Carsten Hoop

Caspar rund das Meer spricht Englisch


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haben wir sie gesucht. Wir konnten ihre Spuren auf dem vereisten Strom im Schnee gut erkennen. An den Hängen des Südufers, westlich von Quebec, verloren wir allerdings ihre Spuren, als überraschend ein gewaltiger Schneesturm über uns hereinbrach. Auf dem Rückweg sahen wir viele Spuren von Schneeschuhen, die aus westlicher Richtung unseren Weg kreuzten. Sie müssen also auf andere Menschen gestoßen sein! Wir mussten die Suche leider abbrechen und warteten auf besseres Wetter. Doch es schneite unentwegt. Bald lag der Schnee so hoch, dass wir nicht einmal mit Schneeschuhen vorankamen. Erst als der Schnee im April zu tauen begann, war eine erneute Suche wieder möglich. Wir konnten die beiden Soldaten, die dich nach Neu Orléans brachten, Maurice Martier und Jean-Claude Aimauld für das Unternehmen gewinnen. Sie nahmen indianische Spurensucher mit. Unter ihnen war Elchblitz, den du von deiner Reise noch gut in Erinnerung haben müsstest. Zusätzlich kam Monsieur Leroux, Julies Vater, und Monsieur Farrelli mit. Er ist der Onkel von Ivonne, eine der vermissten Frauen. Von der Mannschaft verschwanden Zven, der Speckschneider und Matrose Peter, der noch vor Weihnachten mit seiner Frau Irina von Abramovic’ Insel zurückkam.

      „Donnerwetter! Peter! Sagten sie seiner Frau?“

      „Gott ist mein Zeuge, ja! Fünf Wochen verbrachte er mit Irina Abramovic im Fort Frontenac, bis es ihr besser ging und sie transportfähig wurde. Du erinnerst dich, Irina traf ein Pfeil bei dem Angriff der grausamen Indianer. Alexei Abramovic überredete seine Tochter Irina, mit Peter fortzugehen. Zwei seiner Kinder hatte er zuvor nach Virginia geschickt. Dort lebten befreundete Kolonisten der Abramovics aus Schweden und Deutschland, glaube ich, mit denen er Handel betrieb.“

      „Ich erinnere mich daran, dass Alexei mir damals seine Sorgen über die Sicherheit seiner Kinder anvertraute. Besonders nach dem Überfall der Irokesen auf Alexeis Insel im Sankt Lorenz überlegte er, wie die Zukunft seiner Kinder aussehen könnte.“

      „Schließlich wurde vor dem schmerzlichen Abschied eine traditionell russische Hochzeit gefeiert. Alex, wie ihn alle nannten, ließ extra einen christlich-orthodoxen Priester von weither kommen. Viele Russen gab es in der Gegend nicht. Nach vielen Tränen, doch mit der Einsicht der noch nicht vernarbten Wunden des Überfalls, reisten Peter und Irina als Mann und Frau stromabwärts nach Quebec. Dort wurden sie von der Mannschaft des Walfängers herzlich begrüßt. Sie erzählten alles, was währenddessen vorgefallen war. Monsieur Leroux, also Julies Vater, nahm sie in seinem Gasthaus auf, bis sie selbst ein kleines Quartier in der Unterstadt gefunden hatten, und nun sind sie, wie dein Cousin und die anderen, vom Erdboden verschwunden.“

      Beizeiten hatte sich Lisa eingefunden, und hörte dem Kapitän bei seinen Ausführungen über Neufrankreich zu. Kleine Tränen kullerten Lisas Wangen hinab, als sie von Jacobs Schicksal hörte. Meine unbändige Freude hatte sich bereits schlagartig in ohnmächtige Verzweiflung gewandelt. Wie sollten sie den Schneesturm nur überlebt haben? Die Winter in Neufrankreich waren um einiges härter, als hier bei uns. Monsieur Leroux erzählte mir damals, als ich in seinem Gasthaus in Quebec wohnte, vom vorletzten Winter dort. Der Schnee lag so hoch, dass erst die Fenster im 1. Stock seines Hauses sichtbar waren und der Schnee drohte die unteren Fenster einzudrücken.

      „Mit diesem unseligen Schicksal gebe ich mich nicht zufrieden, ohne dass wir Gewissheit über Jacobs Verbleib haben, Lisa!“ Ich schaute in ihre feuchten Augen, die unruhig hin und her tanzten. Leichte Fältchen bildeten sich auf ihrer Stirn, wie immer, wenn sich Sorgen ankündigten. Ich nahm sie in den Arm und spürte das Zittern ihres ganzen Körpers. Lisa hätte Caspars Cousin auch sehr gerne geholfen, wenn es einen unproblematischen gefahrlosen Weg gäbe. Den gab es aber nicht, wie es auf den ersten Blick aussah.

      Kapitän Broder drehte sich gereizt um, weil unser „Lieblingslotse“ Einar Hartwig ihm unentwegt auf die Schulter klopfte. Es war zu befürchten, dass der eigentlich friedliche Broder ihm gleich eine hinter die Ohren geben würde. Recht so! Doch er riss sich sichtbar zusammen und besprach mit dem hinzugekommenen Hafenmeister Cornelius die formellen Angelegenheiten, die mit dem Eintreffen des Walfängers verbunden waren. Die aufgeregten Möwen witterten den Geruch der Wale, die in hunderttausend Teilen unter Deck in Fässern lagerten und nicht im Geringsten daran erinnerten, dass sie einstmals majestätisch durch die Weltmeere pflügten. Die Maserungen im Holz des Decks verrieten Unmengen von Blut, die über die Planken geflossen sein mussten. Bootsmann Jan, der immer noch neben mir stand, bemerkte meine suchend kreisenden Augen, die meine Neugierde erkennen ließen, bevor er nunmehr stolz meinte:

      „Drei Grönland- und einen riesigen Finnwal! Wir haben auch gute Nachrichten, Caspar Kock.“

      „Schön, dieser Erfolg! Dann könnt ihr jetzt alle, wenn auch verspätet, aber wenigstens nicht mittellos nachhause gehen.“ Ich hasste es, nicht meine Meinung über Walfang sagen zu können. Doch ich musste mich hier der Unternehmensraison anpassen. Auch wenn es mir sehr schwer fiel.

      „Zwei Mann sind in Amerika geblieben“, schob er kleinlaut hinterher, „der Matrose Broer und der Küchenjunge Erick. Soweit wir wissen, haben die beiden hier niemanden, den wir benachrichtigen müssten.“

      „Oh - doch!“, erwiderte ich, „meinen Vater! Er übernahm die Vormundschaft für Erick, als er ihn aus dem Waisenhaus holte. Er war nicht der Erste, der auf diese Art eine Chance auf unseren Schiffen erhielt. Johann Ludwig Kock wird ohne richtige Verabschiedung von Erick sehr enttäuscht sein.“

      „Das wusste ich nicht! Glaube ich aber aufs Wort. Ich werde deinem Vater alles erzählen, Caspar. Jedenfalls wollten Broer und Erick sich den Fischern des Sankt Lorenz anschließen. Erick hatte sich spontan und nicht vorsätzlich entschieden, dort zu bleiben. Der Matrose Dierck ist an einer fiebrigen Erkrankung gleich nach Neujahr gestorben. Im Hospital des Ursulinenklosters wurde alles für ihn getan. Ich konnte ihm in Quebec nur sehr begrenzt helfen“, sagte der erstaunlich gealterte Schiffsarzt Dr. Voigt mit gesenktem Blick, als würden wir ihn für den Tod des Seemanns mitverantwortlich machen. Unserem Doktor hatte die Reise überhaupt nicht gut getan. Er kränkelte schon auf der Hinfahrt. Da war vom Kriegsgeschrei der Briten noch nichts zu hören gewesen. Doch schon bald nach seiner Ankunft in Hamburg erholte er sich und schwor nie wieder ein Schiff zu betreten.

      „Dann habt ihr mit nur 26 Mann Besatzung das geschafft, wofür wir vorher 38 Seeleute beschäftigten. Alle Achtung, meine Herren, meinen Respekt!“ Während ich anerkennend fortfuhr, kam ein mit hoher Geschwindigkeit rasender Einspänner auf uns zugefahren. Ein nobler Herr mit übergroßem dunkelgrünem Dreispitz saß kerzengerade auf dem Kutschbock und verzog trotz aufkommender steifer Brise keine Miene. Die Leute sprangen panisch zur Seite, um nicht Opfer des rücksichtslosen Kutschers zu werden. Im Angesicht einer großen Menschenmenge musste der unbeirrte Herr im allerletzten Moment die Bremse seines Vehikels ziehen, um nicht Menschenleben zu riskieren. Niemand sonst, außer Johann Ludwig Kock, fuhr in diesem Tempo über den Kehrwieder. Wenn man meinen Vater darauf ansprach, entschuldigte er sich immer mit dem Hinweis, noch nie einen Unfall gehabt zu haben. „Wie gut, dass stets ein Schutzengel zugegen war“, hörte man meist darauf. Die potenziellen Opfer, die nochmals verschont blieben, schauten dann leidig in den Himmel, um den Herrgott zu preisen, weil er ihnen eine Prüfung auferlegte, die sie bestanden hatten.

      „Kapitän Broder! Nicht weglaufen“, rief Johann Ludwig Kock. Der schlaue Fuchs mit Kapitänspatent wusste, warum er das Weite suchte, als er den Alten mit dem exorbitanten Hut sah. Kapitän Broder durfte nun seinem Auftraggeber alles noch einmal erzählen, nachdem Vater sein schwitzend nasses Pferd beruhigt hatte, was ihm einzig allein höchst merkwürdig vorkam und er gleich eine Krankheit des Tieres vermutete, statt an die Rennstrecke zu denken, die das Tier zurücklegen musste.

      „Warum habt ihr den Walfänger mit dieser scheußlichen Farbe neu bemalt?“, fragte ich den Bootsmann Jan abseits des Kapitäns, der, wie ich hörte, auf der Rückfahrt auch einige bedeutende Arbeiten des 2. Steuermannes mit übernommen hatte. Jaspar war selbstredend zum Ersten aufgerückt, als der bisherige Steuermann Jan Behrens mit mir nach Neu Orléans aufbrach. Über des Bootsmanns Schulter sah ich, wie Vater und der Kapitän auf der Konstanze verschwanden. Doch natürlich nicht ohne das Entladen des Walfängers maßgeblich zu behindern.

      „Die Frage nach der Farbe ist berechtigt und ganz einfach zu beantworten. Weil wir damit unsere Chancen erhöhten, vor den Briten unerkannt zu bleiben.