Hubert K.

Bei der Laterne wolln wir stehn


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Essen zubereitet wurde und sich die Familie zu den Mahlzeiten versammelte. Dementsprechend hatte sie kaum Gelegenheit, bei den Schwiegereltern irgendwelche Sendungen oder Ansprachen zu hören.

      Sie hatte Richard immer gerne singen gehört und als er früher noch im Kirchenchor war, meinte sie ihren Mann immer aus der Gruppe von den etwa zehn Chormitgliedern herauszuhören. Ihm schien Lili Marleen viel zu bedeuten und er verband damit wohl die Hoffnung, einmal wieder und dann für immer nach Hause kommen zu können.

      Für Richard war dieses Lied ein Sinnbild nicht für einen erneuten Abschied am Kasernentor, sondern für das Nachhause kommen und das Zuhause bleiben. Für das Wiedersehen mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und seiner Tochter, von der er nicht einmal wusste.

      Dieses Lied, das er fast jeden Abend im Radio hören konnte, sollte sie beide verbinden. Deshalb nahm sie sich vor, Lili Marleen auch zu ihrem Lied zu machen. Während der zwei Wochen, die Richard auf Fronturlaub war, fragte sie ihn immer wieder nach dem Text und als er wieder zurück musste, kannte sie das Lied auswendig. Zumindest die ersten drei Strophen, von denen sie wusste.

      Richard und sie hatten nie vor der Kaserne gestanden. Die war in der Stadt und Richard war frühmorgens zu Fuß dorthin gegangen. Gemeinsam mit zwei anderen aus dem Dorf, die ebenfalls einberufen wurden. Einer der beiden war in der Zwischenzeit gefallen und hinterließ eine Frau mit ebenfalls zwei kleinen Kindern. Bei Kriegsende waren es sogar 34 Männer aus dem Dorf, die gefallen waren oder vermisst blieben.

      Sie war an diesem Morgen mit Richard aufgestanden, hatte am Abend vorher noch einen Hefezopf gebacken und dann ein letztes Mal gemeinsam mit ihm gefrühstückt. Er bestrich den Hefezopf nicht mit Butter und Marmelade, sondern tauchte ihn wie üblich in seinen Kaffee. Sie fand das immer sehr unappetitlich, hatte es ihm aber nie abgewöhnen können.

      Sie saßen gemeinsam am Küchentisch und genossen die letzten gemeinsamen Minuten. Doch obwohl sie beide sehr traurig waren und nicht nur an diesem letzten Morgen zusammen weinten, hatten sie beide die Hoffnung, dass dieser Krieg schnell zu Ende ging und Richard bald wieder nach Hause kommen würde.

      Natürlich kannte sie die Erzählungen aus der Verwandtschaft oder auch aus dem Dorf und wusste, wie grausam schon der letzte Krieg gewesen war. Sie kannte Familien, deren Vater nicht zurückgekommen war. Und auch ihr Bruder Albert war gleich zu Beginn des jetzigen Krieges in Polen gefallen.

      Doch sie waren beide davon überzeugt, dass Deutschland diesen Krieg sehr schnell gewinnen werde. Hitler hatte es versprochen, und jeder im Dorf war davon überzeugt, dass es auch so sein würde. Und sie waren davon überzeugt, dass Deutschland im Recht war. Sich endlich zur Wehr setzte und nicht länger alles mit sich machen ließ.

      Als Richard nach den zwei Wochen Fronturlaub wieder zurück musste, war die Situation eine ganz andere. Auch damals saßen sie wieder zusammen beim Frühstück. Kurt schlief noch und wurde zu der Zeit immer erst gegen sechs Uhr wach, insofern konnten sie nun in Ruhe miteinander reden.

      Sie sprachen allerdings kaum miteinander, sondern schwiegen sich die meiste Zeit nur an. Richard aß so gut wie keinen Hefezopf und nahm nur hin und wieder einen Schluck Kaffee. Seine Augen suchten nicht die seiner Frau, sondern schienen ihrem Blick sogar auszuweichen und starrten ins Leere.

      Sie hatte gelernt, ihn in einer solchen Situation in Ruhe zu lassen. Nicht ständig irgendwelche Fragen zu stellen. Sie war ratlos und konnte nur vermuten, was in ihm vorging. Wahrscheinlich wurde die Enttäuschung darüber, erneut von zu Hause weg zu müssen, noch überlagert von dem Wissen, wohin er zurück musste.

      Es war nicht in erster Linie die Ungewissheit, ob sie sich lebend wieder sehen würden. Nicht, welche seiner Kameraden in der Zwischenzeit gefallen waren. Stattdessen aber die Erkenntnis, dass dieser Krieg, dessen Ende immer noch nicht abzusehen war, eben doch nicht sein eigener war und er ihn mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.

      Sie hatte ihn vor einigen Tagen noch gefragt, ob er nicht einfach zu Hause bleiben oder sich eine Zeitlang verstecken könne. Doch desertieren kam für Richard nicht in Frage. Erstens würden sie ihn früher oder später finden. Zweitens fühlte er sich für seine Kameraden verantwortlich und wollte sie an der Front nicht im Stich lassen.

      Wie sich später herausstellte, wurde Richard aber nicht zu seiner bisherigen Einheit in Frankreich, sondern stattdessen nach Russland abkommandiert. Erst durch seinen darauf folgenden Brief erfuhr sie, dass ihr Mann nun an der Ostfront kämpfte. Wie schon während seines Einsatzes in Frankreich hatte sie jedoch keine Ahnung, wo genau Richard in Russland stationiert war.

      Die Gedanken an die bisherigen und wohl vor allem an die zukünftigen Erlebnisse an der Front schienen ihrem Mann an diesem Morgen durch den Kopf zu gehen. Obwohl es noch sehr früh war, sah Richard überhaupt nicht müde aus. Und dennoch war in seinem Gesicht, das noch grauer war als in den Tagen zuvor, keine Spur von Zuversicht und kein Lebenswille mehr zu sehen.

      Als er seine Sachen nahm und ging, begleitete sie ihn noch bis auf die Straße. Wortlos umarmten sie sich ein letztes Mal und sahen sich schließlich doch noch tief in die Augen. Seltsamerweise weinten sie an diesem Morgen nicht. Sie hatten in diesem Moment keine Tränen mehr, die sie noch hätten vergießen können.

       Kapitel 5

      Seit dem Erlebnis mit dem Hahn mochte sie keine Hühner mehr. Wenn sie die Tiere füttern oder Eier aus dem Stall holen musste, tat sie dies nur widerwillig. Auch dem nächsten Hahn, den ihr Vater irgendwann mitgebracht hatte, ging sie wenn möglich aus dem Weg. Den Hahn, der ihr die Narbe zugefügt hatte, hatte ihr Vater kurze Zeit später geschlachtet und am Sonntag darauf gab es ihn zum Mittagessen.

      Sie hatte sich immer davor geekelt, die Tiere zu essen, die sie zuvor gestreichelt und beim Namen genannt hatte. Doch zumindest bei diesem Hahn und auch bei den Hühnern verdarb ihr der Gedanke daran nicht den Appetit. Sie hatten keine Namen und ließen sich nicht streicheln. Außerdem liebte sie es, einen Hähnchen-Schenkel oder Flügel abzunagen und die knusprige Haut zu essen.

      Meist gab es ein solches Essen immer nur zu besonderen Anlässen, wenn jemand Geburtstag hatte und Besuch gekommen war. Dann war sie froh, wenigstens ein kleines Stück davon abzubekommen. Selbst die Hasen, die sie später hatten und die sie immer sehr gerne gestreichelt hatte, hießen alle Hans oder Hänschen. Heute musste sie darüber lachen und war sich sicher, dass ihre Eltern dahinter steckten, weil derselbe Name für alle Hasen sehr viel anonymer war und es deshalb später am Küchentisch weniger Ärger gab.

      Ihre Mutter war immer darauf bedacht, dass ihre Kinder nicht zusahen, wenn der Vater ein Tier schlachtete. Vor allem bei ihren Brüdern erhöhte dies den Reiz, unauffällig in der Nähe zu stehen. Einmal war auch sie dabei, als ein Huhn sozusagen kopflos noch einige Meter auf dem Hof umher rannte und irgendwann liegen blieb.

      Später, nach dem Tod der Mutter, musste sie ihrem Vater dabei helfen und hatte sich irgendwann damit abgefunden. Was sie bis heute nicht ertragen konnte, war, beim Schlachten eines Hasen oder eines Schweins zuzusehen. Einmal hatte sie es getan und der Geruch des warmen Blutes verursachte bei ihr einen Brechreiz, dem sie nicht sehr lange widerstehen konnte.

      Ihre Mutter starb bei der Geburt von Anton, ihres jüngeren Bruders, den sie von ihren drei Geschwistern am liebsten hatte. Die anderen mochte sie auch, sogar ihren älteren Bruder Albert, der nie eine Gelegenheit ausgelassen hatte, sie zu ärgern und ihr das Leben schwer zu machen. Mittlerweile konnte sie darüber schmunzeln und vermisste ihn sogar. Er war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden und bereits einen Tag nach dem Einmarsch in Polen gefallen.

      Zu ihrer Mutter hatte sie immer ein gutes und meist sogar ein sehr gutes Verhältnis. Sie hatten oft unter vier Augen und in Ruhe miteinander geredet. Meist saß die Mutter abends noch an ihrem Bett und sie sprachen über die Dinge, die ein kleines Mädchen eben beschäftigten. Über Dinge, die ihr auf dem Herzen lagen und die sie nicht einmal ihrer besten Freundin anvertraut hätte.

      Sie erzählte davon, wenn sie sich mit Albert gestritten hatte.