Martin Francis Forster

O Samael


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mich war das neu, denn meine Großmutter, die Feiern und jegliche Form von Ausgelassenheit stets verdammt hatte, war früher nach den Gottesdiensten geradewegs mit mir zurück zum Hof gelaufen.

      Ich für meinen Teil genoss das Fest umso mehr; ich lachte, schlemmte und fühlte mich wie berauscht, als Sebastian für einen kurzen Moment sein Hand unter dem Tisch auf meinen Oberschenkel legte. Just in diesem Augenblick kam Ida zu uns herüber, fasste mich an die Hand und zog mich zum Tanzen fort. Ich sah, wie Sebastian sich köstlich über meine ungelenken Bewegungen und meine Versuche, mit Ida Schritt zu halten, amüsierte. Ich genierte mich schrecklich, doch als er selber von einem anderen Mädchen aufgefordert wurde, sah ich, dass er kein bisschen besser tanzen konnte als ich oder die anderen jungen Männer aus dem Dorf, und hatte nun meinen Spaß daran, ihm spöttische Blicke zuzuwerfen. Sebastian wiederum machte sich einen Jux daraus, mich beim Tanzen mit dem Ellbogen anzurempeln oder mir absichtlich auf den Fuß zu treten, wenn er mir nahe kam, und er entschuldigte sich jedes Mal übertrieben höflich mit »Oh verzeiht, werter Hupfgeselle!«, was die Mädchen zum Kichern brachte.

      Wein und Essen wollten kein Ende nehmen und so kam, was kommen musste: Als der Abend dämmerte, hatte ich mich überfressen und auch das ein oder andere Glas Wein zuviel getrunken. Mir wurde so übel, dass ich mich fortstahl und abseits der Häuser in ein Gebüsch übergab.

      »Ksch!«

      Ich fuhr überrascht herum. Halbverborgen im Schatten einer Hauswand stand eine fremde Gestalt, die mich unter der Kapuze eines weiten Umhangs unverwandt ansah.

      »Wer ist da?«

      »Du solltest schleunigst zusehen, dass du nüchtern wirst! Ich brauche deine Hilfe.«

      An ihrer Stimme erkannte ich jetzt die Wurzel-Nele.

      »Hilfe? Wobei? Wovon redest du?« Ich wischte mir mit dem Ärmel über den Mund und atmete tief durch.

      »Komm mit, dann wirst du’s sehen!«

      »Was? Was werd ich sehen?«

      »Keine Zeit. Komm!«, drängte sie.

      »Adam geht nirgendwo hin. Wer bist du überhaupt?«

      Hinter mir war Sebastian aufgetaucht. Mein treuer Sebastian, der mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte und mir mit Henni an seiner Seite gefolgt war.

      Nele trat aus dem Schatten. Ihre Augen waren rot unterlaufen, so als ob sie geweint hätte. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten Haar, und sie sah abgekämpft und müde aus. Gleichzeitig wirkte sie gefasst, beinahe hochnäsig, als sie antwortete.

      »Sieh an, das unzertrennliche Pärchen. Überall und immer zu zweit. Nun gut, dann kommt ihr eben beide mit. Vielleicht besser so.«

      Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und schritt in Richtung Wald. Henni gab einen Laut von sich und lief der Wurzel-Nele mit wedelndem Schwanz hinterher.

      »Kann das nicht bis morgen warten?«, rief ich Nele hinterher, aber ich bekam keine Antwort.

      »Henni!«, rief Sebastian. Und noch einmal: »Henni!«

      Die Hündin blieb stehen und blickte uns mit schief gelegtem Kopf an, machte aber keine Anstalten, zu uns zurückzukommen.

      »Wer zum Teufel war diese Verrückte ohne Schuhe?« Sebastian wurde ungeduldig.

      »Nele. Sie ist harmlos.«

      In knappen Sätzen erklärte ich Sebastian, wer Nele war, vermied es allerdings, ihm die Umstände zu verraten, unter denen ich sie kennen gelernt hatte. Während ich sprach, dämmerte mir, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Ohne einen gewichtigen Grund hätte die Wurzel-Nele mich niemals um Hilfe gebeten. Langsam wurde ich wieder nüchtern. Meine Neugier wuchs.

      »Ich denke, ich sollte ihr folgen«, sagte ich.

      Sebastian sah mich an.

      »Wenn du ihr vertraust, dann lass uns gehen«, meinte er nach einem kurzen Zögern.

      »Ihr vertrauen? Ich weiß nicht. Ich kenne sie kaum. Aber ich habe kein gutes Gefühl, irgendetwas muss vorgefallen sein.«

      »Wenn du sie kaum kennst, weshalb kommt sie dann ausgerechnet zu dir?«

      »Das werde ich wohl nur herausfinden, wenn ich ihr folge.«

      »Jedenfalls werde ich dich nicht alleine lassen.«

      Ich war froh, dass er das sagte, und wir liefen los.

      Nele war flink, und ohne Henni, die vor uns her sprang, hätten wir Schwierigkeiten gehabt, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

      Die Musik vom Dorfplatz wurde schnell leiser, und bald waren die einzigen Geräusche, die wir hörten, die, die wir selbst verursachten. Zu dieser Stunde schien mir der Wald der Hexe noch viel düsterer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Doch mit Sebastian neben mir verlor er an Bedrohlichkeit. Ohne mich dafür zu schämen, griff ich nach seiner Hand und hielt sie fest gedrückt.

      »Wehe der Alten, wenn es nicht etwas wirklich Wichtiges ist«, fluchte Sebastian, und ich hörte, dass er langsam genauso außer Atem geriet wie ich.

      Nele stellte uns auf eine harte Geduldsprobe. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Gerade als ich darüber nachdachte, ob wir ohne Neles Hilfe zurück finden würden, blieb sie unter ­einer dickstämmigen Eiche stehen. Sie sah nach oben und unsere Blicke­ folgten dem ihren. Henni sprang mit kratzenden Pfoten den Stamm an und winselte aufgeregt.

      Meine Augen hatten sich zwar an das fahle Licht gewöhnt, dennoch musste ich zweimal hinschauen, um zu erkennen, was die Hündin in Aufruhr versetzte. Etwas bewegte sich sanft zwischen den Ästen. Ein Sack von graubraunen Kleidern schwang über unseren Köpfen.

      Dann begriff ich, dass es ein Mensch war, der da mit dem Hals in einer Schlinge hing und sich sachte um die eigene Achse drehte.

      Jemand hatte sich erhängt.

      »Wir müssen das Seil durchschneiden.« Nele klang ruhig und bestimmt. »Allein schaffe ich es nicht, ihn dort runter zu holen.«

      *

       IX

       Montag, 16. Mai 1881

      Zu dieser Stunde bin ich der einzige Gast im Hirschen.

      Von meinem Lieblingsplatz aus, der geflissentlich für mich freigehalten wird, kann ich über den ganzen Dorfplatz ­blicken.

      Morgen für Morgen sitze ich hier, trinke meinen Kaffee, lese die Zeitung und schaue zwischendurch mehr oder minder gelangweilt dem Treiben vor dem Fenster zu.

      Ein Brief erreicht mich. Der Postbote weiß, wo er mich findet und spart sich den Weg zur Schreinerei. Er nickt dem Wirt zu, dann ist er wieder draußen.

      Ich drehe den Brief in den Händen. Meine Anschrift ist korrekt. Kein Absender – doch ich erkenne die Handschrift auf dem Umschlag sofort.

      Erst nach der Lektüre meiner Zeitung und nach der zweiten Tasse Kaffee bringe ich es über mich, den Umschlag aufzureißen. Ich nehme das gefaltete Blatt heraus und stelle fest, dass meine Hände dabei zittern.

      Ich lege den Bogen beiseite und ziehe ein silbernes Etui aus meiner Jackentasche. Licht bricht sich in den feinen Ziselierungen und lässt für einen Moment die eingravierten Initialen T.W. aufblitzen. Ich nehme eine Zigarette aus dem Etui, zünde sie an, was wegen meiner zitternden Finger länger dauert und auch weniger elegant aussieht als sonst, und atme den Rauch tief ein.

      Einige Minuten verstreichen.

      Als der Qualm der Zigarette in beruhigenden Serpentinen in die Luft steigt, nehme ich den Bogen wieder auf.

      Das Papier ist von minderer Qualität, doch die Handschrift ist aufrecht und zeigt einen edlen Schwung, der durchaus Rückschlüsse auf den Charakter des Absenders zulässt.

      Ein einziger Satz steht dort, und die dunkelblaue