Peter Stockfisch

519 Park Avenue


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von Leere gewichen. Sie hatte ihre Arme mit den Ellenbogen senkrecht nach unten über ihrer Brust verschränkt, und Saidi konnte im fahlen Licht der Verandabeleuchtung trotz ihrer braunen Haut die dunklen Blutergüsse auf ihren Oberarmen erkennen.

      “Dein Boss ist eine Bestie,” sagte sie mit leiser Stimme. “Gerd Kutschinski ist ein Schwein”.

      Saidi war geschockt. Eine unbeschreibliche Wut kam in ihm hoch. Er musste all seine Beherrschung aufbringen, um ruhig auf sie einzureden. Aber er wollte wissen, was geschehen war.

      “Wir haben uns heute Abend in der Avenida Mao Tse Tung getroffen. Ecke Julius Nyere. Er lud mich zu einem Drink in die Aquarius Bar vom Polana Hotel ein. Ich dachte, er wollte mir mehr über das Leben in der DDR erzählen. Außerdem war ich noch nie in diesem tollen Hotel. Ich hab’ den ganzen Abend nur einen Caipirinha getrunken. Er hat dann tatsächlich von dem Leben in der DDR erzählt und von sich. Wie allein er in Maputo sei. Dann bot er mir an, mich nach Hause zu fahren. Er bog dann ab zur Baia und hielt am Strand. Keine Menschenseele ringsum. Er hielt sich nicht lange mit Vorreden auf und kam gleich zur Sache. Ich bat ihn aufzuhören. Ich wehrte mich mit allen meinen Kräften. Ich bettelte, ich schrie, ich weinte. Aber diese Sau ist stark. Hinterher befahl er mir, keinem etwas zu erzählen. Schon gar nicht etwa der Polizei. Anderenfalls, drohte er, würde ich es bereuen.”

      In Saidis Kopf kamen viele Gedanken gleichzeitig zusammen. Was ist mit Micaela, was würde sie tun, wie würde sie mit diesem Horrorerlebnis fertig werden ? Was sollten sie ihren Eltern sagen. Oder vielmehr der Mutter. Der Vater würde histerisch reagieren und wenn er betrunken war – was in den letzten Jahren immer häufiger vorkam – anderen davon erzählen. Sollten sie zur Polizei gehen ? Sollte er jemandem in der DDR Botschaft sagen, was für ein Schwein Kutschinski ist ? Ein Verbrecher.

      Sie schwiegen beide. Eine ganze Weile.

      “Sag’ nichts,” hörte er Micaela ganz leise. “Gar nichts. Zu niemanden.”

      “Spinnst du ? Wie stellst du dir dies vor ? Soll ich diese brutale Sau weiter chauffieren, als sei nichts geschehen ?”

      “Bitte !”

      Saidi war außer sich. Er glaubte fast, den Verstand zu verlieren. Als älterer Bruder hatte er sich immer als Beschützer seiner Schwester gesehen. Hatte er versagt ?

      Er musste sich beruhigen. Klaren Kopf behalten.

      Am nächsten Morgen war Sonntag. Gottseidank, er hatte frei. Zeit zum Nachdenken.

      *

      Obwohl es über 20 Jahre her ist, wühlte ihn die Erinnerung an diese Nacht mit seiner Schwester in Maputo immer noch auf. An Schlaf war jetzt nicht zu denken. Die Erinnerungen ließen ihn nicht los. An dem Sonntag war er trotz Wut und Rachegefühle nach quälenden Überlegungen zu dem Schluss gekommen, Micaelas Wunsch, überhaupt nichts zu unternehmen, zu respektieren. Kutschinski würde sowieso alles abstreiten. Er hatte außerdem Diplomatenstatus und konnte nicht belangt werden. Und er hatte gute Beziehungen zu den Behörden. Außerdem, wer hätte ihnen geglaubt. Sie hätten sich nur in Schwierigkeiten gebracht. Aber weiter für diesen Verbrecher arbeiten, konnte er nicht. Er konnte ihm nicht gegenübertreten, ohne seinem Drang, mit physischer Gewalt auf ihn loszugehen, nachzugeben. Er hatte sich daher an dem Montag krank gemeldet und war danach nie wieder dort hingegangen.

      Er hatte damals darüber sinniert, wie er Kutschinski bestrafen konnte. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr rückte dies in den Hintergrund. Obwohl sich sein Hass auf den Ostdeutschen in seiner Brust keineswegs verringerte.

      Micaela hatte sich zweifellos verändert. Sie war ernster geworden – und schweigsamer. Sie alberte kaum noch mit ihren Freundinnen herum. Aber sie ging zur Arbeit und schien okay.

      Dann passierte Ende August etwas, das das Leben der Familie Calhoun zutiefst erschütterte. Saidi wird den Tag nie vergessen.

      Sie standen an der Pforte vor dem Sandweg, der zur Veranda führte, und wollten Senhor Calhoun sprechen. Es war abends und Saidi war bereits von einem seiner Gelegenheitsjobs nach Hause gekommen. Er sah, wie sein Vater mit den beiden Polizisten ins Haus ging. Nach einer Weile kamen sie wieder heraus; sein Vater mit versteinertem Gesicht, dahinter seine Mutter laut weinend. Sie verschwanden alle in dem Polizeiwagen und fuhren weg, bevor Saidi etwas sagen konnte. Er war wie gelähmt. Er ahnte, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein musste.

      Als seine Eltern nach zwei Stunden zurückkamen, erfuhr er die schreckliche Wahrheit: Seine Schwester war in einem Zimmer des Hotels Southern Sun erschossen aufgefunden worden.

      Viel später erhielten sie das Ergebnis der Obduktion: Micaela war im dritten Monat schwanger gewesen.

      Die ersten Ermittlungen hatten ergeben, dass es kein Selbstmord war.

      Saidi war geschockt. Tieftraurig und niedergeschlagen konnte er zunächst keinen klaren Gedanken fassen. Zugleich überkam ihn eine ungemeine Wut.

      Die lokale Presse berichtete ausführlich über diesen Fall. Saidi ging jeden Tag zum Bahnhof , wo sich – wie in fast allen Bahnhöfen der großen Städte in der Welt – ein buntes Gemisch aus Einheimischen und Fremden tummelte. Auch im sozialistischen Maputo. Als architektonisches Juwel hatte der Bahnhof auf Fremde eine besondere Anziehungskraft und war beliebter Hintergrund für Erinnerungsfotos.

      Meistens ging er gegen Mittag, um entweder ein Exemplar der Fim de Semana oder der Noticias zu ergattern, Zeitungen, die andere bereits gelesen und weggeworfen hatten. Er wollte alles wissen, was mit dem Tod seiner Schwester zu tun hatte.

      Saidi las, dass Micaela mit einer PM-53, einer russischen Makarow Pistole getötet worden war. Er erfuhr weiter, dass dies eine Militärwaffe war, die über viele Jahrzehnte zur Standardausrüstung der Armeen in den sozialistischen Ländern gehörte.

      ‘Dann wurde diese Waffe auch von der NVA (Nationale Volksarmee) der DDR benutzt,’ kombinierte Saidi. Und Kutschinski war Major der NVA ! Das hatte der Ostdeutsche einmal drohend durchblicken lassen, als er Saidi befohlen hatte, über alles, was er hörte und sah zu schweigen.

      Seine anfänglichen Vermutungen wurden jetzt zu einem konkreten Verdacht. Diesmal zögerte er keinen Augenblick, der Polizei von seinem Verdacht zu berichten.

      Die Polizei war zunächst nicht bereit, Saidis Verdacht ernst zu nehmen und ihm nachzugehen. Das Verhältnis der Frelimo-Regierung und seiner Organe zu der Vertretung der Ostdeutschen durfte nicht getrübt werden. Zu sehr war das marxistische Regime auf die Unterstützung der DDR angewiesen, die neben der Sowjetunion der wichtigste Partner des Landes war. Da die Polizei aber keine anderen Anhaltspunkte hatte, war sie schließlich bereit, die Spur, auf die sie Saidi gesetzt hatte, zu verfolgen. Die Polizei hatte jedoch keine direkte Handhabe gegenüber Angehörigen diplomatischer Vertretungen und musste das Außenministerium einschalten.

      Saidi und seine Eltern hörten einige Tage gar nichts bis die Polizei Saidi noch einmal ins Präsidium beorderte, um ihm weitere Fragen zu stellen. Dabei erfuhr er, dass Kutschinski offenbar nicht auffindbar war. Verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

      Die nächsten Wochen waren unerträglich. Seine Mutter weinte oft und sein Vater trank noch mehr als sonst. Saidi war tief aufgewühlt. Seine Schwester war tot. Er hatte einen Teil seiner Familie verloren. Einen Menschen, zu dem er ein enges, vertrauens- und liebevolles Verhältnis hatte. Unwiederbringlich. Und er war überzeugt, den Mörder zu kennen. Aber er war zur Tatenlosigkeit verdammt. Keine Chance, seine Schwester zu rächen oder diesen Verbrecher seiner Strafe zuzuführen. Saidi war der Verzweifelung nahe. In den folgenden Wochen reifte in ihm das Verlangen, alles hinter sich zu lassen. Er wollte weg, am liebsten nach Europa oder Amerika.

      Saidi drehte sich von einer Seite auf die andere, vorsichtig, um Elvira nicht aufzuwecken. Wenn er heute daran dachte, wie er es geschafft hatte, aus Mosambik zu fliehen, erscheint es ihm wie in einem Film. Seine Kontakte zu den Drogenschmugglern aus Südafrika hatten ihm damals sehr geholfen. Man unterstützte ihn mit Geld, Transport und gelegentlich Unterkunft. Aber es dauerte fast eine Woche – entlang der Ostküste, dann westlich über Nelspruit und Witbank – bis er schließlich Pretoria erreichte, wo sich – wie er herausgefunden hatte - die US Botschaft in Südafrika