Peter Stockfisch

519 Park Avenue


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etwas brutalen Gesicht – das war doch … Nein, unmöglich ! Sowas gibt es nicht. Und doch: Es war Gerd Kutschinski. Obwohl sein Gesicht durch die Plexiglastrennwand mit den Aufschriften und Stickern etwas verdeckt war, war er fast sicher. Es war der Ostdeutsche aus Maputo, der Verbrecher, der so viel Leid über ihn und seine Familie gebracht hatte.

      Oder war es nur eine Täuschung ? Ein Albtraum, wie er ihn noch bis vor ein paar Jahren regelmäßig hatte. Träume, in denen er mit diesem Mann wild gerungen hatte. Gekämpft bis zur völligen Erschöpfung. Er wollte ihn töten, wusste aber nie genau, ob ihm dies gelungen war. Meistens wachte er vorher schweißgebadet auf.

      Dies war heute jedoch kein Traum. Es war Wirklichkeit.

      Durch die Öffnung der Trennwand versuchte er, noch mehr von der Unterhaltung seiner Fahrgäste aufzuschnappen. Die wechselten vom Englischen zwischendurch in eine andere Sprache, die Saidi zwar nicht verstand, aber an deren Klang er sich nur zu gut erinnerte. Es war Deutsch. Insbesondere lauschte er auf die Stimme des einen. Dabei schaute er immer wieder in den Rückspiegel – soweit es der dichte Verkehr erlaubte.

      Ja, er war es ! Ein Mörder !

      Saidi war eigentlich immer ein friedlicher Mensch gewesen, aber Kutschinski hatte er bittere Rache geschworen. Daran hatte sich auch in den vergangenen 20 Jahren nichts geändert. Sein Schmerz und seine Rachegefühle hatten sich zwar etwas abgeschwächt, nachdem seine Nachforschungen über das deutsche Generalkonsulat ergeben hatten, dass Kutschinski verschollen und für tot erklärt worden war. Aber der Zorn und der tiefe Schmerz saßen wie ein Stachel in seiner Seele. Und jetzt hatte das Schicksal eine nie erwartete neue Situation geschaffen.

      8.

      “Noch ein Bier, bitte !“ Werner Rehbein saß in einer Eckkneipe in der Auguststraße. Die Kneipe gab es auch schon vor der Wende an gleicher Stelle. Das hatte einen gewissen Seltenheitswert. Fast überall neue Geschäfte, Restaurants, Cafes, neue Kunstgalerien – die feinen Namen aus dem Westen und sogar ein nobles Hotel. Dieser Teil von Berlin war ’in’ geworden.

      Rehbein hatte zur Zeit keinen Job. Dies beunruhigte ihn nicht sonderlich. Er bekam Arbeitslosenunterstützung, hatte eine billige Wohnung um die Ecke und lebte jetzt allein, nachdem sich seine Frau kurz nach der Wende von ihm hatte scheiden lassen. Ein paar Jahre hatte er für eine Sicherheitsfirma gearbeitet. Einen solchen Job konnte er jederzeit wieder bekommen. Trotz seiner fast 48 Jahre und seiner Vergangenheit. Wollte er aber nicht. Jedenfalls nicht zur Zeit. Er hatte ein neues Hobby entdeckt, mit dem er sich täglich ein paar Stunden beschäftigte: Die Börse. Bei einem Online-Broker hatte er sich ein Portfolio eingerichtet, mit dem er sich akribisch beschäftigte. Er las die Analyseberichte der Banken, kaufte sich Anlegermagazine und Finanzzeitungen und surfte im Internet nach allem, was mit dem Aktienmarkt zu tun hatte.

      Die Grundlage seines Portfolios waren seine Ersparnisse, die noch aus der DDR-Zeit stammten. Beim MfS verdiente er gut und konnte jeden Monat etwas zurücklegen. Nicht zuletzt wegen der gelegentlichen Prämien bei Sonderaufträgen. Und dann war es wie ein Lotteriegewinn, als seine Ersparnisse nach der Wende eins zu eins in D-Mark getauscht wurden.

      Als er anfing, sich mit Aktien zu befassen – so Mitte der 90er – lief es sehr gut. Sein Portfolio wuchs. Dann allerdings musste er auch erfahren, dass die Reise nicht immer nur in eine Richtung läuft , und er verlor eine Menge Geld, insbesondere mit Technologieaktien.

      Er hatte jetzt Hunger.

      “Otto, machst du mir den Nudelauflauf ?” rief er in Richtung Tresen und wollte seine Zeitung, die ‘Financial Times Deutschland’ gerade beiseite legen, als sein Blick auf einen Artikel fiel: ‘US-Anleger verunsichert’. Rehbein hatte sein Geld überwiegend in deutsche Aktien investiert. Er hatte aber auch gelernt, dass man sich als Anleger diversifizieren sollte und hatte jetzt auch ein paar Dollarwerte in seinem Depot. Daher interessierte er sich auch für den US-Markt. Er las sogar manchmal Analysen auf Englisch. Es war zwar lange her, aber Einiges ist hängen geblieben: In der Hauptabteilung II des MfS gab es für besondere Kader Englischunterricht.

      Diesmal richtete sich sein Interesse jedoch nicht in erster Linie auf den Artikel, sondern auf ein Foto daneben, das jetzt halb verdeckt war. Er nahm die rosafarbene Zeitung wieder in die Hand und klappte die Seite mit dem Foto auf. Es zeigte drei Herren im Gespräch am Rande einer Veranstaltung der NASDAQ, dem elektronischen Freiverkehrsmarkt in New York, an dem vor allem Aktien aus dem Technologiesektor gehandelt wurden. Einer der Herren, links im Bild, kam ihm bekannt vor.

      “Das gibt es nicht !” murmelte er und wurde ganz rot vor Aufregung.

      “Das ist nicht möglich”, wiederholte er sich.

      “Stimmt ‘was nicht ?” hörte er Otto neben sich mit dem dampfenden Nudelauflauf in der Hand. “Auch noch ‘n Bier ?”

      “Ja, und dazu einen Kurzen !”

      Das ist er ! Kutschinski ! Aber es konnte eigentlich nicht sein, Kutschinski war tot. Rehbein erinnerte sich noch genau an den Tag, als in der Hauptabteilung II die Nachricht verbreitet wurde, dass der Leiter der Wirtschaftsabteilung der DDR-Botschaft in Maputo plötzlich verschwunden sei. Zur Aufklärung dieses mysteriösen Verschwindens hatte das MfS damals eine vierköpfige Delegation nach Mosambik geschickt. Deren Recherchen blieben jedoch ergebnislos. So hieß es jedenfalls. Es kursierten seinerzeit jedoch allerlei Gerüchte. Es war von Korruption, von Sexeskapaden und sogar von Mord die Rede. Offiziell wurden diese Gerüchte jedoch zunächst strikt dementiert. Das Verschwinden des Wirtschaftsattachees wurde vielmehr in Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg gebracht, in dem auch kriminelle Gruppen mitmischten. Langsam sickerten dann aber immer mehr Informationen durch und MfS-intern gab es kaum noch Zweifel, dass der Genosse in Maputo ein krimineller Schurke war.

      Zunächst galt Kutschinski als verschollen und wurde dann später für tot erklärt.

      Wie lange war das her ? Mehr als 20 Jahre. Er schaute sich das Bild noch einmal lange an. Kein Zweifel, das war er. Älter, natürlich, aber unverkennbar: Seine vollen, leicht gewellten Haare nach hinten gekämmt, kaum grau. Sein etwas brutal wirkendes Gesicht mit dem nach vorn ragenden breiten Kinn. Rehbein glaubte sogar, die markante Pockennarbe von der Größe eines Ein-Euro-Stückes unterhalb seines linken Ohres als dunklen Punkt auf dem Foto erkennen zu können. Und unverwechselbar seine etwas gebeugte Haltung, die seine1,87 ein wenig kaschierten. Die Bildunterschrift wies ihn aus als ‘der New Yorker Investmentbanker Lars Bergstraesser mit Kollegen’.

      Langsam fasste sich Werner Rehbein wieder. Er kippte seinen Vodka und spülte mit einem großen Schluck Bier nach. Er aß und dachte nach. Gerd Kutschinski, der sich jetzt anscheinend Bergstraesser nannte, war nicht nur ein riesiges Schlitzohr , sondern ein Verbrecher. Und ein Schwein.

      Er drückte eine Kurzwahltaste auf seinem Handy:

      “Ulf, halt’ dich fest, Kutschinski lebt ! Und offensichtlich nicht schlecht.”

      “Wovon redest du ? Wer lebt ? “

      “Der Herr Major aus Mosambik !”

      “Du spinnst.”

      “Lasst uns treffen, wie sieht’s mit heute Nachmittag um fünf aus ?”

      “Einverstanden, und wo ?”

      “’Maritim pro arte’ in der Friedrichstrasse, okay ?”

      *

      Ulf Servatzki saß schon in der Hotellobby, als Rehbein durch die Drehtür kam. Sie kannten sich seit 24 Jahren. Sie hatten sich zum ersten Mal bei einer Kaderschulung in Berlin getroffen. Da hatten sie auch Gerd Kutschinski kennengelernt, der bei dieser Schulung über seine Arbeit in Mosambik referierte. Beide waren etwa zum gleichen Zeitpunkt beim MfS angefangen. Als Rehbein 1984 zur Hautabteilung II kam, war Servatzky bereits über ein Jahr dort. Servatzky machte ihn mit den Kollegen und den Abläufen in der Abteilung bekannt. Im Laufe der Zeit freundeten sie sich miteinander an; sie waren beide etwa im gleichen Alter, und beide waren frisch verheiratet. Nach einer Weile luden sie sich auch gegenseitig nach Hause ein. Mitarbeiter des MfS hatten wenig oder überhaupt keinen privaten Kontakt zu anderen. Daher bot es sich gewissermaßen an, mit Kollegen