Martin Francis Forster

O Samael


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ist tot

      Nicht mein Vater, nicht unser Vater. Das hat er sich gespart. Nicht mal ein Satzzeichen.

      Doch die drei Worte verraten, dass er es ebenso gewusst hat wie ich.

      *

       X

      »Wir bringen ihn heim. Wir legen ihn in sein Bett und sorgen dafür, dass er dort gefunden wird! Sonst kommt er nicht in geweihte Erde.«

      Wir hatten meinen Vater so vorsichtig wie es uns möglich war vom Baum geholt. Ich war hinaufgeklettert, hatte das Seil mit einem scharfen Messer, das Nele aus ihren Kleidern gezogen hatte, durchschnitten und Sebastian hatte unten den leblosen Körper aufgefangen.

      Nele schlug zielsicher den Weg zum Hof ein. Sebastian und ich mühten uns mit dem Leichnam ab, fassten ihn abwechselnd unter den Armen und an den Beinen, wobei es unser Fortkommen zusätzlich erschwerte, dass immer der Hintere von uns beiden den unebenen Weg nicht sehen konnte. Als wir den Hof endlich erreichten, war ich schweißgebadet.

      Die Türen waren nicht verriegelt, sodass wir ohne Umstände in das Haus kamen. Ich zündete zwei Laternen an, und wir schleppten meinen Vater die Treppe hinauf in seine Schlafkammer, wo wir ihn auf das Bett fallen ließen.

      Nele zog ihm die Schuhe aus, riss ihm alle Kleider vom Leib, wusch ihm Hände, Füße und Gesicht und befahl mir, nach einem Nachthemd zu suchen. Es dauerte etwas, bis ich ein Hemd fand, das mir sauber genug schien. Um es ihm anziehen zu können, trennte Nele vorsichtig eine Naht der Länge nach auf und nähte sie, nachdem wir den Toten in das Hemd gezwängt hatten, mit Sorgfalt wieder zu.

      »Viel Aufwand für ein Begräbnis in geweihter Erde«, murmelte ich.

      Nele sah mir in die Augen, und ich erkannte, dass sie auf besondere Weise mit meinem Vater verbunden gewesen sein musste. Verbitterung und Zorn mischten sich in ihre Trauer.

      »Johannes war kein gottloser Mann. Er war ein guter Mensch! Er mag Fehler gemacht haben, aber er war ein guter Mensch. Ich will, dass er anständig begraben wird. Ich will, dass seine Seele ihren Frieden findet.«

      »Aber das Mal an seinem Hals? Das wird ihn verraten«, warf Sebastian ein.

      »Das lass meine Sorge sein. Niemand wird Fragen stellen.«

      »Er hat mich Bastard genannt.«

      Unvermittelt brach aus mir hervor, was ich über Monate unterdrückt hatte. Die erlittene Demütigung, der Zorn und die Wut, die sich in mir angestaut hatten, der Schreck – aber auch die Erkenntnis, dass ich meinen Vater nun nicht mehr würde fragen können, welchen Grund er gehabt hatte, mich derart zu beleidigen – waren ihres Käfigs leid geworden. Für einen Moment herrschte beklommenes Schweigen, dann tat Nele schlichtweg so, als hätte sie mein Trotzen nicht gehört.

      »Ich werde es übermalen, und wenn wir ihm das Hemd bis oben zuknöpfen, wird niemand etwas davon bemerken«, sagte sie bestimmt.

      »Und was machen wir mit seiner Zunge?«

      Die hervorquellenden Augen hatte ich meinem Vater mit ­Gewalt zurück in den Schädel gedrückt, damit wir dem Toten die Lider schließen konnten. Das feuerrote Mal an seinem Hals, das die Schlinge hinterlassen hatte, würde Nele mit etwas Geschick vertuschen können. Doch die Zunge, die dem mittlerweile steifen Körper grotesk zwischen den bläulich angelaufenen Lippen heraus hing, widersetzte sich und wie sehr wir uns auch bemühten, wir schafften es nicht, sie ihm in den Mund zu schieben.

      Nele atmete tief durch.

      »Wir werden sie abschneiden müssen.«

      Ich sah, wie sie sich einen Ruck gab. Sie überwand sich, fasste die Zunge beherzt zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, sie ein wenig weiter herauszuziehen. Mit dem Messer, mit dem ich im Wald schon den Strick durchtrennt hatte, schnitt sie in einem Zug die Spitze ab. Das abgetrennte Stück schob sie ihm in den Mund.

      »Wir brauchen Leim für die Lippen«, sagte sie.

      Sebastian schüttelte sich bei dem Gedanken daran, was Nele mit dem Leim vorhatte, doch er bot sich an, zur Schreinerei zu laufen und welchen zu besorgen.

      »Ich finde den Weg von hier aus. In einer Stunde bin ich zurück« sagte er und war fort.

      »Er hat mich Bastard genannt«, wiederholte ich, als wir allein waren.

      »Ja ...«

      Nele seufzte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, der in der Schlafstube stand, drehte den Docht der Öllampe höher und blickte aus dem Fenster. Es war tiefe Nacht geworden, draußen war es stockfinster, und so konnte sie nichts anderes sehen als ihr eigenes müdes Gesicht, das sich im Schein der Laterne in den fleckigen Scheiben spiegelte.

      »Weißt du, dein Vater ... der Mann, den du für deinen Vater gehalten hast«, begann sie nach einer Zeit, »kam eines Tages zu mir. Er kam, weil ihm etwas weh tat. Etwas, das längst nicht mehr da war, bereitete ihm Schmerzen; alte Geister aus der Vergangenheit ließen ihn leiden«, begann sie.

      »Meine Mutter?«

      »Nein. Seine Hand, Junge. Er kam wegen seiner Hand.« Sie machte eine Pause, und ich schwieg. Nele ließ sich Zeit, bevor sie wieder anhub und weiter erzählte.

      »Und ja, auch deine Mutter ... Natürlich trauerte er auch um sie. Doch das war ein anderer Schmerz, einer, den man nicht kurieren kann. Schuldgefühle lassen sich nicht heilen. Das kann nur die Zeit allein.

      Aber es war seine Hand, wegen der er mich aufsuchte. Weißt du, seine Hand – die, die fort war – brannte und juckte ihn an manchen Tagen, wenn das Wetter umschlug, ganz fürchterlich, und er kam zu mir und bat um Hilfe. Diese Sorte Schmerzen kannte ich, dagegen konnte ich etwas tun. Ich stampfte ihm ein Pülverchen aus getrockneten Pilzen und Hanf, das tat ihm gut und linderte seine Schmerzen. So kam er wieder und wieder zu mir ...

      Dann, irgendwann, blieb er ein Stündchen und fing an zu reden. Belangloses Zeug, das ihm durch den Kopf ging; Geschichten vom Hof, ein wenig Gerede aus dem Dorf. Ich hörte ihm zu. Und er hörte mir zu. Niemand sonst hört mir zu. Aber er tat es. Er staunte, er lachte oder nickte manchmal einfach nur mit dem Kopf. Es tat uns beiden gut ... Ich mochte ihn. Und er mochte mich.«

      Sie schaute versonnen auf das Bett, in dem mein Vater lag, und versank wieder in langes Schweigen. Der Morgen begann zu dämmern. Ich wartete geduldig, bis sie weiter sprach.

      »Er war genauso einsam wie ich es war, und das verband uns. Er erzählte von seiner Schwiegermutter, von der Demütigung, als Krüppel auf ihrem Hof zu leben und von ihrem Wohlwollen abhängig zu sein. Er sprach auch von dir, Adam. Von dem Sohn, den er nicht verstand und der mit ihm nichts gemein zu haben zu schien. Der ihm die Anerkennung und den Respekt verweigerte, den er als Vater verdient hätte.

      Dabei sah er seine eigene Verantwortung nicht. Johannes tat sich selber leid. Und weil ich ihn von seinem Selbstmitleid befreien wollte, habe ich einen Fehler gemacht. Ich bin schuld an seinem Tod. Ich trage die Schuld daran, dass er sich das Leben genommen hat.« Sie stockte abermals.

      »Du? Wie meinst du das?«

      »Ich glaubte, es würde ihm helfen, die Wahrheit zu kennen. Aber das war ein schrecklicher Irrtum. Ich hätte es besser wissen müssen!«

      Im Halbdunkel sah ich Tränen über ihre Wangen laufen. Ich fühlte mich unwohl und hätte sie am liebsten allein gelassen, denn ich hatte keinerlei Erfahrung darin, einen Menschen zu trösten.

      Den Kummer der Seele öffentlich vor sich herzutragen, war etwas, das mir verboten worden war, und das mich bei anderen schnell anwiderte. Entweder nahm man Gegebenheiten hin, weil sie unabänderlich waren, oder aber sie waren es nicht; dann musste man nach einem Weg suchen, um ihnen zu entgehen oder um ihnen eine Richtung zu geben, der man folgen mochte. Geweint hatte ich jedenfalls noch nie. Buben weinen nicht, hatte ich einst von dem Mann, der jetzt tot neben uns lag, gelernt.

      »Weißt du, ich kannte deine Mutter. Ada.«