Eric Scherer

Block 4.2


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da steht nichts. Da ist nichts zu sehen außer diesen vielen Logos, auf die sich drauftapsen lässt, damit sich die ganzen Programme öffnen, die auf dem Ding gespeichert sind. Apps nennt man die. Schon irre. Telefonieren ist nur noch eins von vielen Dingen, die diese Geräte beherrschen. Albin hat sich vor kurzem so ein iPhone zugelegt, das gerade neu auf den Markt gekommen. Heidrun fand’s natürlich blöd, unfassbar, dass du dein Geld für so einen Scheiß ausgibst, das Übliche halt. Heidrun besitzt natürlich noch so ein Mobiltelefon, das nur telefoniert und fertig. Okay, so ein paar Dinge zusätzlich kann es wahrscheinlich auch, wecken und so, aber die nutzt Heidrun nicht. Da aber kann Albin doch nichts für. Und für das iPhone hat er noch nicht einmal unnötig Geld ausgegeben, grad mal ein Euro hat er bezahlt, dafür musste er nur seinen Handy-Vertrag um zwei Jahre verlängern. Dadurch erhöht sich zwar die monatliche Grundgebühr um zehn oder zwanzig Euro, aber das muss Heidrun ja nicht wissen.

      Doch auch keine der vielen Apps auf seinem iPhone kann ihm verraten, wen er nun anrufen soll.

      Die Polizei?

      Mach dich doch nicht lächerlich.

      Albin hat fünf Weinschorle intus. Oder sind es sechs? Richtig, sechs. Die erste hat er noch zu Hause gepetzt. Anton hatte er auch eine eingeschenkt, aber nur eine ganz dünne, wegen der Medikamente, die der Alte nehmen muss. Anschließend bei Werner hat Albin insgesamt fünf Weinschorlen abgepumpt. Scheiß doch drauf, morgen spielt de Betze, und morgen geht’s um alles. Und sie sind dabei, in Block 4.2. Da muss man sich doch einstimmen. Und für Anton ist es vielleicht das letzte Mal, dass er ein Spiel miterlebt, wer weiß das schon. Vielleicht ist es auch das letzte Mal, wo er ein Spiel miterlebt, während dem er noch einigermaßen mitbekommt, was abgeht. Eines, an das er sich noch eine Weile ganz bewusst erinnern kann. Denn bald wird es ja so sein, dass der Parkinson aus seinem Hirn eine Wäschetrommel macht, in der sich die Erinnerungsbilder drehen und drehen, ohne dass er kontrollieren kann, welche hochkommen und welche nach unten abgedrängt werden.

      Und an das Spiel morgen soll sich Anton noch so lange erinnern können, wie es irgend geht. Sofern de Betze gewinnt, natürlich. Aber das muss er, egal wie.

      Wär ja sonst auch nicht zum Aushalten. Wenn de Betze sich morgen aus der großen Fußballwelt verabschiedet und zeitgleich auch Antons Geist in der Dunkelheit versinkt – unvorstellbar. Nach all den großen Zeiten, all den großen Spielen, die Anton uffem Betze erlebt hat.

      Seit Anfang neunzig sitzen sie gemeinsam in Block 4.2. Anton hatte schon zuvor dort gesessen, Albin dagegen stand in seinen ersten Jahren am Betze noch in der West, die ganz am Anfang noch eine Kurve, keine Tribüne war. So haben sie, noch ohne einander zu kennen, beide damals das Fünfnull gegen Real Madrid gesehen, doch, doch, de Betze hat die Königlichen mal fünfnull geschlagen, das glaubt dir von den Jungspunden heute keiner mehr. Zweiundachtzig war das. Der schlaue Funkel traf gleich zwei Mal, der feinfüßige Bongartz einmal, ebenso netzten der stets einen Tick zu hektische Eilenfeldt und der immer wohlfrisierte Geye. Albin stand mit seinen Kumpels in der West, es war die Zeit, in der sie ihre ersten Autos fuhren, die Karten hatten sie sich schon Wochen vorher in der Stadt besorgt.

      Anton war sogar schon beim Siebenvier gegen die Lederhosen dabei, dreiundsiebzig. Das hat Anton Albin gleich am ersten Abend erzählt, als sie sich kennenlernten, als Heidrun ihn, Albin, zum ersten Mal mit nach Hause brachte, in der Winterpause neunundachtzigneunzig. Heute behaupten Hunderttausende, beim Siebenvier gegen die Lederhosen dabei gewesen zu sein, aber Anton war tatsächlich dabei, und da hat sich Albin noch an diesem Abend gedacht, das wär doch ein Schwiegervater für mich, obwohl es mit Heidrun und ihm damals längst noch nicht so weit war. Und de Betze war damals Siebzehnter, es sah also gar nicht gut aus.

      Im Februar danach schmiss er dann aber den Trainer Roggensack endlich raus, nullvier hatte der auf dem Waldhof verloren, nullvier! Auf dem Waldhof! Und wen holte de Betze zurück? Kalli. Und alles wurde gut. Auch mit Heidrun und Albin war es in diesem Februar schon viel fester geworden und am siebzehnten März gingen Albin und Anton das erste Mal gemeinsam uff de Betze, saßen nebeneinander in Block 4.2, gegen Bochum, es war das dritte Spiel mit Kalli als Trainer, und wie ging’s aus? Zweieins für de Betze. Anschließend gewann Kalli noch drei Mal hintereinander, de Betze kletterte auf Rang elf und vorbei war’s mit der Abstiegsangst. Und im Mai fuhren Albin und Anton gemeinsam nach Berlin, im Fanbus, denn Kalli hatte de Betze auch noch ins Pokalfinale geführt – und gewann gegen Bremen, dreizwei, Labbadia und Kuntz machten die Tore, und nach jedem Treffer tanzten die beiden gemeinsam auf der Aschenbahn.

      Einundneunzig waren Albin und Anton gemeinsam in Köln, am letzten Spieltag, da ging es um nichts weniger als die Deutsche Meisterschaft, sechszwei de Betze die Geißböcke vom Platz gefegt, zwei Mal Haber, zwei Mal Winkler, Dooley und Schupp, und damit Kalli de Betze zum Meister gemacht, zum ersten Mal nach siebenunddreißig Jahren wieder. Albin rannte mit aufs Feld, als die Fans nach Schupps Sechszwei das Spielfeld stürmten, obwohl da eigentlich noch gar nicht abgepfiffen war, nicht auszudenken, wenn das Spiel daraufhin nicht gewertet worden wäre. Sechsundneunzig waren sie natürlich wieder in Berlin dabei, beim nächsten Pokalfinale, wieder Sieg, einsnull gegen Karlsruhe, Wagner hatte das Tor gemacht. Dumm nur, dass de Betze in der Saison zuvor abgestiegen war, ausgerechnet in dem Jahr, in dem Albin und Heidrun heirateten.

      Doch nur ein Jahr später kehrte de Betze zurück, diesmal von König Otto regiert, und auch beim finalen Siebensechs gegen Meppen waren Albin und Anton dabei. Was für ein Ergebnis: siebensechs! Doch das war nicht gegen das, was siebenundneunzig geschah. Schon zum Saisonauftakt gewann de Betze bei den Lederhosen einsnull, Schjönberg nach Freistoß vom überragenden Sforza, und in der Rückrunde schlug de Betze die Lederhosen zu Hause, einen Tag vor Nikolaus, zweinull, Eigentor Hamann und Hristov. Und im Februar, am Valentinstag, am Tag der Verliebten, Heidrun war stinksauer, weil Albin sie allein ließ, fuhren Albin und Anton nach Stuttgart, einsnull, wieder Hristov. Und natürlich saßen sie auch am dreiundreißigsten Spieltag in Block 4.2, als de Betze alles klar machte, gegen Wolfsburg, viernull, Wagner, Rische und zwei Mal Marschall, der Fußballgott.

      Auch die Jahre danach haben sie kein Spiel versäumt, auch wenn de Betze nie mehr so weit oben angreifen sollte. Bei Heimspielen saßen sie in Block 4.2, die Auswärtspartien verfolgten sie gemeinsam vor der Glotze. Meistens jedenfalls. Bei wirklich wichtigen Partien waren sie auch in der Fremde immer dabei.

      Nur nicht am dreizehnten Mai zweitausendsechs. In Wolfsburg. Als es wieder mal um alles ging.

      Albin war dabei, aber Anton nicht. Das Spiel endete zweizwei. Das reichte nicht. De Betze stieg in die Zweite Liga ab.

      Und nun, nur zwei Jahre später, droht der nächste Sturz. Das kann, das darf nicht sein. Aus der Dritten Liga käme de Betze niemals mehr zurück. Darum darf Anton morgen in Block 4.2 auf keinen Fall fehlen.

      Doch wenn Albin nun die Bullen ruft, hat er keine Chance, dabei zu sein. Denn die werden kommen und sich erst mal blöd angucken, wenn Albin seine Geschichte erzählt von dem scheiß Dreier-BMW, der plötzlich vor ihm auftauchte und mit dem er einen Frontalzusammenstoß nur vermeiden konnte, indem er seinen Libero von der Straße riss, während der scheiß Dreier-BMW einfach weiterfuhr und wieder verschwand, als hätte die Nacht ihn einfach nur mal schnell ausgekotzt und gleich wieder gefressen, als wäre sie ein räudiger Hund.

      + + +

      Doch das werden ihm die Bullen nicht glauben. Sie werden ihn blasen lassen, in ihr komisches Plastikkästlein mit dem Mundstück, und die roten Drähtchen auf dem Display werden ihnen Albins Promillewert präsentieren, und die erste Ziffer wird eine „1“ sein. Dann werden die Bullen ihn mitnehmen, aufs Revier, und eine verbitterte diensthabende Ärztin, der es nicht gelungen ist, mehr aus sich und ihrem Medizinstudium zu machen, wird ihm eine Blutprobe abnehmen und blöde Fragen stellen. Den Rest der Nacht wird Albin dann in einer Ausnüchterungszelle verbringen. Anton wiederum werden die Bullen nach Hause fahren, zu Heidrun, die ausflippen wird, erst recht, weil ihr niemand korrekt schildern kann, was geschehen ist. Anton nicht, weil er nicht mehr alles zusammenbekommt, der Champ nicht, weil er keine komplexen Zusammenhänge erklären kann, die Bullen nicht, weil sie Albin ja nicht geglaubt haben. Und Heidrun würde ihm natürlich auch nicht glauben, aber von ihm könnte sie die wahre Geschichte wenigstens einmal zu hören bekommen. Heidrun wird Anton Bettruhe verordnen und Hausarrest, und