Eric Scherer

Block 4.2


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Zum Speien, zum „Scheiße“-Schreien.

      Der Libero liegt leicht in der Schräge, seine Räder zeigen die Böschung hinauf. Ihn gegen die Neigung aufzurichten, ist mit zwei Mann unmöglich. Rollen sie ihn vom Hang weg, müssten Albin und der Champ ihn um die eigene Achse drehen, ihn erst aufs Dach stellen, dann auf die Seite klatschen lassen und erneut aufstellen. Selbst wenn sie das hinbekämen, würde er dabei wohl erst recht kaputtgehen. Sofern er das nicht bereits ist.

      Hat sich denn alles gegen ihn verschworen?

      Durchgeschüttelt von dieser Wut, die sich durchs Bauchfell frisst, weil sie nicht weiß, gegen wen sonst sie sich richten soll, blickt Albin abermals gen Norden. Der Stern leuchtet noch immer, immer noch über der gleichen Stelle, überm Betze … Doch, doch, so langsam kannst du es nicht mehr vor dir selbst verleugnen, die virtuelle Kompassnadel lügt nicht …

      Anton haben sie eine von den Andurln in die Hand gedrückt, die sie bei Werner mitgenommen haben. Ein Stück Zwiebelbrot hat Albin ihm auch gereicht. Einfach abgebrochen vom frischen Laib.

      Bekommst du längst nicht mehr überall, so eine Andurl und so ein Zwiebelbrot. Nur bei ausgesuchten Metzgern und Bäckern, Werner weiß natürlich bei welchen, irgendwo auf der Höhe besorgt er sie und vertickt sie unter der Hand an seine – ebenfalls ausgesuchten – Stammgäste. Zwiebelbrot und Andurln waren eigentlich als Wegzehrung für morgen gedacht, dazu haben sie bei Werner eine Palette Büchsenbier eingeladen, Parkbräu, kriegst du auch nicht immer überall, aber es muss nun einmal Büchsenbier sein, wenn es uff de Betze geht, Tradition ist Tradition. Vor allem, weil Anton nichts mehr so vertraut ist wie Tradition, die sich verputzen lässt. Albin weiß das. Das Hirn des Alten mag langsam zu Mus werden, aber sein Gaumen vermag immer noch zu unterscheiden, was gut ist und was nicht. Und diese Andurln sind gut, verdammt gut, und Zwiebelbrot und Parkbräu-Dosenbier ebenfalls. Obwohl das Dosenbier eher eine Referenz an den Champ ist. Womöglich interessiert ihn das sogar noch mehr als Fußball, aber egal. Albin weiß natürlich um die Probleme, die der Büchsenmüll verursacht, nicht, dass er Ökofreak ist, doch wo sich mit Sinn und Verstand was tun lässt gegen Umweltverschmutzung, da ist er schon dabei. Normalerweise. Doch der Champ steht auf Dosenbier, und der Champ ist sein Freund.

      Anton beißt knackend ein Stück von seiner Andurl ab. Bald hat er sie auf. Schon klar, er frisst mehr aus Nervosität denn aus Appetit. Wahrscheinlich weiß das noch funktionierende Stück Resthirn in seinem Schädel immer noch nicht, was es von dieser Geschichte halten soll, die sich da gerade abspielt. Wahrscheinlich wird er sofort wieder quengelig, wenn er die Andurl vertilgt hat, da ist er wie ein kleines Kind, wenn es nichts mehr zu tun hat, wird es quengelig. Ihm noch eine Andurl in die Hand zu drücken, kommt aber nicht in Frage. Dann wären ja schon zwei weg, und wer weiß, wann Werner wieder mal welche besorgen kann. Und ein bisschen was will Albin ja auch davon abhaben, denn er liebt diese kräftige, dicke Wurst, auf die sich nur noch wenige Metzger verstehen, da das Rezept nach alter Tradition nur von den Lippen des Metzgervaters ans Ohr des Metzgerbuben weitergegeben wird. Rind-, Schweinefleisch und Speck sind jedenfalls drin, dazu Kesselbrühe, und dann ist die Wurst in Buchenholz geräuchert worden. Albins Magensäfte beginnen sich schon zu rühren, wenn er nur daran denkt. Dass er nun auch noch zusehen muss, wie Anton sich den letzten Zipfel der ersten Wurst einverleibt, macht die Sache nicht besser.

      Mein Gott, wenn er auch sonst nichts mehr kann, fressen kann er noch, der Alte.

      Albin entschließt sich, ihm nun eine Dose Bier in die Hand zu drücken. Die soll er saufen, Medikamente hin oder her, irgendwie muss er den Alten ruhighalten, denn wenn der jetzt auch noch nervt, dreht Albin vollends durch.

      Verzweifelt schaut er ein weiteres Mal nach Norden. Der Stern leuchtet weiter, fast scheint es, noch ein Stück heller als zuvor ...

      Kann es denn wirklich sein? Kann es wirklich sein, dass hier irgendjemand – sprechen wir es ruhig aus: eine höhere Macht – ihm sagen will: Trau dich! Tu es! Mach es!

      Aber soll das gehen? Mit Anton im Gepäck?

      Gut, es sind nur vierzig Kilometer. Und noch vierzehn Stunden Zeit. Doch dazwischen liegt nichts als Wald. Sehr viel Wald. Zu viel Wald. Tiefschwarzer Wald, durch den niemals durchzufinden ist, nicht mitten in der Nacht.

      Obwohl: Da sind doch überall Schilder für Wanderer angebracht. Und es gibt Lampen im Libero. Und du hast so eine Navigations-App auf dem iPhone.

      Vergiss es. Du bist besoffen. Oder zumindest angetrunken.

      Andererseits: Sie sind Kinder dieses Waldes, mehr oder weniger. Er kann ihnen doch keine Angst machen, so schwarz und bedrohlich er sich auch zeigt in der Nacht, es ist der gleiche Wald wie am Tag. Der Wald, der ihnen und ihren Vorfahren immer Schutz gewährt hat, über Jahrhunderte hinweg. Der Wald, aus dem sie doch alle stammen, in dem sie gelebt haben, sich an Ästen vorwärts geschwungen haben wie die Affen, bis sie irgendwann aus ihm herausgekrochen sind, vor Abertausenden von Jahren, um in den Ebenen das aufrechte Gehen zu lernen, das Geschäftemachen und das Jemand-anders-als-die-eigene-Blutsverwandtschaft-Vögeln. Und auch als sie ihre Dörfer und Städte errichtet hatten, sind sie immer wieder in den Wald zurückgekehrt, um sich Wild zu schießen, Beeren zu pflücken und Holz zu schlagen. Und wenn Mördervolk durch die Lande zog, sind sie aus ihren Häusern geflüchtet und haben sich im Wald versteckt, manchmal wochenlang. Es gab für sie nie einen sichereren Ort als den Wald, und keinen, wo sich länger und leichter überleben ließ.

      Nicht umsonst hat auch Atze, als er uffem Betze noch das Zepter schwang, einmal die Worte gesprochen: „Wenn es uns schlecht geht, müssen wir in den Wald, um unsere Wunden zu lecken. Und wenn es uns dann wieder gut geht, kommen wir raus und hauen den Großen auf den Kopf.“

      So sind wir Waldmenschen, genau so. Wie Robin Hood. Der Wald macht uns keine Angst, selbst in seiner tiefsten Dunkelheit nicht. Da mögen andere ihm noch so viel Unheimlichkeit angedichtet haben, wohlgemerkt: angedichtet. Die ganzen Geschichten um Elfen, Trolle und zahnlose Hexen, die im Wald hausen. Alles Blödsinn, nichts als Hirngespinste. Herausgehört aus dem Rauschen der Baumwipfel oder Fehlwahrnehmungen in trügerischem Licht, wenn die Sonne nur in ungeordneten Strahlenbündeln in den Wald hineinleuchtet. Ganz zu schweigen vom Nebel, in dem alle möglichen Schemen ausgemacht werden, wenn er durch den Wald wabert, vor allem in der Dämmerung. Hexenweiber, Fabelwesen oder Wiedergänger, manchmal sind sie kaum zum Aushalten, die Gruselmärchen, die vor solcher Kulisse schon gesponnen worden sind. Und gefräßiges Getier, vor dem sich der Mensch fürchten muss, haust im Wald schon lange nicht mehr. Es gibt überhaupt kein Getier mehr, vor dem der Mensch sich fürchten muss, eher umgekehrt.

      Da kann der Wald in der Nacht also noch so tiefschwarz sein und bedrohlich wirken, fürchten müssen sie ihn nicht.

      Albin blickt erneut auf sein iPhone. „Google Maps“ heißt diese Navigations-App. Auf der ist ein blauer Ball, der sich über eine Landkarte bewegt. Auf der sind nicht nur Straßen, sondern auch Wanderwege eingezeichnet. Und die führen wesentlich gradliniger durch den Wald.

      Albin setzt seinen Standort ins Startkästchen und tippt als Ziel den Betze ein.

      Tatsächlich: Mit dem Auto sind es fast sechzig Kilometer, zu Fuß durch den Wald weniger als vierzig. Und sie haben immer noch vierzehn Stunden Zeit. Das sind weniger als drei Kilometer pro Stunde. Die ersten sechs, sieben Kilometer bewegen sie sich auf asphaltierten Wegen, da schaffen sie locker vier Kilometer. Theoretisch können sie sich also sogar die ein oder andere Pause gönnen. Theoretisch ...

      Wenn die Wege zu schlammig werden für Antons Rollstuhl, klappen sie ihn einfach zusammen, einer trägt den Rollstuhl, der ist wirklich nicht schwer, und der andere Anton huckepack, das schaffen sie schon, Anton wiegt nicht mehr viel, Albin ist von Natur aus kräftig und der Champ immer noch gut durchtrainiert. Albin hat zwei ordentliche Handlampen im Auto, die hat er sich vor Jahren mal zugelegt, weil sie dann und wann nachts in den Wald fahren, um sich Brennholz zu besorgen. Sicherheitshalber können sie ja an der nächsten Tanke noch mal ein paar Batterien nachkaufen, damit ihnen nicht mitten im Wald der Saft ausgeht.

      Und im Gepäck haben sie jetzt noch zwei Andurln, ein Pfälzer Zwiebelbrot und zweiundzwanzig Dosen Parkbräu. Einundzwanzig, denn eine hat Albin ja mittlerweile seinem Schwiegervater gereicht, und dem Champ