K. Ingo Schuch

Armadeira


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nach oben. »Dieser Angriffs- oder auch Abwehrhaltung verdankt die Phoneutria den Namen Armadeira, vulgo auch Bananenspinne oder Brasilianische Wanderspinne. «

      Yamato drehte das Buch herum und nahm wieder Platz. »Es kommt übrigens nicht gerade selten vor, dass Menschen von einer Armadeira gebissen werden, aber wenn es richtig schlimm ist, werden wir in der Regel sofort informiert. Wir haben für den Staat São Paulo fast achthundert dokumentierte Fälle, aber nur einen mit tödlichem Ausgang. Um Ihnen einen Vergleich zu liefern, ich habe kurz unsere Datenbank gefragt: In Santa Catarina sind es gerade einmal knapp achtzig gemeldete Bisse durch Phoneutria. «

      Er zeigte auf die gerahmten Zeitungsausschnitte und Diplome, die die Wände des Raumes säumten.

      »Wie Sie sicher wissen, ist das Centro de Biotechnologia des Butantan weltweit eines der führenden Institute im Bereich der Erforschung von Toxinen. Der moderate Eintrittspreis für die Besucher dient im Wesentlichen zur Erhaltung des Areals und der historischen Gebäude. Das Butantan untersteht letztendlich dem Gesundheitsministerium und hat einen Forschungsauftrag, zum anderen trägt sich die Einrichtung auch durch die Herstellung von Impfstoffen. Seit einigen Jahren sind verschiedene Teams des Laboratório De Artrópodes damit befasst, ein wirksameres und verträglicheres Antidot gegen das Gift der Phoneutria nigriventer zu synthetisieren. Sie sollten wissen, dass eine intravenös verabreichte Giftmenge von nur 0,006 Milligramm genügt, um eine zwanzig Gramm schwere Maus zu töten. Diese Toxizität wird von keinem anderen bekannten Organismus erreicht, vielleicht einmal abgesehen von der Seewespe, die zur Gattung der Würfelquallen gehört. «

      Teixeira unterbrach ihn: »Was ist ein Antidot? « Vanderlei tippte in seinem elektronischen Spielzeug herum. Wahrscheinlich hatte er die Antwort schon auf seinem Display.

      »Natürlich, entschuldigen Sie bitte. Ein Antidot ist vereinfacht gesagt ein Gegengift. Wir forschen hier intensiv mit unterschiedlichen giftigen Gliederfüßern. Weitere Teams befassen sich mit Amphibien. Sie sind zu mir gekommen, um meine Unterstützung für Ihren Fall einzufordern. Ich sehe ein erstes Indiz für einen gewaltsamen Tod in der Verletzung der Geschlechtsteile. Der Biss einer Phoneutria kann in bestimmten Fällen zu Priapismus führen, was ich als Dauererektion bezeichnen würde, allerdings ist diese für den Betroffenen äußerst schmerzhaft. Keinesfalls ist es aber so, dass dabei die Schwellkörper platzen, wie Sie es sich eventuell vorstellen mögen. Die Verletzung bei Ihrem Toten hat nichts mit dem Biss der Spinne zu tun, hier muss jemand Gewalt ausgewirkt haben. «

      Die Polizisten sahen sich an. Der japonês bestätigte die Vermutung, die der Gerichtsmediziner ebenfalls geäußert hatte.

      Yamato fuhr fort: »Vor ungefähr zwei Jahren haben Mitglieder meines Teams in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen von der John Hopkins Universität und der medizinischen Hochschule Georgia herausgefunden, dass ein bestimmter Bestandteil des Giftes von Phoneutria nigriventer, Tx2-6, die Produktion des Botenstoffs cGMP, dem Cyclischen Guanosinmonophosphat, anregt. Dieser entspannt die Penis-Muskeln, um während der Erektion den Blutzufluss zu erleichtern. Unsere Pharmaindustrie möchte natürlich am besten gleich in die industrielle Produktion von Tx2-6 einsteigen. Wer den weltweiten Siegeszug von Viagra vor Augen hat, kann sich vorstellen, welche Summen mit einer möglicherweise noch wirkungsvolleren Substanz zu verdienen sind. «

      Vanderlei unterbrach den Doktor. »Ich muss hier doch einmal nachfragen. Sie sprechen von industrieller Produktion. Wie viele Spinnen werden denn benötigt, um ausreichende Mengen dieser Substanz aus dem Gift zu extrahieren? Ich nehme doch nicht an, dass die Tiere so groß werden wie in den amerikanischen Horrorfilmen. « Er schien sehr deutliche Assoziationen zu haben.

      »Delegado, Sie haben den Kern erkannt. «, konstatierte Yamato. »Mittlerweile ist die Mehrzahl der Wirkstoffe, die sich in aktuellen Pharmaka wieder finden, synthetischen oder halb-synthetischen Ursprungs. Im Gegensatz zu Wirkstoffen, die durch chemische Extraktion und Konzentration aus natürlichen Ressourcen hergestellt werden, wie etwas das Kokain aus den Blättern des Kokastrauchs. Tx2-6 lässt sich synthetisch nicht reproduzieren. Ich möchte Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Lassen Sie es mich so zusammenfassen: Die Forschung dauert an. Es mag sein, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, die Zulassung für ein neues Potenzmittel zu erhalten, aber von einer industriellen Produktion sind wir noch weit entfernt, weil man durch das Melken der Tiere keine ausreichende Mengen gewinnen kann. Zudem können Sie nicht durch das ganze Land fahren und jede Phoneutria einfangen. «

      Teixeira war aufgestanden und ans Fenster getreten. Draußen spazierten die Besucher durchs Butantan. Nachmittags waren viele Familien mit ihren Kindern hier, man gruselte sich gemeinsam vor den haarigen, züngelnden oder krabbelnden Lebewesen, deren Anwesenheit in der Großstadt gleichermaßen exotisch wie ungefährlich war, schließlich befanden sich die Viecher in Glaskästen oder hinter unüberwindbaren Mauern.

      Er drehte sich um und sah Yamato scharf an. »Doktor, der arme Tavares musste nicht sterben, weil sich zufällig eine Giftspinne zum Strand herunter verirrt hat und ihm das Gift einen Ständer verpasst hat, dass ihm das Blut aus allen Poren kam. Sie sprechen von einem gewaltsamen Tod. Welche Anhaltspunkte haben Sie noch? «

      »Tavares? Ist das der Name des Toten? Doktor Sobrinho hat ihn nicht erwähnt. «

      Teixeira antwortete: »Der Name des Toten tut auch nichts zur Sache. Er kam nicht von hier sondern war nur zu Besuch in Juquehy. «

      Yamato lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück.

      »Então. Selbst, wenn eine Phoneutria sich in das Strandhaus verirrt und den bedauernswerten Mann gebissen haben sollte, da gibt es doch gerade in der Ferienzeit sicher ganz viele andere Menschen, nicht? Das Gift ist keinesfalls sofort tödlich. Man hat in aller Regel durchaus Zeit, noch einen Arzt zu rufen. Alle Pronto-Socorro, Hospitäler und niedergelassenen Ärzte sind angewiesen, umgehend das Butantan zu verständigen, wenn der Patient bestimmte Symptome zeigt, die auf den Biss einer sehr giftigen Schlange oder auch einer Spinne hinweisen. Und selbst wenn der Biss im Schlaf erfolgt wäre, wäre er aufgrund der Schmerzen und der einsetzenden Tachyarrhythmie unbedingt aufgewacht. Der Mann hätte höchstwahrscheinlich noch Zeit gehabt, zum Telefon zu greifen oder er wäre auf die Straße gelaufen. Offenbar hat man ihn auf der Couch gefunden. Unbekleidet dazu. «

      Yamato sah von einem zum anderen. Mit erhobenem Zeigefinger fällte er sein Urteil: »Ihr Mörder setzt eine Spinne auf den Mann an, verhindert, dass er weglaufen und einen Arzt rufen kann, vielmehr schaut er zu, wie das Opfer unter Qualen verendet, und dann macht er sich offenbar noch an seinem Geschlechtsteil zu Schaffen. Sie sollten mal Ihre Psychologen befragen, wie krank jemand sein muss, um so etwas zu tun. «

      Vanderlei drehte sich zu Teixeira mit diesem bestimmten Gesichtsausdruck, der zum Ausdruck bringen sollte, dass er eine grandiose Scheiße witterte.

      »Chefe, der unzweifelhaft kompetente Doktor hier spricht von Mord. Damit wären wir ganz offiziell im Geschäft. Doktor, wie sicher sind Sie, dass es sich nicht doch um einen Unglücksfall handelt und es vielleicht durch eine Verkettung unglücklicher Umstände nur so scheint, als läge bei Tavares eine Fremdeinwirkung vor? «

      Yamato erwiderte: »So sicher, wie jemand überhaupt sein kann, wenn er nicht persönlich anwesend war. « Er erhob sich. »Haben Sie noch Fragen? Ich müsste seit fünf Minuten in einer Konferenz sitzen. «

      Sie bedankten sich und gingen zur Tür. Teixeira wendete sich noch einmal an Dr. Yamato: »Sagen Sie, wo bewahren Sie eigentlich das Gift auf, das Sie für Ihre Forschungen benötigen? «

      Der Biologe zeigte aus dem Fenster. »Im Laboratório Piloto de Vacinas dort drüben befindet sich ein absolut sicherer Raum, der nur mittels Zugangscode zu betreten ist. Dort lagern wir alle Proben, die wir entweder selbst gewinnen oder die uns aus allen möglichen Ländern zugesendet werden. Sie werden auf der ganzen Welt wenige Institute finden, die über einen solchermaßen sortierten "Giftschrank" verfügen. «

      Auf dem Weg zum Auto hatte Teixeira eine Eingebung. Er zog Vanderlei zum Museo Biológico. Seine Dienstmarke ersetzte die Eintrittskarte und sie durften durch das Drehkreuz gehen. Zügig schritten sie an den Terrarien vorbei, in denen giftige und ungiftige Schlangen unterschiedlicher Größe