Hans Bahmer

Vier Jahre Türkei


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sich durch die Menschenmassen. Musikanten mit Trommeln und Flöten sind unterwegs und spielen auf Wunsch ein Ständchen. Bereits ohne Kamele ein archaisches Bild, das durch Auftritt dieser urigen Lebewesen noch verstärkt wird.

      Man fühlt sich unwillkürlich in die Zeit Conrad Gesners versetzt, der in seinem Thierbuch 1669 über das Dromedar schreibt: „Sie werden in unseren Landen als Schauspiel zum Wunder umher geführet.“ Lonicerus weist 1679 auf die Musikalität der Kamele hin: „Der Music/ Drommeln/ Drompetten und andern dergleichen Musicalischen Instrumenten hören sie mit grossem Lust und Begierde zu/ und lernen auch etwan nach denselbigen dantzen.“ Trotz der Musik, die in der Luft liegt, ist den Kamelen heute nicht zum Tanzen zu Mute, schließlich sind es alles gestandene Kamelhengste, die sich gegenseitig nicht ausstehen können und nur darauf warten, dem Nachbarn zu zeigen, wer hier das Sagen hat.

      Wie erregt die Tiere sind, belegt ihr Verhalten: Hochheben des Kopfes, Zeigen des Kehlbartes, Schlagen mit dem Schwanz, starke Speichelbildung, Spreizen der Hinterbeine, Koten und Harnen gelten als Imponierverhalten der männlichen Dromedare. Aber kein Ton dringt aus den aufgeputschten Tieren, obwohl diese mit einem aus dem Mund ausgestülpten Brüllsack von ihrer Natur her nicht zu den Stimmlosen gehören.

      Des Rätsels Lösung für das stumme Leiden der Kreatur: Man hat ihnen den Mund zu gebunden, so können sie sich gegenseitig bei ihren Kämpfen nicht beißen, aber auch keinen Ton hervorbringen. Trotz dieser Entschärfung ist der Kampf, bei dem die beiden Hengste versuchen, sich mit ihren Hälsen in einer Art Ring- und Schiebekampf niederzudrücken, nicht ganz ungefährlich. Schließlich wiegt so ein Kamel bis zu 700 kg und kann den unterlegenen Gegner leicht erwürgen. Um dieses zu verhindern, gibt es zwei „Tauziehmannschaften“, die, wenn der Schiedsrichter den Kampf entschieden hat, den beiden Kontrahenten Taue um Höcker und Beine werfen, um dann die ineinander verkeilten Tiere zu trennen. Nicht ganz ungefährlich für alle Beteiligten, denn es ist nie vorherzusehen, wie sich der Knäuel aus Kamelen, Tauen und Helfern entwirren wird.

      An diesem Wettkampftag verläuft alles glimpflich. Nur ein Kamel durchbricht den Zaun der Wettkampfarena und überrennt dabei einige im Weg stehende Menschen. Eine anderes wird gerade noch, bevor es den Wagen mit der Wettkampfleitung erreicht, zum Stehen gebracht. Für die 80 Kamele, die in 40 Zweikämpfen gegeneinander antreten, gibt es allerdings nichts zu gewinnen. Kein Weibchen wartet auf den Sieger. Verletzen sich die Tiere lebensgefährlich im Kampf, werden sie notgeschlachtet und landen im Kochtopf. Überstehen sie die Auseinandersetzung, packt man sie auf Lastwagen, verschnürt sie wie ein Paket und fährt sie nach Hause bis zum nächsten Auftritt. Sterben sie irgendwann eines natürlichen Todes, steht ihnen eine Beerdigung in Aussicht.

      Gewinner ist in jedem Fall der Mensch. Jedem Wettkampfteilnehmer gehört ein Teppich, den Siegern winken Geldpreise und die vergoldete Statue der „vielbrüstigen Artemis Ephesia“. Für den einheimischen Zuschauer ist es ein Volksfest mit Tierhatz wie zu Neros Zeiten. Ein überholtes Fest auf Kosten einer anderen Kreatur, ein Anachronismus in einer Zeit der aufkommenden virtuellen Unterhaltung im Cyberspace.

       EIN BAUM LIEFERT ZAHNBÜRSTEN

      

       Im Umfeld einer Moschee wird gewöhnlich alles angeboten, was ein Muslim in Ausübung seines Glaubens benötigt. Manchmal sind die Waren in nicht zu übersehenden Ständen aufgebaut, ein andermal findet man die Artikel in einem versteckten Lädchen in der Nähe des Heiligtums. Verkauft werden zum Beispiel Gebetsteppiche, die gerade so groß sind, dass man darauf das rituelle Gebet verrichten kann. Das Material reicht von edler Seide bis zur billigen Kunstfaser. Nicht jeder scheint im Besitz eines solchen Teppichs zu sein, was besonders beim Freitagsgebet deutlich wird, wenn viele Gläubige wegen des großen Andrangs vor der Moschee beten müssen. Die wenigsten benutzen dann einen Gebetsteppich, sondern Kartons aller Arten als Unterlage für ihre Gebetsriten. In den Auslagen sind eine Überfülle von Gebetsketten ausgestellt. Sie bestehen oft aus 99 Perlen, können sich aber in Material und Größe gewaltig unterscheiden. Ursprünglich aus edleren Stoffen gemacht, setzt sich inzwischen das Kunststoffmodell in allen möglichen Farbvariationen mit allerlei Verzierungen durch. Nur noch selten sieht man Ketten aus Bernstein, echten Steinen oder Olivenkernen. Ebenfalls zur Grundausrüstung des Muslim gehört das Gebetskäppchen, das der Verheiratete gewöhnlich von seiner Frau in Eigenarbeit verpasst bekommt. Der Muslim-Single kann sich dagegen in den Auslagen bedienen. Selbstverständlich gibt es auch für Musliminnen die von ihrer Religion vorgeschriebenen Artikel. Was in jedem Fall immer vor einer Moschee angeboten wird, und wenn es nur von einem fliegenden Händler mit einem „Bauchladen“ ist, sind Hygieneartikel. Dazu gehören neben Seifen diverse Parfüms, die mit einer Glasspritze in kleine Fläschchen abgefüllt werden. Hier findet man die Holzzahnbürste.

      Die Moschee in Eyüp, einem Stadtteil von Istanbul, gilt als das wichtigste islamische Heiligtum der Stadt. Hier kam einst der Bannerträger Mohammeds bei einer Schlacht ums Leben und wurde schließlich an diesem Ort beigesetzt. Ein zusätzlicher Grund für den Gläubigen dorthin zu pilgern. Auf den letzten paar Metern zur Moschee von Eyüp passiert der Pilger Läden und Stände, die das anbieten, was man anscheinend so braucht. Das Warenangebot reicht vom Wecker in Moscheeform bis zum reich verzierten Koran. Zwischen den mehr oder weniger religiösen Utensilien in den Auslagen fällt ein Kästchen mit unscheinbaren, hellbraunen, ein Zentimeter starken, zwanzig Zentimeter langen Stöckchen auf, die schwach aromatisch riechen.

      Es handelt sich um Ästchen von Salvadora persica, einem Baum der Dornsavanne. In Pakistan und Indien werden diese trocken- und salzresistente Pflanze und ihre Artverwandten angebaut. Diese Pflanze der Baumsteppe ist in mehrerer Hinsicht nützlich.

      Sie eignet sich als Windschutz, die Früchte lassen sich verzehren und die Äste an das Vieh verfüttern oder handverlesen als Zahnbürsten gebrauchen. Als natürliche Hygieneartikel sind sie hier im Umfeld der Moschee in die Auslagen geraten. Denn schon lange bevor es die ewig währende Diskussion darüber gab, wie die optimale Zahnbürste auszusehen hat, und aus welchen Materialien sie herzustellen ist, um den Feind im Mund zu bekämpfen, existierte der Zahnbürstenbaum, der Produzent der Äste aus den Auslagen von Eyüp.

      Entfernt man die Rinde, entsteht eine faserige Quaste, mit der man sich die Zähne putzen und das Zahnfleisch massieren kann. Die sich von selbst erneuernde Urzahnbürste reinigt und massiert nicht nur, sondern ihre Inhaltsstoffe wirken sich gleichfalls wohltuend auf die strapazierten Beißerchen aus.

      Dieses haben findige Köpfe längst ausgenutzt und die Wirkstoffe für eine Zahncreme verwendet, die selbstverständlich obendrein noch zum Verkauf angeboten wird. Im Markraum der Hölzer befinden sich Kalziumsulfat, adstringierende Tanine, entzündungshemmende Saponine und schmerzstillende Stoffe.

      Zähneputzen ist mehr als nur eine Maßnahme der Mundhygiene, denn nach Mohammed zählt ein Gebet, vor dem man sich die Zähne geschrubt hat, 75 mal mehr als eine Gebet ohne vorherigen Einsatz der Zahnbürste.

      Ob nun der Zahnbürstenbaum das bessere Zahnpflegeset liefert oder die zahnmedizinische Wissenschaft, sei dahingestellt. Der Händler Ibrahim hat sich bereits für die Holzzahnbürste entschieden, die er da aufbewahrt, wo andere Menschen allenfalls den Kugelschreiber stecken haben, nämlich griffbereit in der Brusttasche des Hemdes. Für den Kunden ist er jederzeit zu einer Demonstration am eigenen Leib bereit, bei der man nicht nur die Zahnbürste in Aktion sieht, sondern auch einen Blick auf Ibrahims gesunde Zähne werfen kann. Die Naturzahnbürste entsteht in jedem Fall zum Nulltarif in Gottes freier Natur und macht nach Gebrauch keine Entsorgungsprobleme, da sie den Gang alles Irdischen geht.

       AUGEN GEGEN DEN BÖSEN BLICK

       Die abschreckende Wirkung des Auges wird in der Natur schon lange von zahlreichen Tierarten genutzt. Harmlose Schmetterlinge erschrecken ihre Feinde durch Augenflecken auf den Flügeln. Raupen und Schlangen stiften Verwirrung durch Aufblähen bestimmter mit Augenflecken versehener Körperteile. Solche Augenattrappen finden sich auf dem Gefieder des Pfauhahns, auf den Körpern von Fischen und der Oberschenkelinnenseite der Fangarme von Gottesanbeterinnen. Das Augen-Vorbild aus der Natur wird nicht nur von der modernen Fluggesellschaft