesicht meines Vaters, an das mich ihre Frage erinnerte. Leicht benommen hörte ich, wie sie ihren Namen nannte: Miriam, Miriam Weil. Rasch kaufte ich eine Flasche Rotwein und kehrte in die Wohnung zurück.

      Ich schnitt mir etwas Brot und Käse ab, öffnete den Wein und kostete den Schinken. Draußen ging die Sonne unter. Ich saß in der Küche an dem alten Tisch, an dem ich mit meinem Vater so oft gesessen hatte, nachdem ich aus der Schule nach Hause gekommen war und er gekocht hatte. Ich sah ihn vor mir, wie er Obst und Gemüse schnippelte, Kartoffeln schälte, Eier oder Fleisch briet. Ich hörte seine Stimme, die nah und doch so fern war.

      Plötzlich sprang Gustav auf meinen Schoß. Er war groß und schwer, schwarz, grau und rot getigert. Die Pfoten waren weiß. Vorne glichen sie weißen Pantoffeln und hinten hellen Stiefeln, aus denen rote Socken blitzten. Der Kater musterte mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen und begann zu schnurren. Als es an der Tür klingelte, schubste ich ihn vom Schoß und öffnete. Draußen stand Frau Eberle.

      »Ich wollte noch das Katzenklo zurückbringen und das restliche Futter für Gustav. Beides braucht er doch.« Ich bedankte mich, nahm die Sachen und schloss die Tür. Das Klo stellte ich ins Badezimmer. Dann ging ich in die Küche zurück, wo der Kater mittlerweile den restlichen Schinken und Käse gefressen hatte. Lang ausgestreckt lag er mitten auf dem Tisch und leckte sich das Maul. Ich räumte Brot und Butter weg, nahm mein Glas und die Weinflasche.

      Im Wohnzimmer sah es ebenfalls noch so aus wie damals, als ich zu Hause gelebt hatte. Nur die Bücher hatten sich weiter vermehrt, vermutlich die Restbestände aus dem Laden. Ich setzte mich in den Ohrensessel, auf den Lieblingsplatz meines Vaters. Er stand vor dem Bücherregal, das an beinahe drei Wänden vom Boden bis zur Decke reichte. Ich legte meine Füße auf den Schemel und stellte den Wein auf das kleine runde Tischchen neben mich. Ich betrachtete das alte Sofa, auf dem eine hellgrüne Wolldecke lag. Davor standen ein halbhoher, runder, dunkler Tisch und zwei schwere Sessel, alles aus den dreißiger, vierziger Jahren. Seltsam, dass mein Vater nie das Bedürfnis gehabt hatte, sich von diesen alten Dingen zu trennen.

      Ich nahm einen Schluck Rotwein und schaltete den Plattenspieler an, ohne darauf zu achten, was aufgelegt war. Wild und ungestüm tönte eine Art Fanfare. Gleich darauf setzte der Tenor ein: »Schon winkt der Wein im goldenen Pokale, doch trinkt noch nicht, erst sing ich euch ein Lied!«

      Natürlich Gustav Mahler, der Lieblingskomponist meines Vaters. Vermutlich nach ihm hieß der Kater Gustav. Die Marotte, Haustiere nach Künstlern zu nennen, hatte mein Vater