Eric Scherer

Block 4.2


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diesbezüglich hat eine Erste Polizeihauptkommissarin so ihre Erfahrungswerte.

      Die motorisierte Dorfjugend in diesen Breiten schüttet an Wochenenden mindestens ebenso viel Alkohol in sich hinein wie Benzin in ihre scheiß Dreier-BMWs oder was auch immer. Immerhin sozialisiert sie sich noch wie ihre Vorväter, kommt an Wochenenden zusammen, um sich gemeinschaftlich zu besaufen und oder in den Fortpflanzungswettstreit zu treten. So war es schon immer und so wird es hier auch immer sein. Anderswo tendiert die derzeit nachwachsende Generation dagegen dazu, vorm heimischen Computer sitzenzubleiben und sich während des mitternächtlichen Pornoseitenstudiums zu Tode zu masturbieren.

      Also, Lea, sei froh und dankbar für die, die dir noch etwas zu tun geben in diesen endlosen Nachtdiensten, vorzugsweise an Wochenenden.

      Die Frage bleibt: Und nun?

      Das Beste wäre, eine Streife zu verständigen, damit die am angegebenen Ort mal nachschaut. Das Problem: Es ist gerade keine Streife unterwegs. Gerade sind die Pizzen eingetroffen, die die Jungs geordert haben. Jetzt ist die gesamte Schicht im Aufenthaltsraum am Spachteln. Drum sitzt Lea ja am Telefon. Sie hat keine Pizza gewollt, wie immer. Das zeugt natürlich nicht unbedingt von Sozialkompetenz, ein guter Vorgesetzter verputzt auch mal Pizza mit seiner Mannschaft, aber sie verträgt so etwas Schweres und Fettes so spät am Abend nicht, und überhaupt, einer muss ja Telefon und Funkanlage im Blick behalten. Doch jetzt in den Aufenthaltsraum zu gehen und zwei zu bestimmen, die rausfahren und diese anonyme Unfallmeldung überprüfen, bekäme ihrer Sozialkompetenz noch weniger. Denn der gemeinschaftliche Pizzaverzehr der diensthabenden Schicht am späten Samstagabend ist ein Ritual, das nicht gestört werden darf.

      Es ist sogar mehr als das, es ist die Bestimmung dieser Jungs: Sie kämpfen für Recht und Pizza.

      Das ist der Satz, den Lea sich aus dieser Zeichentrickserie behalten hat. Sie schaute sie vor Jahren mit ihrem kleinen Neffen Nils, wenn ihr Bruder sie als Babysitter angeheuert hatte. Der sogar noch die Dreistigkeit besaß, ihr zu beteuern, er frage gar nicht mal aus Verzweiflung, niemanden sonst zu wissen, der auf seinen kleinen Sohn aufpasse, er könne jederzeit für kleines Geld eine Studentin dafür gewinnen – er hoffe vielmehr, Lea „auf den Geschmack“ zu bringen, eigene Kinder in die Welt zu setzen, wenn er sie hin und wieder einen Abend auf Nils aufpassen lasse … Arschloch. Tatsächlich war dieser fette, quengelige, immerfort lärmende Balg das denkbar beste Argument gegen eigene Kinder, eigentlich nur ruhigzustellen mit Ramsch aus der Glotze.

      Also sedierte Lea den kleinen Nils mit Zeichentrickserien, die sie dann notgedrungen selbst mit anschauen musste. Und eine davon waren die „Samurai Pizza Cats“. Hauptfiguren waren drei fette japanische Katzen, die in einem futuristischen Tokyo eine Pizzeria betrieben, allerdings nur zur Tarnung, denn tatsächlich waren sie Superhelden, die, sobald ihre Welt von Unholden bedroht wurde, zum Samuraischwert griffen. Lea kennt sogar ihre Namen noch: Speedy Gorgonzola, Guido Casanova und Polly Ester. Zu Beginn jeder Folge stellte eine markige Stimme aus dem Off das Trio vor und erklärte dem Betrachter: „Sie kämpfen für Recht und Pizza.“

      Der Satz hat sich in Leas Hirn gebrannt, und schon oft hat sie sich verflucht, weil ihr solche Unsinnssätze nachhaltiger im Gedächtnis bleiben als wirklich wichtige Dinge. So kann sie sich beispielsweise die PIN-Nummer ihrer EC-Karte gerade so merken, nicht aber die ihrer VISA-Karte. Dafür käut ihr Hirn jedes Mal diesen Satz wieder, wenn sich die Jungs ihrem Pizzaritual hingeben. Und wenn sie zum Essen auch noch ihre Schutzwesten anbehalten, was erstaunlich viele tun, erinnern sie noch stärker an die fetten Katzen in ihren kybernetischen Schutzanzügen, nur die Samuraischwerter und die Stirnbänder fehlen.

      Manchmal träumt Lea davon, an dem Tag, an dem die Jungs ihre Art von Humor zu verstehen gelernt haben, im Aufenthaltsraum ein Transparent aufzuhängen, auf dem steht: „Sie kämpfen für Recht und Pizza.“

      Und noch immer schwebt die Frage im Raum: Was nun?

      Es hilft nichts: Das Beste wird sein, sie fährt selbst raus und checkt die anonyme Unfallmeldung. Vielleicht liegt da tatsächlich ein Unfallopfer in seinem Blut. Wäre der Anruf drei Minuten später gekommen, hätte sie Stolte damit beauftragen können. Der nämlich hat sich gerade zur Tanke aufgemacht, weil der Pizzaservice ihm kein Malzbier mitliefern konnte. Die anderen haben alle Wasser und Cola geordert, das war natürlich kein Problem, aber Stolte besteht auf Malzbier. Jemandem, der aus freien Stücken sein samstägliches Pizzaritual unterbricht, um sich einen eigenen, sehr speziellen Getränkewunsch zu erfüllen, dem darf eine Inspektionsleiterin durchaus noch eine zusätzliche Aufgabe mit auf den Weg geben, ohne dass ihre Sozialkompetenz leidet. Schließlich sind wir im Dienst, trotz allem, da muss Recht auch mal vor Pizza gehen. Auch wenn Pizza schneller kalt wird als Recht.

      Lea greift nach dem Schlüssel ihres Dienstwagens und erhebt sich. Eigentlich dürfte sie ja gar nicht allein rausfahren. Aber was soll sie sonst tun?

      Wenn sie jetzt tatsächlich im Bereitschaftsraum nach einem Freiwilligen fragt, der eventuell bereit ist, sie zu begleiten und seine Pizza erst in einer halben Stunde kalt zu verzehren, wird sich nur Hoffmann melden. Doch wenn sie mit dem losfährt, beflügelt sie die schmuddelige Phantasie der Zurückbleibenden. Sie werden sich ausmalen, wie sie mit Hoffmann in den nächsten Waldweg fährt, um sich ihm hinzugeben, sich „hagge“ zu lassen, wie die Jungs sagen würden. Denn so ein gemeinschaftlich genossenes Pizzaritual braucht auch geistige Nahrung, an der alle teilhaben können, und da die aktuellen Bundesligaergebnisse nicht mehr so anregend zu diskutieren sind, seit de Betze in der Zweiten Liga spielt, ist Klatsch aus der Erotikküche ein ungleich dankbareres Thema. Hoffmann steht nun einmal im Ruf, „scharf“ auf „die Alte“ zu sein, so nennen die Jungs ihre Inspektionsleiterin nämlich, Lea hat das längst aufgeschnappt.

      Das Schlimme daran ist: Die Jungs haben vermutlich recht. Hoffmann scheint ihr tatsächlich stärker zugeneigt zu sein, als es einem korrekt geregelten Dienstverhältnis zuträglich wäre. Auch diese Signale hat die Erste Polizeihauptkommissarin längst vernommen, er stellt sich ja auch zu tumb an, doch hat sie absolut keinen Nerv dafür.

      Also fährt sie lieber allein.

      Lea streift sich ihre Jacke über und gibt den Jungs Bescheid, dass sie auf Telefon und Funkanlage acht geben, sie müsse mal für eine halbe Stunde weg. Ob in dienstlicher oder privater Angelegenheit, lässt sie offen. Kann sie sich leisten als Dienststellenleiterin.

      Im Hinausgehen hört sie, wie Hanns und Holbein zu streiten beginnen. Hanns hat sich offenbar die Pizza von Holbein gekrallt, der mit Salami, Pilzen und Zwiebeln geordert hatte – auf dem Exemplar, das Hanns ausgehändigt worden ist, hat dieser jedoch keine Zwiebeln entdeckt, wohl aber auf der Pizza, die Hanns nun vor sich hat. Hanns aber scheint zum Tausch nicht bereit. Lea interessiert nicht wirklich, wie die beiden diesen Konflikt lösen werden. Vernünftig genug, nicht von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen, werden sie wohl sein.

      Sie kämpfen manchmal eben leidenschaftlicher für Pizza als für Recht. Da ist es besser, sich rauszuhalten.

      Als sie den Ort verlässt, um in den Wald einzutauchen, fallen ihr drei Typen auf, die auf dem Radweg daherkommen, der die Gemeinde mit der benachbarten verbindet. Einer davon sitzt im Rollstuhl. Der Nachbarort ist fast fünf Kilometer entfernt, ganz schön ungewöhnlich, dass drei Einheimische diese Distanz zu Fuß überbrücken, um diese Uhrzeit, am späten Samstagabend, auch noch mit einem Behinderten im Schlepptau. Immerhin: Sie laufen anscheinend lieber, statt sich gegebenenfalls alkoholisiert hinters Steuer zu setzen. Löblich. In solchen Momenten könnte Lea beinahe glauben, in ihrem Zuständigkeitsbereich existiere doch noch so etwas wie gesunder Menschenverstand.

      Der eine von den dreien erinnert Lea sogar an jemanden, an eine lokale Größe, mit der die Jungs öfter zu tun haben, an diesen Ex-Boxer, diesen – wie heißt er doch gleich? –, ach ja, Heiner Kühn. Kann er aber kaum sein, denn dass ausgerechnet der zu den Vernunftbegabten in ihrem Zuständigkeitsbereich gehört, kann Lea sich beim besten Willen nicht vorstellen. Liegt gegen diesen Kühn nicht auch aktuell gerade was vor? Egal, sie hat jetzt was anderes zu tun.

      + + +

      Stolte überlegt kurz, ob er sich diese drei Milchbärte mal vornehmen soll. Wenigstens die Ausweise könnte er sich zeigen lassen.