Hubert K.

Bei der Laterne wolln wir stehn


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waren am Rathaus angekommen und blieben unvermittelt stehen. Die Fahrzeuge waren denen der Wehrmacht sehr ähnlich, die vor einigen Tagen durch den Ort gekommen waren. Von der Besatzung der beiden Panzer war nichts zu sehen, auf den offenen Jeeps saßen jeweils vier Soldaten, die ihre Gewehre in den Händen hielten und einigermaßen gelassen wirkten.

      Anscheinend waren die Franzosen darauf vorbereitet, auf keinen Widerstand mehr zu stoßen. Einer der Geländewagen hatte seitlich ein Megaphon, aus dem, für sie völlig überraschend, plötzlich eine Stimme in schlechtem Deutsch zu hören war: “Deutsche Bevölkerung. Hier spricht die französische Armee. Wir sind gekommen, um Sie von der Herrschaft der Nationalsozialisten zu befreien.”

      Neben ihr waren außer einigen älteren Männern auch andere Frauen, die ebenfalls ihre Kinder oder einen mit Wäsche beladenen Leiterwagen in der Hand hielten. Sie alle standen da und machten keine Anstalten, irgendetwas zu unternehmen. Wieder war die Stimme aus dem Lautsprecher zu hören, die mit französischem Akzent versicherte: “Bitte leisten Sie keinen Widerstand, dann geschieht Ihnen nichts. Wir werden Ruhe und Ordnung wieder herstellen”.

      Spontan fragte sie sich, wieso Ruhe und Ordnung wieder hergestellt werden müssten. Abgesehen davon, dass Richard in Russland gefangen war, ging hier bis dahin eigentlich alles seinen gewohnten Gang. Sie schaute fragend zu den anderen hinüber, die mit regungslosen Gesichtern dastanden und nach wie vor ohne jegliche Reaktion auf die französischen Soldaten starrten.

      In der Zwischenzeit waren weitere Jeeps und auch zwei Lkw im Dorf angekommen. Die Fahrzeuge hatten Mühe, die Kolonne zu verlassen und sich auf dem Platz in der Ortsmitte zu sammeln. Ihr war die Hauptstraße nie so schmal vorgekommen, doch die nächsten Minuten waren geprägt davon, dass die Lkw hin und her rangierten und ihren anscheinend vorgesehenen Platz bezogen.

      Von den Ladeflächen der beiden Lkw sprangen etwa zehn Soldaten, zumeist sogenannte Marokkaner, die gemeinsam mit zweien der Geländewagen in die Schulstraße einbogen. Sie hatten wohl vor, auch dort ihre Ankunft mitzuteilen und für “Ruhe und Ordnung” zu sorgen. Durch die entstandene Unruhe schienen einige der Dorfbewohner ihre Furcht verloren zu haben und begannen, sich leise und unauffällig miteinander zu unterhalten.

      Kurt und Karla waren erstaunlich still und stellten keinerlei Fragen. Fragen, auf die auch sie keine Antwort gehabt und die sie selbst gerne wem auch immer gestellt hätte. Auch die anderen Kinder schienen sehr beeindruckt und blieben an der Hand ihrer Mütter. Es war wohl für jeden einzelnen, ob Mutter oder Kind, das erste Mal, dass französische Soldaten oder auch Menschen mit dunkler Hautfarbe vor ihnen standen.

      Mittlerweile hatte sie Karla vom Arm genommen und hielt sie nun an der Hand. Auch Kurt stand brav neben ihr und versuchte nicht mehr, sich loszureißen. Mit seinen wachen, blauen Augen schaute er umher und bemühte sich wohl, die Lage zu beurteilen. Plötzlich kam auch sie sich vor wie ein Kind, das etwas nicht verstand und bei dem keiner in der Nähe war, der es ihm hätte erklären können.

      Ein weiteres Mal war die Stimme aus dem Megaphon zu hören: “Bitte geben Sie Ihre Waffen ab. Wenn Sie uns unterstützen, wird Ihnen nichts geschehen.” Sie hatte keine Waffen, die sie hätte abgeben können. Lediglich ihr Schwager Robert hatte noch das alte Gewehr des Schwiegervaters, das im Schlafzimmer neben dem Schrank an der Wand lehnte. Er schien im Haus geblieben zu sein, stand wahrscheinlich am Fenster und überlegte genauso wie sie, wie er sich am besten verhalten sollte.

      Die Franzosen verhängten eine Ausgangssperre bis zum nächsten Morgen. Weil die Mannschaftsdienstgrade nun anfingen, einige junge Frauen zu belästigen, hatte sie es sehr eilig, mit den Kindern nach Hause zu kommen. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie ins Dorf gekommen war. Sie hatte im Backhaus Brot gebacken und wagte es tatsächlich noch, vor dem Nachhause gehen die beiden mittlerweile etwas angebrannten Laibe aus dem Ofen zu holen. Daraufhin ging sie mit den Kindern die Hauptstraße entlang und, so schnell und unauffällig sie konnte, zurück nach Hause.

      Sie hatte die Brotlaibe in ein Geschirrtuch eingewickelt und unter den Arm geklemmt. Karla hielt sie mit der rechten Hand, Kurt lief ruhig neben ihnen her. Sie kam am Haus der Schwiegereltern vorbei und schaute, ob sie hinter den Fensterscheiben irgendetwas erkennen konnte. Von Robert, ihrem Schwager, war jedoch nichts zu sehen. Anscheinend hatte er mitbekommen, dass nun jeder im Haus bleiben sollte.

      Das alte Fachwerkhaus stand da wie immer, als ob ihm noch keiner gesagt hätte, dass nun alles anders werden würde. Dass die Welt oder das, was man hier im Dorf für die Welt hielt, nicht mehr länger so bleiben würde wie bisher. Die Geranien an den Fenstern waren kurz davor zu blühen und schienen nicht bemerkt zu haben, dass nun alles, woran die Menschen hier geglaubt hatten, schlagartig und unwiderruflich in sich zusammenbrach.

      Selbst auf dem Heimweg sprachen Kurt und Karla kein Wort. Dennoch versuchte sie, die beiden und damit auch sich selbst so gut es ging zu beruhigen. Dass sie sofort zu Hause seien und es gleich etwas zu essen gebe. Dass bestimmt alles wieder gut werde und sie sich keine Sorgen machen müssten. Plötzlich meinte sie zu spüren, dass ihre Kinder darauf vertrauten, bei ihr in Sicherheit zu sein. Doch anstatt sich darüber zu freuen, trieben der Gedanke daran und das Wissen um die eigene Hilflosigkeit ihr die Tränen in die Augen.

       Kapitel 2

      Sie war erst 1936 in den Ort gekommen, als sie mit damals 21 Jahren Richard geheiratet hatte. Ursprünglich stammte sie von einem Bauernhof, der nahe an der Grenze zu Bayern lag. Sie sah den Hof ihrer Eltern und die Scheune vor sich und wusste sogar noch die Namen der vier Kühe und der beiden Pferde, die zuhause im Stall standen.

      Vor allem die Pferde liebte sie über alles, obwohl es keine Reitpferde waren, die sie als Kind hin und wieder auf Bildern gesehen hatte. Es waren Kaltblüter, die in erster Linie dazu da waren, schwere Arbeit zu verrichten und einen Wagen oder den Pflug zu ziehen. Die beiden Pferde hießen Elsa und Emma und sie verbrachte viel Zeit damit, sie nicht nur zu striegeln und die Mähne zu kämmen, sondern ihnen auch Futter zu geben und den Stall auszumisten.

      Als kleines Kind träumte sie immer davon, auf einem der beiden Tiere über die Felder zu galoppieren. Hinter dem Wald ging die Sonne unter und das warme, weiche Licht ließ die Tannen noch dunkler als sonst erscheinen. Ihre langen Haare wehten im Wind und das Pferd bewegte sich mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die man einem Kaltblüter niemals zugetraut hätte.

      Ihr Vater schien kein Verständnis für die Vorliebe seiner Tochter zu haben. Er wusste es zu schätzen, dass sie sich intensiv um die beiden Pferde kümmerte und er das Ausmisten des Stalles nicht auch noch selbst erledigen musste. Die beiden Pferde waren aber zum Arbeiten da und seine Tochter konnte froh sein, wenn sie auf dem Weg zum Feld ab und zu auf dem Rücken eines der Pferde sitzen durfte.

      Umso mehr freute sie sich, als der Vater an ihrem achten Geburtstag Elsa und Emma aus dem Stall holte und sie zu zweit das Tal hinaus ritten. Überglücklich kam sie zurück und noch im Haus umarmte sie mehrfach ihren Vater und auch ihre Mutter. Wahrscheinlich steckte sie dahinter und hatte ihrem Mann solange zugeredet, bis er die Sättel und das Zaumzeug aus der Scheune holte und seiner Tochter ihren bis dahin größten Wunsch erfüllte.

      Die Mutter war früh gestorben und von einem Tag auf den anderen hatte sie als älteste Tochter die kleineren Geschwister zu versorgen. Deshalb wusste sie sehr früh Verantwortung zu übernehmen, den Haushalt zu führen und die Tiere zu füttern. Neben den Pferden und Kühen waren dies sechs Schweine, einige Hühner und ein Hahn, der sie und sie ihn nie richtig leiden konnte.

      Als sie fünf Jahre alt war, war ihr der Hahn einmal auf den Kopf gesprungen. Er versuchte, sich an ihren Haaren festzuhalten, und die scharfen Krallen verursachten einen Schmerz, an den sich heute noch erinnern konnte. Sie fing an zu schreien und herum zu springen, doch ihre Eltern waren zu weit weg, um ihr schnell zu Hilfe kommen zu können. Ihr Vater spaltete Holz und die Mutter war wohl in der Küche beschäftigt.

      Der Hahn war durch ihr Schreien so verunsichert, dass er zu allem Übel auch noch begann, auf sie einzupicken. Sie blutete an der Stirn und auch heute noch konnte man oberhalb ihrer linken