den ich auch noch nutzen musste, um Bad und Küche generalstabsmäßig einzurichten.“
„Noch so’n kalter Joke, und ich spuck Eiswürfel“, frotzelte Zorbas unwillig zurück. „Und das mitten in dieser lausigen Dezembernacht.“ Die coolen Jugendsprüche der 80er Jahre hatte Zorbas noch ganz gut drauf, auch wenn er damals gerade erst nach Deutschland gekommen war.
Die beiden Polizisten schlugen die Autotüren zu, harrten mit zurückgeklapptem Sitz missmutig der Dinge, die da kommen mochten. Stunden später wurde Pokroff von seinem vertrauten Surren alarmiert. Der Oberkommissar drückte die Krone seines Armbandweckers hinein, blickte auf den matten Schein der Leuchtziffern und schaltete die Beleuchtung seiner Funkuhr ein, die griffbereit auf dem Armaturenbrett lag. Hier wie da war es genau 6 Uhr. Pokroff drehte an der Lünette seiner Poljot-Weltzeituhr, bis die Markierung der mitteleuropäischen Zeit richtig stand. Sechs Uhr in Frankfurt und 9 Uhr in Moskau, und nichts rührte sich weit und breit. Pokroff schaute zum Haus mit der Dienstwohnung von Gregoriew. Doch alles blieb dunkel, auch wenn auf der Straße allmählich der Berufsverkehr startete.
Die Armband-Weckeruhr der ruhmreichen Kosmonauten bildete für Pokroff eine kulturelle Brücke nach Russland. Das Emblem, das ein stilisiertes Aeroflot-Wappen mit angedeuteten Tragflächen zeigte, war des Kommissars ganzer Stolz. Zuhause hatte er noch eine zweite Uhr mit Zwiebeltürmen auf dem Zifferblatt. Nein, Pokroff war nicht der Typ, der mit Uhren, Schmuck oder teuren Autos angeben wollte. Deshalb trug er am Handgelenk nur eine billige Funkuhr. Doch die Ästhetik der Mechanik mit ihrem sanften Ticken, die hatte es ihm angetan.
Unwillkürlich drehte sich Pokroff noch einmal zur Seite. Als er die Augen erneut aufschlug, blinzelte er der Sonne entgegen, die sich zwischen einer ansonsten fast dichten Wolkendecke zeigte. „So ein Mist“, brummelte er. „Hoffentlich haben wir ihn jetzt nicht verpasst!“ Pokroff schob seine Decke beiseite, in die er sich notdürftig eingewickelt hatte. Eine kleine Pause mit halb geschlossenen Augen konnte man einem Hauptkommissar im Dienst gerade noch durchgehen lassen. Pokroff sprach dann immer von Augenpausen. Aber die Augen mussten sich auch beizeiten wieder öffnen. Sonst könnte es brenzlig werden. Was auch für Zorbas galt, der inzwischen ebenfalls aufgewacht war und unwillig vor sich hin gähnte.
„Mann, warum hast du mich nicht geweckt?“ Pokroff stieß seinen Kollegen in die Seite. „Auf seine Offiziere muss man sich verlassen können. Die Pflicht ruft! So ein Kerl wie du, der kann jetzt schon ganze Bäume ausreißen.“
„Das sagt gerade der Richtige“, entgegnete Zorbas unwillig und startete den Motor.
Vor der Kirche herrschte Totenstille. Nirgendwo war ein brennendes Licht zu sehen, nicht einmal im Gemeindehaus. „Nein, hier kann er nicht hereingekommen sein. Das hätten wir oder wenigstens die Kollegen bemerkt“, sprach sich Pokroff Mut zu. Deshalb steuerte Zorbas anschließend Gregoriews Dienstwohnung an. Doch dort tat sich auch nichts. Also funkte der Hauptkommissar zunächst seine Kollegin Kommissarin Christiane Bechstein an, um sich nach dem Stand ihrer Ermittlungen im Museum zu erkundigen. Doch er bekam keinen Kontakt, als befände er sich im Funkloch. Dann fuhr er mit dem Wagen hinüber zur Kirche und suchte einen Parkplatz in der Hohenstaufenstraße. Noch einmal verständigte er sicherheitshalber die Funkstreife. Dann machte er sich für seinen Zugriff bereit.
Derweil klingelte das Handy. Es war Christiane Bechstein. „Hallo Christiane, wie sieht‘s aus?“, wollte Pokroff wissen. „Ich konnte dich gerade nicht erreichen. Seid ihr schon im Museum? Und habt ihr einige Leute befragen können?“
„Entschuldigung, es gab da wohl eine Störung. Ja, der Kurator Friedrich, die Sekretärin und einer der beiden Pförtner sind vor Ort. Alle haben Gregoriews Auftritt im Museum miterlebt und seine Drohung gehört, dass er wiederkommen und abrechnen will. Die Sekretärin hat sogar vorsorglich einen späten Gesprächstermin in Klotzhofers Terminkalender eingetragen. Friedrich und die Sekretärin haben das Museum dann gemeinsam verlassen, wie der Tagespförtner bestätigt. Der Nachtpförtner hat selbstverständlich frei. Den muss ich später noch besuchen. Dabei wollte ich bis zum Nachmittag noch ein paar Überstunden abbauen. Aber wenn ich ihn zuhause antreffe, bringe ich ihn euch selbstverständlich zum Protokoll vorbei.“
„Danke, gut so. Das sieht wirklich schlecht für Gregoriew aus, nachdem ihn die Zeugin auch beschrieben und sogar seinen Namen gehört hat. Okay, dann schau ich jetzt mal, ob ich ihn endlich in der Kirche finden kann.“
Iwan Gregoriew stand vor dem Altar im großen Saal der Matthäuskirche und blickte ergeben in das Antlitz des Heilands und Retters, das von der Figur des erhabenen Wandreliefs auf ihn herabstrahlte. Überwältigt von der Aura des Gesichts und des Nimbus fiel er auf die Knie, bekreuzigte sich, senkte den Kopf zum Boden und bat den Herrn inbrünstig um Vergebung und um Kraft für den schweren Weg, den er nun zu gehen habe.
Im oberen Kirchsaal der Hoffnungsgemeinde, den die Russen und Rumänen für ihre großen Messen nutzten, fühlte sich der Priester ebenso zuhause wie in der Unterkirche, in der er seine Gemeinden für kleinere Gottesdienste versammelte. Wann immer er sich bedrängt fühlte und meditative Ruhe für ein inniges Gebet in schwerer Stunde suchte, zog er sich gerne hierher zurück. Weit nach Mitternacht war er von der Hohenstaufenstraße in den hinteren Teil des Gemeindehauses gekommen, wo ihm auch ein kleiner Ruheraum zur Verfügung stand. Da sich der umtriebige Gottesmann auch für ein russisches Theaterprojekt in der benachbarten Falkschule engagierte, konnte er mit dem Schlüssel durch das hintere Tor des Schulhofes zur Kirche gelangen – offenbar unbemerkt, wie es schien.
Gregoriew hatte noch spät in der Nacht das Gespräch mit einem befreundeten Amtsbruder der russischen Kirche Sankt Nikolaus am Fischstein gesucht. Er brauchte geistigen Rat und Zuspruch, da er nicht wusste, wie er mit seiner jetzigen schwierigen Situation leben sollte. Nun hörte er, wie sich von hinten die Tür öffnete und eine vertraute gute Seele den Kirchsaal betrat.
„Gospodin, mein Gott, Vater Gregoriew, was machen Sie denn hier so ganz alleine? Es wird doch Zeit, dass wir die Unterkirche für die Frühmesse vorbereiten!“ Es war Anna Tschernowa, die Gemeindesekretärin, die schon am frühen Morgen nach dem Rechten sah – auch wenn ihr Dienst eigentlich erst zwei Stunden später begann. Sie erschrak, als sie den Priester so tief versunken vor dem Altar erblickte, und beschloss, die schlimme Nachricht noch einen Moment für sich zu behalten.
Gregoriew erhob sich, blickte im Kirchsaal umher, sichtlich bemüht, sich und seinen Geist wieder zurück ins Diesseits zu katapultieren.
„Ich komme gleich ... Ja, ich komme gleich. Einen Moment noch. Sagen Sie bitte unten Bescheid.“
Vorsichtig zog die Sekretärin nun die Tageszeitung aus der Handtasche, näherte sich dem Geistlichen und ließ die Finger über die Schreckensmeldung auf der Titelseite gleiten. „Schauen Sie doch, Vater Gregoriew! Direktor Klotzhofer – es, es ist etwas ganz Furchtbares passiert!“
Gregoriew zuckte zusammen, hielt sich die Hand ans Herz, blickte der mächtigen Heilandsfigur ins Antlitz. „Oh, Herr, nun hat er seine Strafe erhalten. Aber das wollte ich wirklich nicht, Anna, das müssen Sie mir glauben, das wollte ich nicht.“ Noch bevor die gute Seele irgendwie reagieren konnte, schob er sofort nach: „Und nun gehen Sie nach unten, bitte! Ich komme sofort nach.“
Anna Tschernowa tat, wie ihr geheißen, denn sie war es nicht gewohnt, die Anweisung eines Gottesmannes zu hinterfragen. Gregoriew erhob sich und versuchte dabei noch einmal seine Gedanken zu sammeln. Keine Frage, er hatte sich für seinen Glauben und seine Überzeugung aus der Reserve locken lassen, hatte oft viel zu laut, emotional und impulsiv reagiert. Nun war es zum Äußersten gekommen. Auch außerhalb des stillen Gebetes musste Gregoriew die Selbstbeherrschung und Kontrolle über seine körperlichen Regungen zurückgewinnen. Sonst würde er die kommenden Tage nicht überleben. Gregoriew blickte auf seine Hände, die sich nur allzu gerne zu Fäusten ballten, und befahl sich noch einmal Ruhe und innere Gelassenheit – mit der Hilfe des Herrn, versteht sich. Bedächtig schritt Gregoriew die violette Marmortreppe hinab und betrat die Unterkirche. Er legte sich gerade sein Priestergewand an und versuchte, sich auf die Morgenmesse vorzubereiten, als Pokroff die Eingangstür öffnete. Im Hintergrund brannten einige Wachskerzen, die eine strenge Ikone der Gottesmutter ausleuchteten. Aus dem rechten Seitentrakt erklangen die mystischen Gesänge der kirchenslawischen