Vera Sterndorf

Wen die Vergangenheit trifft


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euphorisch.

      Ein Anruf bei meinem Arbeitgeber beseitigte das letzte Hindernis. Angesichts der Umstände war es kein Problem, meinen gesamten ungenutzten Jahresurlaub zu nehmen. Dieser betrug immerhin noch fast sechs Wochen.

      Bevor ich zu meinem Vater zurückkehrte, hielt ich kurz bei Schwester Hanna. Sie war gerade dabei, Patientenbögen auszufüllen. Ich berichtete, was ich beschlossen hatte. Es war offensichtlich, dass sie sich freute. Anschließend schickte sie mich zu Dr. Lenhard, damit ich ihn über meine Entscheidung informierte. »Prima, dann können wir Ihren Vater morgen nach Hause entlassen.«

      Er fragte noch, ob ich denn wisse, was es bedeute, an Leberkrebs zu sterben. Als ich verneinte, strich er sich mit der Hand durch die dunklen Locken, sodass er danach ziemlich zerzaust aussah. Er bat mich, Platz zu nehmen. Das einzig Gute sei, so dozierte er, dass Leberkrebs keine Schmerzen bereite, da die Leber keine Nervenzellen enthalte.

      »Ihr Vater wird verhungern, egal wie viel er isst.« Denn durch den Tumor höre die Leber auf zu arbeiten, sodass der Körper die Nahrung nicht mehr verdaue und verwerte. Es könne auch nötig werden, meinen Vater zeitweise ruhigzustellen, wenn sich die Wahnvorstellungen, die höchstwahrscheinlich einträten, nicht durch Medikamente beheben ließen. Doch mit Dr. Rosenthal, den er gut kenne und schätze, begleite uns ein erfahrener Hausarzt, auf dessen Kompetenz ich absolut vertrauen könne.

      Das Hochgefühl, das ich noch kurz zuvor gespürt hatte, verringerte sich mit jedem Wort, das Dr. Lenhard sprach. Wollte ich all das wirklich miterleben? War ich nicht vielmehr dabei, ohne Plan und Verstand in etwas hineinzuschlittern, was ich schon bald zutiefst bereuen würde?

      Ich ging zurück zu meinem Vater. Frau Eberle saß noch immer an seiner Seite und unterhielt sich leise mit ihm. Kurz und bündig, weil ich fürchtete, ansonsten sentimental zu klingen, sagte ich meinem Vater, dass er morgen nach Hause dürfe. Ich erzählte, dass ich mir Urlaub genommen hatte und bis zum Ende bliebe, wobei ich das Wort »Ende« kaum über die Lippen brachte.

      Frau Eberle strahlte. Mein Vater betrachtete mich dagegen skeptisch: »Willst du das wirklich?« Ich schwieg einen Augenblick. Dann entschloss ich mich, ehrlich zu antworten. »Ich weiß nicht, was auf uns zukommt. Ja, ich habe Angst davor, und ja, ich habe mich entschieden, dich nicht allein zu lassen.«

      Ich dachte, dass mein Vater jetzt so etwas wie »danke« sagen könnte, stattdessen brummte er einfach: »Wenn du meinst, na gut.«

      Ich verließ das Krankenhaus zusammen mit Frau Eberle. Sie wiederholte mehrfach, dass sie froh sei, auch für mich, dass ich bliebe und meinen Vater heimhole. »Er hat sich das so sehr gewünscht. Aber er hat nie gewagt, darauf zu hoffen, dass du kommst und bleibst.«

      Sie plapperte noch weiter, wie sehr mich mein Vater liebe, wie stolz er auf mich sei, wie sehr er sich über jedes Telefonat mit mir, über jeden meiner Besuche gefreut habe.

      Ich wollte nicht unhöflich sein. Daher nickte ich gelegentlich, während sich meine Gedanken ganz praktischen Dingen zuwendeten. So fiel mir ein, dass ich nur für drei Tage Wäsche und Kleidung mitgebracht hatte. Hier musste ich dringend einiges besorgen. Außerdem musste ich den Kühlschrank füllen und mich darum kümmern, was Menschen mit Leberkrebs überhaupt essen dürfen. Zum Glück kochte ich gern und obendrein halbwegs gut.

      An der Straßenbahnhaltestelle verabschiedete ich mich von Frau Eberle, die noch immer wortreich auf mich einredete. Ich fuhr in die Stadt, kaufte zwei Cordhosen, drei Rollkragenpullover, ein Tweedjackett, einen Mantel, Wäsche, Socken und ein paar Schuhe. Das sollte für die nächsten Wochen reichen. Schwer beladen, spazierte ich noch in einen Buchladen, um ein Kochbuch »Was der Leber guttut« anzuschaffen.

      Anschließend nahm ich ein Taxi und fuhr zur Wohnung meines Vaters. Gustav miaute und umkreiste mit erhobenem Schwanz meine Beine. Ich schob ihn zur Seite und betrat mein altes Zimmer. Immerhin musste ich irgendwo schlafen, der Ohrensessel war ja keine Dauerlösung.

      Mein Zimmer war der einzige Raum, der sich in den Jahrzehnten, seitdem ich ausgezogen war, verändert hatte. Mein Vater hatte es für Besuch hergerichtet. Allerdings wusste ich nicht, wer dort, außer mir, je geschlafen hatte. Bett, Nachttisch und Schrank stammten wie die meisten Möbel in der Wohnung aus den dreißiger, vierziger Jahren. Zum Glück war ich nicht sonderlich groß, denn das Bett war allenfalls einen Meter neunzig lang.

      Ich packte meine Sachen in den Schrank und bezog das Bett mit frischer Wäsche, altes, verschlissenes weißes Leinen. Ich wunderte mich, dass mein Vater so gar keine neuen Dinge besaß außer dem Plattenspieler. Dieser war erst zwanzig oder dreißig Jahre alt und funktionierte erstaunlicherweise noch immer. Sicher, mein Vater war kein reicher Mann. Aber so arm war er nun auch nicht, dass er sich nichts Neues hätte leisten können. Vermutlich hatte ihn seine Einrichtung nie näher interessiert. Hauptsache, sie erfüllte ihren Zweck.

      An der Tür klingelte es. Als ich öffnete, stand Frau Eberle vor mir. Sie begrüßte Gustav, der neugierig auf sie zulief. Lächelnd beugte sie sich nieder und strich ihm liebevoll durchs Fell. An der Treppenhauswand parkte ein zusammengeklappter Rollstuhl.

      »Der gehörte meinem Mann«, erklärte sie. »Ich habe ihn behalten, für alle Fälle, man weiß ja nie. Ich dachte, dass du ihn gebrauchen kannst. Denn der Karl kann ja kaum noch gehen, dazu ist er viel zu schwach.«

      Ich bedankte mich und zog das Gefährt in die Wohnung. Zugleich dachte ich, dass ich Frau Eberle nun eigentlich zum Kaffee einladen müsste. Doch zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon. Nun konnte ich mich, ohne sie abzuwimmeln, freundlich von ihr verabschieden. Sie rief noch: »Wenn du Hilfe brauchst …«, und ich antwortete: »Vielen Dank, dann meld ich mich!«, bevor ich die Tür schloss.

      Am Telefon war Schwester Hanna. Sie teilte mir mit, dass ein Krankenwagen meinen Vater am nächsten Vormittag gegen elf bringen würde.

      Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und setzte mich an den Küchentisch. Plötzlich fiel mir auf, dass ich, obwohl inzwischen schon später Nachmittag, noch nichts gegessen hatte. Mein Magen knurrte. Also raffte ich mich auf und stattete dem Bioladen gegenüber erneut einen Besuch ab. Zum Glück war er gut sortiert, sodass ich alles fand, was ich benötigte.

      Auf dem Rückweg hielt ich im Weinladen. Dieses Mal war ich besser vorbereitet. Wieder ließ ich mir einen Rotwein empfehlen. Während ich ihr Gesicht nicht aus den Augen ließ, beschrieb mir Miriam, so nannte ich sie bereits im Geiste, das Gut, woher der Wein stammte. Ich glaube, es war irgendwo in Frankreich. Plötzlich spürte ich, dass ich wissen wollte, ob sie verheiratet oder sonst wie gebunden war. Ich schielte zu ihrer Hand und sah, dass sie keinen Ehering trug.

      »Möchten Sie den Wein probieren, bevor Sie ihn nehmen?« Ich schreckte aus meinen Gedanken, als sie verstummte, und hörte mich fragen: »Wollen Sie heute Abend mit mir essen gehen?« Über ihr Gesicht huschte ein leichtes Grinsen. Ich sei ja ganz schön direkt, entgegnete sie. Sie beäugte mich von oben bis unten und antwortete dann: »Ja.«

      »Sie schließen um achtzehn Uhr? Ich hole Sie ab.« Ich packte meine Einkäufe und ging hinauf in die Wohnung.

      *

      Mir blieb eine knappe Stunde bis zu unserer Verabredung. Ich aß etwas Brot und Käse, damit mich nicht gleich der erste Schluck Wein betrunken machen würde. Der Kater stellte sich auf seine Hinterpfoten und kratzte an meinen Knien. Ich gab ihm etwas Käse ab, sodass er sich anschließend zufrieden mit der Zunge über das Maul fuhr. Ich räumte die Lebensmittel weg, las in dem Kochbuch, das ich für meinen Vater gekauft hatte, klappte es wieder zu, machte mich frisch, schloss die Wohnungstür und eilte hinunter. Miriam sperrte ihren Laden ab und schaute mich erwartungsvoll an. »Wohin wollen wir?«

      Daran hatte ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht gedacht. »Ich bin schon so lange aus Freiburg weg, da sind wir wohl auf Ihre Empfehlung angewiesen.« Sie überlegte kurz. »Um die Ecke gibt es einfaches, aber hervorragendes badisches Essen. Haben Sie Lust darauf?«

      Das Restaurant war winzig und schmucklos. Es verfügte nur über sechs Tische, die ein schmaler Tresen von der Küche trennte. Ein Mann, groß und dünn, vielleicht Anfang vierzig, rührte in einer Plastikschüssel Spätzleteig. Er schien Miriam zu kennen. Denn er legte den Kochlöffel