Eric Scherer

Block 4.2


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auf sein Pistolenhalfter, als wolle er seine Bereitschaft zu ziehen demonstrieren. Das mag jetzt vielleicht etwas übertrieben wirken, ein bisschen zu sehr Sheriff, doch Stolte kann nichts dafür, er tut dies unbewusst.

      „Wir kommen aber auch mit“, glaubt der Dicke entscheiden zu können.

      „Mein Streifenwagen ist nicht für einen Behindertentransport vorgesehen“, bügelt Stolte ihn mit Blick auf den Rollstuhlfahrer ab.

      „Mein Schwiegervater ist nicht permanent auf den Rollstuhl angewiesen“, kontert der Dicke wie aus der Pistole geschossen. „Er kann kürzere Strecken ohne Probleme laufen. Er kann sich also auch bequem hinten in Ihren Wagen setzen. Der Rollstuhl lässt sich prima zusammenklappen und passt dann in jeden Kofferraum. Wenn wir nicht mitkommen dürfen, kommt auch der Champ nicht mit.“

      Stolte überlegt noch einem Moment, ob er sich das bieten lassen soll, lenkt dann aber ein. Der alte Mann ist immerhin körperlich eingeschränkt, vielleicht ist der Dicke ja auf Kühns Hilfe angewiesen, um ihn herumzuhieven, sodass es besser ist, die beiden nicht ohne ihn zurückzulassen.

      „Also gut“, sagt Stolte daher und unterdrückt ein Zähnekirschen. Wobei er ein bisschen auch auf sich selbst sauer ist, auf seine Gutmütigkeit, aber auch auf seinen verdammten Diensteifer. Seine Pizza wird jetzt kalt werden …

      Aber manchmal geht Recht eben auch vor Pizza.

      + + +

      Lustig ist das Schutzpolizistenleben ... Und manchmal nur mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus zu ertragen.

      Was hat sie sich da nur wieder aufgehalst. Mitten in der Nacht den Fahrbahnrand einer mickrigen Kreisstraße absuchen.

      Die Lichtkegel, die die Scheinwerfer von Leas Vectra produzieren, sind nicht breit genug, um die Räume neben der Fahrbahn vernünftig auszuleuchten. Also muss Lea alle hundert Meter anhalten und aussteigen, um die Landschaft mit der Handlampe zu untersuchen.

      Die anonyme Anruferin hat leider nicht verraten, in welchem Tempo das Auto von der Fahrbahn abgekommen war, ehe es sich überschlug. Aber allzu weit in die nächtliche Natur hinein kann es den Wagen nicht getragen haben. Bis an den Waldrand sind es fast dreißig Meter.

      Ist ja nicht so, dass das Jungvolk in diesen Breiten nicht gerne mal ordentlich Gas gibt. Lea hat schon Unfälle aufgenommen, da waren juvenile Verkehrsteilnehmer nach dem Besuch eines Volksfestes mit zweihundert Sachen auf Kreisstraßen wie dieser unterwegs – und flogen, als es sie vom Asphalt fegte, über zweihundert Meter weit ins Feld.

      Zappenduster erhebt er sich da vor ihr, der Wald. Steht schwarz und schweigt, wie im Lied. Wie sagte doch ihr Ex damals, als sie ihm mitteilte, wohin sie sich beworben hatte? Verkriechst du dich jetzt im Wald, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen? Sie hatte dies natürlich unkommentiert gelassen, im Stillen aber gedacht: So ganz unrecht hat er nicht. Nur „verkriechen“ hätte sie es nicht genannt. Doch so was wie „Zurück zur Natur“ war ihr schon im Hirn herumgeschwurbelt, als es sie drängte, künftig auf einer Polizeiwache im tiefsten finstren Wald Dienst zu tun. Der Ehrgeiz, die erste Frau zu sein, die eine Polizeiinspektion hinter den sieben Bergen leiten sollte, trieb sie dagegen kein bisschen um, das versicherte sie auch dem Lokalblattschreiber, der sie an ihrem ersten Tag interviewte. Der gab dies sogar korrekt wieder, nur geglaubt hat es niemand, ihm nicht und ihr erst recht nicht. Sie wollte keine feministischen Duftmarken setzen, sie wollte an den Busen der Natur, in unverbrauchte Luft, zwischen reinen Seelen wieder zu sich finden, ganz so, wie es Stadtflüchtende in Heimatfilmen behaupten.

      Doch, so naiv ist sie gewesen, damals.

      Und heute? Fühlt sie sich der Jungfrau von der Wegelnburg am nächsten, mit deren Geschichte sie einer der wenigen Verehrer zu betören versuchte, die auf den Plan traten, seit sie sich am Busen der Natur niedergelassen hat. Der Jungfrau von der Wegelnburg sei zu Lebzeiten nie einer recht gewesen, erzählte der passionierte Heimatkundler. Keiner ihrer Freier war ihr gut genug, und es waren nicht wenige, die um sie warben. Drum starb sie unbegattet, und zu allem Überfluss wurde sie auch noch mit einem Fluch belegt, als sie das Zeitliche segnete. Sie musste fortan umgehen, und zwar gleich in drei verschiedenen Gestalten: Mal als warzige Kröte, mal als furchterregende Schlange und mal als die wunderschöne Jungfrau, die sie zeitlebens gewesen war. Erlösen von dem Fluch konnte sie nur, wer es wagte, sie in allen drei Erscheinungsformen zu knutschen, doch da sich nie jemand fand, der sich dazu überwinden konnte, streift die Jungfrau von der Wegelnburg noch heute durch die Wälder ...

      Eine gar nicht so blöde Geschichte eigentlich, um ein weibliches Zielobjekt willfährig zu quatschen. Doch Lea nahm den Heimatkundler nicht bei der Hand und führte ihn ins Schlafgemach, um ihm zu zeigen, dass sie die Botschaft verstanden hatte, dazu erschien ihr die Absicht dann doch zu durchsichtig. Mittlerweile aber fühlt sie sich der Jungfrau von der Wegelnburg näher denn je. Sie müsste schon in ihren sämtlichen Erscheinungsformen geküsst werden, um ihr Herz zu verlieren. Doch die Chancen stehen schlecht, denn sie präsentiert sich bisweilen in Erscheinungsformen, die will garantiert keiner küssen..

      Ob sie heute Nacht auch umgeht, die Schwester im Geiste, sie sie vielleicht gerade beobachtet, aus dem schwarzen Wald heraus?

      Du verträumte dumme Gans, um ein Haar hättest du glatt das Fahrzeugwrack übersehen, über das der Lichtkegel deiner Handlampe soeben geglitten ist.

      Tatsächlich. Da liegt er, der Unfallwagen. Und seine Schweinwerfer glotzen dich an wie die toten runden Augen einer Kuh, die sich nach einem letzten Grasen einfach zur Seite fallen ließ, um vor ihren Schöpfer zu treten.

      Ein kastenförmiger, japanischer Kleinbus. Nicht, dass Lea Autoästhetin wäre, aber viel Hässlicheres knoddelt sich hierzulande kaum durch den Straßenverkehr. Sieht nicht sonderlich zerbeult aus. Das macht Lea Hoffnung, dass sich vielleicht niemand mehr im Fahrzeuginneren befindet. Kein Schwerverletzter, der komatös vor sich hinblutet, und auch keiner, der bereits alles hinter sich hat. Hat Lea schließlich schon alles gesehen, nach über einem Dutzend Dienstjahren. Das sind Anblicke, die nie so ganz selbstverständlich werden.

      Sich die Handlampe neben ihr Gesicht haltend, tritt sie näher. Tatsächlich, der Fahrersitz ist leer, der Beifahrersitz ebenfalls. Als sie den Wagen erreicht, versucht sie, die seitliche Schiebetür zu öffnen, die nun nach oben zeigt. Klappt nicht. Also leuchtet sie durchs Seitenfenster hinein, um sehen zu können, ob sich jemand auf den hinteren Sitzreihen befindet. Auch das ist nicht der Fall.

      Die verunfallten Fahrzeuginsassen haben den Wagen also verlassen und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit wohlauf, mehr oder weniger jedenfalls. Und sie waren geistesgegenwärtig genug, die Karre wieder abzuschließen, bevor sie sie herrenlos zurückließen.

      Und sie haben weder Polizei noch Notarzt noch Feuerwehr gerufen.

      Was schließt die erfahrene Erste Polizeihauptkommissarin daraus?

      Die Unfallopfer waren genauso breit wie der Unfallverursacher. Drum sind sie nach dem Crash erst einmal nach Hause, um ihren Rausch auszuschlafen, bevor sie weitere Schritte unternehmen. Die vermutlich so aussehen, dass sie nach ihrer Ernüchterung zu ihrem Fahrzeug zurückkehren, um es zu bergen, heimlich, still und leise, weswegen dies mit Bordmitteln erledigt wird. Mit Vettern und Neffen im Schlepptau, die den Wagen aufstellen können, und einem Großonkel, der eine Seilwinde an seinem klapprigen Geländewagen hat. Oder der für diesen Sondereinsatz den alten Trecker aktiviert, der auf seinem Grundstück vor sich hinrostet und Öl verliert.

      Ließe Lea die Sache nun einfach auf sich beruhen, könnte sie sicher sein: Wenn sie morgen Abend hierher zurückkehrt, ist diese blecherne Fehlgeburt spurlos verschwunden. Sogar das Wiesengras hätte sich zwischenzeitlich wieder aufgestellt.

      Also könnte Lea jetzt einfach zur PI zurückfahren und bis zum Ende ihrer Schicht die Füße unter den Tisch strecken, und morgen wäre wieder alles so, als ob nichts geschehen wäre. Doch so einfach will sie es dieser versoffenen Brut nicht machen. Sie fasst an ihr Funkgerät, das in der Höhe ihres rechten Schlüsselbeins hängt, und lässt den Halter des Fahrzeugs feststellen.

      + + +

      „Wieder mal besoffen, und zugekokst wahrscheinlich