Eric Scherer

Block 4.2


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werden sie also nicht, verdursten erst recht nicht.

      Je länger Albin drüber nachdenkt, desto überzeugter ist er: Es könnte funktionieren. Vielleicht würde er diesen Plan sogar für einen guten halten, wenn er nüchtern wäre.

      „Champ?“, wendet Albin sich an den Freund.

      Der schaut ihn nur wortlos an. Der Champ ist eben alles andere als ein Schwätzer.

      „Was hältst du davon, wenn wir laufen?“

      „Wohin?“, fragt der Champ.

      „Uff de Betze.“

      Der Champ zuckt nur mit den Achseln.

      Dann ist es also entschieden. Albin schluckt. Hat nicht vielleicht ein Teil von ihm gehofft, der Champ würde Widerstand leisten, würde sagen, wie bitte, du bist verrückt, das kannst du doch nicht im Ernst meinen?

      Egal. Sie werden laufen. Und es wird hart werden. Vor allem für Albin mit seinen einhundertzehn Kilo. Die unbarmherzig auf seine Knie drücken werden, auf die viel zu kleinen, bereits überlasteten Knorpel, die die Unterschenkelknochen abfedern sollen, die viel zu schief im Kniegelenk stecken, und auf seine platten, schrägen Füße, auf denen sich sein Gewicht völlig ungleichmäßig verteilt, das hat ihm ein Orthopäde mal bestätigt. Die Bänder und Sehnen werden sich dehnen, bis hoch zum Arsch, seine Füße und Gelenke werden schmerzen, mit jedem Schritt mehr, vor allem, wenn es bergauf geht, und er wird zu schwitzen beginnen und die Luft wird ihm wegbleiben. Und es wird oft bergauf gehen, da täuscht die Landkarte mit dem blauen Ball auf seinem iPhone, darüber ist Albin sich im Klaren, denn auf diesem Bildschirm sieht alles nur flach aus.

      Aber er wird durchhalten. Weil er durchhalten muss. Sie werden morgen, vierzehn Uhr, im Block 4.2 sitzen. Und de Betze wird gewinnen, nicht absteigen und weiterbestehen. Weil er Anton mitgebracht hat. Das ist seine Mission, und die wird er erfüllen.

      Und dieser Stern, der da überm Betze strahlt, ist keine Einbildung.

      Man kann mal schlecht spielen, aber nie schlecht kämpfen. Hat Kalli immer gesagt. Also wirst du kämpfen. Und gewinnen. Den Schinken vom Giebel holen. Auch das hat Kalli immer gesagt.

      Als sie sich auf den Weg machen, zeigt sich der Mond in seiner vollen Pracht und taucht ihre kleine Welt in ein tiefes Blau, vor dem sich ihre Silhouetten wie Scherenschnitte abzeichnen. Die füllige Statur des breitschultrigen Albin, die schmale, asketische und hochgewachsene des Champ, und, zwischen beiden, die kugelige Erscheinung des gebeugten Anton in seinem Rollstuhl.

      Unter dessen Sitz verstaut ist eine Sporttasche mit zwei Andurln, einem Pfälzer Zwiebelbrot und zwanzig Dosen Parkbräu. Das heißt: Neunzehn, denn der Champ hat mittlerweile eine weitere geöffnet und trinkt von ihr, während er marschiert.

      Außerdem hat Albin noch den Verbandskasten aus dem Libero genommen und unter dem Rollstuhlsitz verstaut. Eine spontane Eingebung, die er kurz vorm Aufbruch noch hatte. Zur Sicherheit. Eine Option für den Fall, dass es am Ende vielleicht doch ganz hart kommt, falls sich seine Idee als doch nicht so gut erweist, vielleicht sogar als gefährlich für ihn und seine Gefährten, insbesondere Anton. Weil sie sich vielleicht als Ausgeburt des Dämons Alkohol herausstellt, als Schnapsidee halt, die ihm da wieder einmal in den Kopf gefahren ist. Wie die vielen anderen, die er schon hatte. Wer sie alle aufgezählt haben möchte, braucht nur Heidrun zu fragen, die tut das mit Begeisterung.

      Der Stern leuchtet immer noch überm Betze. Und, doch, er ist deutlich zu sehen, das ist kein Hirngespinst, das ist kein Streich, den ihm sein angetrunkener Kopf spielt. Da ist Albin sich absolut sicher. Im Moment jedenfalls. So einigermaßen.

      Recht und Pizza

      Lea wird diesen Dialekt nie verstehen. Was auch ein Schlaglicht auf ihre eigene große Lebenslüge wirft. Dass sie deswegen Uniform trägt, weil sie näher bei den Menschen sein will, ein echter Freund und Helfer eben. Als Kripo-Beamtin dagegen, was sie dank Abitur und Jurastudium ebenfalls sein könnte, wäre sie ja doch nur dazu da, die Menschen ihren Strafen zuzuführen, denn der Kripo-Beamte tritt immer erst auf den Plan, wenn die schlimmen Taten bereits begangen sind. Der Schupo dagegen, der hat manchmal wenigstens die Chance einzugreifen, wenn noch nicht alles entschieden ist, der kann noch dazwischengehen, zureden, einwirken, das Schlimmste verhindern, vielleicht.

      Hat sie diesen Blödsinn tatsächlich irgendwann einmal geglaubt? Dann sollte sie sich spätestens jetzt davon verabschieden. Sie ist über vierzig, leitet eine Polizeiinspektion im tiefsten, schwarzen Wald und versteht die Sprache der Waldbewohner nicht.

      Oder kaum.

      Die Kernaussagen dieser Anruferin hat sie immerhin ohne Dolmetscher verstanden.

      „Da ist ein Unfall passiert. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und hat sich überschlagen. Bitte schauen Sie da mal nach. Schnell.“

      Die Namen der beiden Ortschaften, zwischen denen der Unfall geschehen sein soll, vermag Lea allerdings nicht zu entschlüsseln. Da muss sie Hoffmann fragen. Der natürlich erst einmal herzhaft lacht, als Lea die Namen, die die junge Frau benutzt hat, in der regionalen Mundart wiederzugeben versucht. Dieses Vernuschelte, das mehr gebrummt als sonstwas daherkommt, das ganze Silben einfach verschluckt, nicht zwischen „ch“ und „sch“ unterscheidet, aus einem „K“ mit Vorliebe ein „G“ macht und Laute wie „F“ am liebsten gar nicht bildet, weil diese Waldbewohner das Zusammenspiel zwischen Zähnen und Lippe als lästig empfinden. Hoffmann vermag das nach seinem Heiterkeitsausbruch jedoch zu übersetzen, jetzt weiß Lea Bescheid.

      Mehr hat die junge Frau am Telefon nicht gesagt. Auf die Frage, wer sie sei, hat sie aufgelegt. Wollte anonym bleiben.

      Und was sagen diese dürftigen Informationen einer Ersten Polizeihauptkommissarin nun?

      Leas Vermutung, die aufgrund ihrer Erfahrungswerte mit einiger Wahrscheinlichkeit zutrifft: Die junge Frau saß auf dem Beifahrersitz des Unfallverursachers, wahrscheinlich ein junger Mann, wahrscheinlich alkoholisiert, wahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Der raste wahrscheinlich einfach weiter, nachdem er den Wagen, der sich dann überschlagen hatte, von der Fahrbahn gerammt hatte. Oder gedrängt. Oder was auch immer.

      Die junge Frau verfolgte das Geschehen wahrscheinlich auf dem Beifahrersitz und war wohl erst einmal starr vor Schreck. Mit zunehmender Dauer der Weiterfahrt aber begann sie die Ungewissheit zu plagen, was denn aus den Insassen des verunglückten Wagens geworden sein könnte. Den Fahrer dagegen kümmerte dies weniger, der wollte nach dem Vorfall nur noch seine Promille nach Hause fahren und sich zur Ruhe betten. Und morgen weitersehen, wenn der Alkohol abgebaut war, denn dies muss stets das erste Gebot sein, ehe man in diesen Breiten gegebenenfalls die Polizei einschaltete. Vermutlich lebt er mit der jungen Frau noch nicht zusammen. Er setzte sie zu Hause ab, nuschelte noch irgendwas, sie solle sich keine Gedanken machen, es wäre schon alles in Ordnung, er kümmere sich, und brauste davon. Mit sich allein, wurde die junge Frau alsbald noch heftiger von Gewissensbissen geplagt, sodass sie schließlich die Polizei anrief. Anonym, weil sie ihren Freund nicht rein reißen wollte, ihren „Stecher“, wie die Jungs sagen würden.

      Der hirnlose Macho hinterm Steuer und die Frau mit dem weichen Herzen auf dem Beifahrersitz. Die guten alten Rollenklischees, wenn sie sich irgendwo bewahrt haben, dann hier, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Das weiß niemand besser als eine Erste Polizeihauptkommissarin, die in diesem Wald Dienst tut. Erfahrungswerte.

      Und nun?

      Soll sie einen Rettungsdienst verständigen, damit dieser mal nachschaut? Es könnte schließlich um Leben und Tod gehen, wenn der Wagen sich tatsächlich überschlagen hat und die Insassen verletzt sind … Doch wie wahrscheinlich ist es, dass alle Insassen des Wagens so schwer verletzt sind, dass sie bislang selbst noch keinen Notruf absetzen konnten?

      Ist es nicht vielleicht wahrscheinlicher, dass alles vielleicht gar nicht so schlimm war, wie die junge Frau glaubte, es wahrgenommen zu haben? Dass der Wagen sich vielleicht gar nicht überschlagen hat, sondern nur ein paar Meter ins Feld gefahren ist, die Insassen dann ein paar Mal ordentlich geflucht, sich dann aber aus dem Staub gemacht haben, weil sie ihrerseits nichts