Alexander Reiter

Das Schöpfer-Gen


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„Seitdem ich die Rollen das erste Mal gesehen habe, beschäftige ich mich ausschließlich mit ihnen. Und ich wusste bald auch, dass dies alles passieren würde.“

      Seine letzten Worte wirkten wie eine kalte Dusche. Paul stand auf und blickte sich wütend um, Wright stand schon, und jetzt sprang auch ich auf. „Sie wussten davon? Und Sie haben nichts unternommen? Wie konnten Sie nur? Ich … die Leute … all die Toten …“ Mir presste es die Kehle zusammen und ich musste mich an der Lehne meines Stuhls festhalten. „Paul, was denkst du?“

      Doch meinem Freund hatte es ebenfalls die Sprache verschlagen.

      Callahan blieb ruhig. Wo nahm er nur seine Gelassenheit her? „Ich wusste, dass und wann es passieren wird, aber nicht wo. Und um Ihre Frage zu beantworten, ich habe etwas unternommen, Mr Cole, warum, glauben Sie, stehe ich hier vor Ihnen? Nur leider reagierten die meisten Länder zu spät auf die Katastrophenwarnung unserer Regierung.“

      In mir drehte sich alles. „Okay …“, sagte ich langsam. „Und was steht jetzt eigentlich so Wichtiges in Ihren Schriftrollen, dass es niemand lesen sollte? Können Sie uns das jetzt verraten?“

      „Ganz einfach, Mr Cole, unter anderem – Ihre Geschichte!

      Kings College, London/19.00 Uhr (GMT)

      Mark Stettler seufzte. Gefühlt seit Stunden hielten er und Ann Singer einen Video- und Telefonmarathon ab. Sie hatten die angeschlossenen Forschungseinrichtungen in aller Welt informiert und ihnen ihre jeweilige, ihrem Teilgebiet entsprechende Aufgabe zugeteilt. Singer kümmerte sich um die neurowissenschaftlichen Einrichtungen und wies sie an, Versuchsreihen zu neuronalen Veränderungen zu starten. Stettler instruierte seinerseits die Genetiker und Molekularbiologen, die nach genetischen Anomalien suchen sollten. Ihm schwirrte der Kopf, und er sehnte sich nach einem doppelten Espresso. Mit Schuss. Und nach ein paar Minuten allein mit Ann, um seine Gedanken zu sammeln. Doch das musste warten. Er sah zu, wie sich Anns Gesicht zu einem Lächeln verzog, als sich Dr. Singh, einer ihrer alten Studienkollegen vom National Center for Biological Sciences in Bangalore, von ihr verabschiedete. Er würde die Vernetzung der weiteren Forschungseinrichtungen in Indien wie des Life Sciences Center in Bhubaneswar ermöglichen.

      Eine halbe Stunde später nippte Stettler endlich und mit seligem Gesichtsausdruck an einem Kaffee, der zwar den Namen Espresso nicht verdiente, aber zumindest Koffein enthielt. An die hundert Computerspezialisten und unzählige Helfer waren dabei, eine High-Tech-Ausrüstung zu installieren, die es ermöglichte, alle beteiligten Personen direkt miteinander agieren zu lassen, wo auch immer auf der Welt sie sich gerade befanden. Vernetzte Videoleinwände und Echtzeitübertragungen sollte den Wissenschaftlern einen permanenten Austausch ermöglichen. Alle Informationen wurden auf speziellen Datenplattformen hinterlegt und konnten jederzeit abgerufen werden.

      So die Theorie. In diesem Moment wurde Stettlers Bildschirm schwarz. „Hey, was soll das denn?“ Er stellte seine Tasse ab und tippte auf dem Keyboard herum, klickte mit der Maus, klopfte gegen das Display. Nichts. Der Bildschirm blieb tot. Dafür hörte er, wie der Chef der IT-Elektriker einen seiner Mitarbeiter anschrie. „Du hirnrissiger Volltrottel hast die Leitung gekappt! Ich lese gerade eine Tonne Daten aus, ja, bist du noch zu retten?“

      „Sorry, Chef“, schrie der zurück in den Gang. „Da war einfach zu wenig Platz. Ich hab das Netzwerkkabel erwischt“, fügte er kläglich hinzu.

      „Dann mach dir mehr Platz, verdammt“, hörte man wieder von hinten.

      „Aber Chef, dann muss ich die Wand einreißen!“

      „Dann reiß das gottverdammte Ding ein, aber gib Gas!“

      Stettler verlor die Geduld. „Gott im Himmel, ist jetzt mal Ruhe hier! Reißen Sie die Wand ein oder was auch immer Sie machen müssen, oder legen Sie das Kabel durchs Fenster, das ist mir egal, aber ich brauche in fünf Minuten wieder eine Computerverbindung! Verstanden!?“

      Der Techniker zuckte ungerührt mit den Schultern. „Durchs Fenster, aye, aye, Sir.“

      Stettler beschloss, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen und flüchtete mitsamt seinem Laptop. Er würde die Anlieferung des DNA-Sequenzers überwachen. Frank, einer der Assistenten, hatte den Sequenzer aus der Verpackung geschält und stand etwas ratlos davor. Stettler grinste. Schön, wenn man den Jungspunden aus der Uni noch etwas erklären konnte, dachte er und nahm dem Assistenten das Heft mit der Anleitung aus der Hand. „Vergiss das Manual. Ich erklär ’s dir. Das Prinzip ist Folgendes: Wir arbeiten hier mit Nanoporen. Wenn also DNA-Moleküle die Pore passieren, führt das zu einer Verringerung des Ionenflusses. Diese Nukleotid Amplituden können wir messen und zuordnen. Unsere Software zeigt uns dann die Ergebnisse. Toll bei diesem Verfahren ist, dass auch lange DNA-Stränge in größter Genauigkeit angezeigt werden können.“

      Frank wirkte immer noch überfordert, und Stettler fügte tröstend hinzu: „Mein Laborchef erklärt dir das dann noch im Detail.“

      Ann Singer winkte ihm zu, sie hatte ein Telefon ans Ohr gepresst und sah fast genauso gequält drein wie Frank. Stettler lauschte einen Moment und erkannte, dass sie mit dem Forschungsleiter der Universität Cornell in New York sprach. Er sollte gemeinsam mit den Teams anderer Forschungseinrichtungen Erklärungen für die telepathische Massenübertragung und die neuronalen Veränderungen finden. „Nein, Sie hören mir jetzt zu“, sagte Singer streng und klopfte mit ihrem Kugelschreiber auf der Tischplatte herum. „Das hat absolute Priorität. Sie lassen alles stehen und liegen, verstanden?“ Einen Moment schwieg sie, dann schüttelte sie so heftig den Kopf, dass sich ihr Zopf löste und ihr einzelne Strähnen ins Gesicht fielen. „Ihre Aufgabe wird sein, eine Erklärung für diese Massenübertragung zu finden.“ Ungeduldig schob sie eine Strähne hinter das Ohr. „Ganz genau. Wir alle. Lassen Sie mich wissen, wie Sie vorankommen. Ich schicke Ihnen per Mail unsere bisherigen Ergebnisse.“ Damit legte sie auf und sah Mark mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Warum können Männer nicht einfach eine simple Anweisung befolgen?“

      Worauf dieser nur mit den Schultern zuckte. „Was machen denn die Kollegen in Lausanne?“, fragte er interessiert.

      „Die sind damit beschäftigt, die neu aktivierten Retroviren-DNA-Sequenzen zu untersuchen, um deren Bedeutung und Funktion zu entschlüsseln“, erklärte Singer. „Die ersten Daten habe ich schon von ihnen bekommen, aber sie stellen zu viele Fragen, anstatt das zu tun, worum ich sie bitte. Aber jetzt zu deinem Spezialauftrag. Wie sieht ’s aus?“

      Mark grinste. Callahan hatte ihn gebeten, von David Cole eine DNA-Analyse durchzuführen und ihn dann über die Ergebnisse zu informieren.

      Er berichtete, wie er und das Team zuerst in Coles Wohnung gefahren waren, um nach Zell- und Haarproben zu suchen. Proben in Coles Wohnung zu finden, war nicht das Problem gewesen, doch hinterließ seine Wohnung einen bleibenden Eindruck. In der Küche stapelten sich die Teetassen im Spülbecken, und der Wasserkocher wirkte wie ein Relikt aus grauer Vorzeit. Pizzaschachteln markierten den Weg ins Wohnzimmer. „Nicht mal zu unseren schlimmsten WG-Zeiten sah es bei uns so aus“, schloss er und schüttelte sich, als er an den Glastisch im Wohnzimmer dachte, auf dem sich ein bunter Reigen an Flaschen, Zigarettenkippen und Cola-Dosen befand.

      „Klingt spannend. Wartest du hier auf mich? Ich bin gleich wieder da. Frische Luft.“ Ann schob sich an Mark vorbei und verließ das Institut. Es war unübersehbar, dass hier etwas Außerordentliches im Gange war; Hubschrauber starteten und landeten, Sicherheitspersonal war immer noch dabei, das Areal abzuriegeln, Kabeltrommeln standen überall im Weg.

      Stunden später drückte Mark leise stöhnend die Handballen auf die geschlossenen Lider, sah bunte Punkte tanzen. Schon längst hatte er die Kontaktlinsen, die er sonst trug, mit einer Brille getauscht, doch richtig besser wurde es nicht. Er blickte momentan entweder auf winzige Datenkolonnen oder in ein Mikroskop. Doch er wusste, es ging hier allen so. Pausen gab es nicht. Oder, wie sein Doktorvater früher immer gesagt hatte, „Pausen können Sie sich dann leisten, Stettler, wenn Sie meine Vorlesung überlebt haben.“ Niemand meckerte, alle wussten, dass sie an etwas Lebenswichtigem – nein, Überlebenswichtigem arbeiteten.

      Jetzt