Gospodin, Gospodin ... Amen.“ Noch inbrünstiger konnte man den Namen des Herrn nicht besingen. Auch wenn die russisch-orthodoxe Gemeinde oft nur den bescheidenen Versammlungsraum in der Unterkirche nutzen konnte, so wirkte dieser Raum doch wie ein kleiner Tempel. Der Duft von Weihrauch und Kerzenwachs waberte in der Luft wie der mystische Atem des Allmächtigen. Und der mehrstimmige Refrain der gottesfürchtigen Frauen zog den nüchternen Kommissar für einen Moment in seinen Bann, ließ ihn den schrecklichen Grund seines unangekündigten Besuchs fast vergessen. Konnte er es überhaupt wagen, die heiligen Handlungen in diesem orthodoxen Gemeindesaal zu stören? Keine Frage: Auf solche Emotionen konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er musste sich wieder auf seinen Auftrag und auf seine Dienstpflicht besinnen, und den dringend tatverdächtigen Priester unverzüglich mit aufs Polizeipräsidium nehmen.
„Guten Morgen, Kommissar Pokroff vom K 11. Und neben mir, das ist mein Kollege Zorbas. Sind sie Priester Iwan Gregoriew?“
„Ja, der bin ich.“
„Verzeihen Sie, dass ich einfach hier hereinkomme und Sie bei Ihren Vorbereitungen störe. Doch die Sache duldet keinen Aufschub. Wo waren Sie gestern Abend zwischen 19 und 20 Uhr? Und wo die ganze Nacht? Von Ihrer Dienstwohnung aus sind Sie jedenfalls nicht in die Kirche gekommen.“
„Du lieber Gott, Sie kommen wegen Klotzhofer, wie schrecklich, ich habe es in der Zeitung gelesen. Aber, aber ... ich wollte das nicht, nein wirklich nicht! Und ich war den ganzen Abend und die Nacht überhaupt nicht hier.“
„Lassen Sie gefälligst das Theater, Sie wurden gesehen!“, herrschte Pokroff den Priester an. „Also wann genau waren Sie am Museum und was ist dort passiert? Ich fürchte, Hochwürden, Sie kommen in große Schwierigkeiten, wenn Sie mir die Sache nicht umgehend schlüssig erklären können.“
„Nein, nein. Ich war nicht am Museum. Ich, ich war am frühen Abend in einem Bistro nahe der Galluswarte, um mich mit einer jungen Dame in Not zu treffen. Übernachtet habe ich drüben, in einem Seitenraum in der Kirche. Das tue ich manchmal, wenn ich morgens schon sehr früh hier sein muss.“
Pokroff schluckte. „Menschenskind, Herr Pfarrer, also bei allem Respekt vor Ihnen und Ihrem geistigen Amt, was soll diese verrückte Geschichte? Sie waren zur besagten Zeit am Tatort, dafür gibt es Zeugen. Von welchem Mädchen und welchem Bistro reden Sie überhaupt? Und wo sind sie nur die ganze Nacht gewesen? Wir haben sie überall in der Kirche und in Ihrer Dienstwohnung gesucht.“
„Ich war noch bei einem Diakon in der Sankt-Nikolaus-Kirche. Ich hatte einen sehr schweren Tag hinter mir, dann noch das schwere Treffen mit der jungen Dame, da brauchte ich das Gespräch mit einem lieben Amtsbruder. Erst am frühen Morgen bin ich zurück in die Kirche gekommen.“
„Verdammter Mist“, dachte Pokroff. Offenbar hatte er den verdächtigen Priester übersehen, wenn nicht gar verschlafen. „Wann waren Sie bei diesem Diakon in Sankt Nikolaus?“, hakte er nach. Gregoriew überlegte. „Das muss so gegen 23 Uhr gewesen sein.“
„Also deutlich nach der Tatzeit. Wie auch immer, gegen 20 Uhr wurden Sie von einer Zeugin erst beim Museumseingang und dann im Hinterhof des Museums in der Ludwigstraße gesehen.“ Pokroff funkte kurz seine beiden Kollegen von der Funkstreife an, die sicherheitshalber draußen warteten. „Ich muss Sie leider auffordern, unverzüglich mit uns aufs Polizeipräsidium zu kommen.“ Gregoriew riss die Arme nach oben, ging demonstrativ in die Abwehrhaltung. „Aber das ist völlig unmöglich. Ich muss gleich die Morgenmesse vorbereiten. Nach der Messe muss ich die Beiche abnehmen. Und dann habe ich ein dienstliches Gespräch.“
„Ich fürchte, Herr Gregoriew, das muss warten. Ich weiß, dass Sie mir nicht die Wahrheit sagen. Sie belügen mich, weil Sie genau wissen, was da gestern vor dem Museum für Orthodoxe Sakralkunst Furchtbares passiert ist. Und am Nachmittag zuvor hatten mehrere Zeugen gehört, wie sie mit Klotzhofer heftig wegen einer Ikone stritten, ihn beschimpften und drohten, dass Sie abends wiederkommen wollten.“
„Nein, ich war gestern Abend in diesem Bistro bei der Galluswarte. Und zwar um 20 Uhr“, insistierte Gegroriew. Er holte kurz Luft.
„Klotzhofer hat Schlimmes getan, und dafür wollte ich ihn gehörig zur Rede stellen. Aber ich wollte ihn doch niemals töten. Ja, die Kommunisten haben sich diese Ikonen durch brutale Plünderungen angeeignet, sie sind Beutekunst. Vor allem die Heilige Barbara, die nur durch ein Wunder aus dem ehrwürdigen sibirischen Kloster gerettet wurde, das diese Barbaren in Brand steckten. Ein schrecklicher Skandal! Solche Ikonen kann man doch nicht obszön zur Schau stellen, um damit Geld einzunehmen. Man muss sie der Russischen Kirche zurückgeben. Das wollte ich Klotzhofer sagen. Aber ich konnte nicht, weil mich dann dieses russische Mädchen angerufen und um Hilfe gebeten hat.“
„Wie heißt dieses Mädchen, und in welchem Café haben Sie sie getroffen? Und wo können wir sie jetzt finden?“ Pokroff konnte nicht glauben, was ihm der Priester da auftischte. Aber er handelte nach Dienstvorschrift und fragte routiniert weiter.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Mädchen hat Angst und mich um Schutz und Diskretion gebeten. Vielleicht hat sie mir selbst nicht mal ihren richtigen Namen gesagt.“
„Aber das Mädchen ist im Moment Ihre einzige Entlastungszeugin, wenn Sie nicht am Tatort waren. Dann hätten Sie wenigstens ein Alibi, das wir überprüfen können. Also mit wem haben Sie da über was geredet?“
„Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen“, insistierte Gregoriew mit eiserner Miene.
„Und wie hieß das Bistro, in dem Sie sie trafen?“
„Das weiß ich auch nicht mehr. Das Mädchen hat das Bistro ausgesucht. Irgendeine asiatische Bar an der Galluswarte mit vielen Spielautomaten. Ich kenne mich hier mit den Bars nicht so gut aus.“
„Tut mir leid, aber dann müssen Sie unverzüglich mitkommen.“ Inzwischen näherten sich die beiden von Pokroff verständigten Kollegen, die Handschellen hatten sie bereits griffparat. „Herr Gregoriew, leisten Sie bitte keinen Widerstand. Es ist zwecklos“, mahnte Pokroff.
Gregoriew dachte für einen Moment an den Heiligen Leonhard, wie er mit seinen mächtigen Ketten die Außenfassade der gleichnamigen Kirche in der Alten Mainzer Gasse ziert. Würde man ihm wenigstens diese Schmach ersparen? Pokroff schien ein Einsehen zu haben. Da sich Gregoriew nun dazu zwang, sich stoisch in sein Schicksal zu fügen, blieben ihm wenigstens die Handschellen erspart.
Kapitel 5
Im Polizeipräsidium hatte der Erkennungsdienst schon alles vorbereitet. Der russische Priester hatte das gesamte Programm zu durchlaufen: Fotos von allen Seiten, Fingerabdrücke, Tonaufnahmen und einen DNA-Abstrich. Wer einmal ins Visier der Fahnder geraten war, der konnte sich den schematischen Ritualen dieser Prozedur nicht entziehen. Gregoriew empfand die sterile Atmosphäre der weißen Büro- und Laborräume im Polizeipräsidium als reinen Alptraum. Er war an andere, an geistliche Rituale in erhabenen und geweihten Hallen gewohnt. Zudem waren die ersten Resultate der Untersuchungen niederschmetternd. Vor allem, was die Sicherung der Körperspuren und den Vergleich der Fotoaufnahmen mit den Beschreibungen der Zeugen betraf.
Im Nebenzimmer wartete bereits Kriminalhauptkommissar Heinz Sawinsky auf die Vernehmung des Tatverdächtigen. Ein großgewachsener und hagerer Mann Mitte fünfzig, der nun als ergraute Eminenz den ebenfalls ergrauten und bärtigen Priester prüfend musterte. Sawinsky war der perfekte Stratege am Schreibtisch: Er verwaltete die Dienst- und Einsatzpläne, organisierte die Großangriffe nach Absprache mit dem Polizeipräsidenten und seinen zugeteilten Beamten. Er stimmte die Großeinsätze mit den Kriminalteams anderer Städte ab und er war auch stets der erste Ansprechpartner für Politik und Presse. Auch Neubürger wie Gregoriew wussten bereits vom Hörensagen: Wenn Sawinsky an einem Verhör persönlich teilnahm, dann hatten sie es bis in die Riege der Hauptverdächtigen geschafft.
„Guten Tag, Herr Gregoriew, mein Name ist Sawinsky. Sie wissen, weshalb Sie hier sind? Herr Pokroff wird Ihnen jetzt noch einmal die genauen Tatvorwürfe und Ihre Rechte vorlesen.“ Was Pokroff prompt umsetzte, wenn auch nur in einer verkürzten Version. Denn so versteinert und teilnahmslos, wie der Priester dasaß, hatte es wenig Sinn, ihn mit juristischen Klauseln zu bombardieren.