Hubert K.

Bei der Laterne wolln wir stehn


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fühlte. Dies kam hin und wieder vor, obwohl sie heute, mit dem entsprechenden Abstand dazu, manche Dinge nicht mehr so dramatisch sah wie damals.

      Sie erzählte ihr von den Kindern in der Schule und vom strengen Lehrer, der ihr einmal sogar mit dem Lineal den Hintern versohlte. Sie hatte während des Unterrichts mit ihrer besten Freundin gesprochen, die neben ihr saß und ihr heimlich Fotos von Pferden zeigte, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Wie das jüngere ihrer beiden Pferde hieß auch ihre Freundin Elsa und manchmal musste sie selbst lachen, wenn Albert Witze darüber machte.

      Die Pferde auf den Bildern waren Araber, die so stolz und majestätisch aussahen, dass sie in Gedanken sofort weit weg war und mit offenen Augen davon träumte, auf einem solchen Vollblüter durch die Wüste zu reiten. Die Luft war heiß und schwer und sie meinte zu spüren, wie ihre Kehle vor Durst immer trockener wurde. Der schwarze Hengst war so mühelos und schnell unterwegs, dass sie den Wind in ihrem Gesicht und in ihren Haaren fühlen konnte. Die Luft tat ihr gut, doch bevor sie mit dem Pferd am Horizont verschwunden war, holte sie ihr Lehrer aus dem Traum in die Realität und auf die Schulbank zurück.

      Den Rest des Tages tat ihr der Hintern weh und sie versuchte sich einzureden, dass es von ihrem Ritt auf dem Araber kam. Sie traute sich nicht, zuhause davon zu erzählen und schaffte es sogar, Albert zu überreden, den Eltern nichts zu sagen. Er hatte es mitbekommen, weil schon damals alle Klassen in einem einzigen Raum unterrichtet wurden. Und erst abends, als die Mutter an ihr Bett kam, brach es aus ihr heraus und sie schluchzte so leise wie möglich vor sich hin.

      Paula, mit der sie das kleine Zimmer teilte, war bereits eingeschlafen und merkte tatsächlich nichts davon, dass die Mutter am Bett saß und ihre ältere Schwester am Weinen war. Auch ihre Mutter flüsterte nur und versuchte sie leise zu trösten. Später hatte sie diese Situation hin und wieder ausgenutzt, wenn sie ihrer Mutter etwas beichten musste und verhindern wollte, dass sie zu sehr mit ihr schimpfte.

      Allzu oft kam dies aber nicht vor und sie liebte ihre Mutter, die sich auch tagsüber immer wieder Zeit nahm und eine gute Zuhörerin war. Den anderen Kindern ging es genauso und die Mutter war für sie alle die wichtigste Anlaufstelle und der Mittelpunkt der Familie. Heute war sie sich sicher, dass auch ihr Vater dies zu schätzen wusste. Dass ihre Eltern eine glückliche Ehe führten und die beiden bis zum Tod der Mutter ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis hatten.

      An die Beerdigung ihrer Mutter konnte sie sich noch gut erinnern. Die Anteilnahme der Dorfbewohner war sehr groß und sie sah noch heute den Pfarrer vor sich, der mit Tränen in den Augen die Trauerrede hielt. Ihr Vater hatte danach nicht mehr geheiratet und vor allem sie und Albert mussten ihn so gut es ging im Haushalt und in der Landwirtschaft unterstützen. Der damals elfjährige Bruder in der Landwirtschaft, sie vor allem im Haushalt.

      Den Verlust ihrer Mutter hatte sie erstaunlich gut verkraftet. Mit ihren neun Jahren war sie anscheinend noch nicht dazu in der Lage und hatte auch keine Zeit, zu trauern und sich leid zu tun. Das Leben auf dem Hof war hart und musste weitergehen. Einen geliebten Menschen zu verlieren, war damals auch in anderen Familien zwar nicht die Regel, kam aber doch immer wieder vor.

      Heute hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie aufgrund der vielen Arbeit nicht richtig Zeit dazu gefunden hatte, um angemessen um ihre Mutter zu trauern und sie zu vermissen. Doch gleichzeitig war die Situation, mit der ihr Vater und die Kinder plötzlich zurechtkommen mussten, die einzige Möglichkeit, den Tod der Mutter irgendwie zu verkraften.

      Trotzdem hinterließ sie eine unendlich große Lücke und es war nicht nur die Frage, wie das neugeborene Kind nun versorgt werden sollte. Es ging ebenso und noch viel mehr um die Frage, was die Familie weiterhin zusammenhielt. Ihre Mutter war der Mittelpunkt dessen, was sich im Haus und auf dem Hof abgespielt hatte. Bei ihr liefen die Fäden zusammen und jeder, einschließlich ihres Vaters, hatte bei ihr einen Ort, an dem er zur Ruhe kommen konnte.

      Dieser Zufluchtsort, an dem sie sich bei Bedarf hatte ausweinen können, war nun plötzlich nicht mehr da. Und trotz der vielen Verpflichtungen, die sie vom Verlust ihrer geliebten Mutter erfolgreich ablenkten, fehlte sie ihr sehr. Auch die anderen, und selbst ihr Vater, hatten Momente, in denen der Schmerz so urplötzlich und rücksichtslos hochkam, dass es keine Möglichkeit gab, sich dagegen zu wehren.

      Sie hatte ihren Vater ansonsten nie weinen sehen. Selbst bei der Beerdigung stand er mit regungslosem Blick am Grab oder lenkte sich damit ab, nach den Kindern zu sehen. Doch an diesem Abend saßen sie beim Essen und aßen das Brot, das nun sie als älteste Tochter immer zu backen hatte. Schon damals in ihrem Heimatort ging sie dazu ins Backhaus, weil sie zuhause keinen Backofen hatten.

      Sie machte das Brot nach dem Rezept, das ihr die Mutter beigebracht hatte. Sie zerrieb die Hefe zwischen den Fingern und tat sie in einen Liter Wasser. Dann gab sie fünf Prisen Salz dazu und schüttete etwa eineinhalb Pfund Mehl in die graue Flüssigkeit. Oder eben so viel, bis der Teig nicht mehr an den Fingern kleben blieb und sich gut kneten ließ. Dann gab sie den Teig in zwei Blechformen, legte ein Geschirrtuch darüber und ließ ihn etwa eine Stunde gehen. Schließlich kamen die Kapseln für etwa eine Stunde in den Backofen.

      Das Brot war noch warm und schmeckte hervorragend. Doch Albert nahm einen Bissen und meinte spontan, dass die Mutter viel besseres Brot backen konnte und dass er sie sehr vermisst. Normalerweise hasste sie ihren Bruder, wenn er sie kritisierte. Doch heute widersprach sie ihm nicht und auch die anderen waren schlagartig still. Wenn fünf Personen um den Küchentisch sitzen, ist dies normalerweise unmöglich. Obwohl ihre Eltern sie dazu erzogen hatten, beim Essen nicht zu reden, sondern ihre Teller leer zu essen.

      Die älteren Kinder schauten betreten auf ihren Teller und wagten nicht, etwas zu sagen oder gar ihren Vater anzusehen. Der saß einen Moment lang ebenfalls still am Tisch und fing dann an zu heulen, wie sie es seither nur bei kleinen Kindern gesehen hatte. Anscheinend hielt er es für unpassend, vor den Kindern Schwäche zu zeigen. Er stand auf und ging schnell, immer noch weinend, aus der Küche. Sie sahen ihn an diesem Abend nicht mehr und kümmerten sich selbst darum, die Kleinen ins Bett zu bringen und dann selbst schlafen zu gehen.

       Kapitel 6

      Obwohl sie Zuhause gebraucht wurde, war ihr Vater damit einverstanden, dass sie nach der Volksschule als Dienstmädchen arbeitete. Bei vornehmen Leuten, die eine Fabrik besaßen. Bei denen sie gemeinsam mit drei anderen jungen Frauen, die alle etwa zehn Jahre älter waren, in der Küche arbeitete. Und nachdem sie jahrelang ihre Geschwister versorgt hatte, konnte sie von Magda, Elisabeth und Lina, so hießen die drei, dennoch einiges lernen.

      Sie liebte ihren Vater und rechnete es ihm hoch an, dass er ihr damals keine Steine in den Weg gelegt hatte. Er hatte ihr sogar Mut gemacht, mit gerade einmal 15 Jahren nach vorne zu schauen. Etwas vom Leben zu erwarten und nicht den Rest ihrer Zeit auf dem Hof zu verbringen. Trotzdem freute er sich, dass die Stelle nicht allzu weit entfernt war und seine Tochter ab und zu am Wochenende nach Hause kommen konnte.

      Sie hatte ein eigenes Zimmer unter dem Dach und es war für sie zunächst ungewohnt, trotz der langen Arbeitszeiten auch Zeit für sich selbst zu haben. In den ersten Tagen und Wochen fühlte sie sich einsam und hatte immer wieder Heimweh. Obwohl sie sich auf den neuen Lebensabschnitt gefreut hatte, hing sie doch an ihrem Vater und den Geschwistern und selbst an der Arbeit, die sie von zuhause gewohnt war.

      Mit der Zeit verging das Heimweh und kam nur noch hin und wieder in ihr hoch. Sie lernte, sich nach der Arbeit alleine zu beschäftigen und begann, ab und zu in Büchern zu lesen, die sie sich von Albert ausgeliehen hatte. Abgesehen von den Büchern in der Schule hatte sie dafür früher nie die Zeit gefunden. Sie las anfangs sehr schleppend und hatte deshalb umso mehr den Ehrgeiz, regelmäßig auf dem Bett zu liegen und den Inhalt der Bücher in sich aufzusaugen.

      Auf dem Nachttisch brannte die kleine Lampe, die viel zu wenig Licht gab und dennoch so hell war, dass es ihren Augen wehtat, wenn sie direkt hineinschaute. Auf das Dachfenster prasselte der Regen, bei dem sie früher nie hatte einschlafen wollen. Mittlerweile fürchtete sie sich nicht mehr und wachte höchstens dann auf, wenn es Gewitter gab und Blitz