winzigen Sandkörnchen, die in die viel zu weiten Stiefelschäfte eindrangen und beim Aufstehen zu den Füßen rieselten. Dort setzten sie sich zwischen den Fußlappen oder in den Strümpfen fest und schmirgelten die Haut, bis sie sich in Fetzen vom Fleisch löste. Am liebsten hätten die blutjungen Männer ihren teuflischen Schmerz in die Welt hinaus gebrüllt, doch es galt, die Zähne zusammenzubeißen und die Befehle auszuführen.
Oh, welche Wonne, wenn am Ende der Ausbildung der Befehl ertönte: „Kompanie sammeln! In Marschkolonne angetreten, marsch, marsch!” Obwohl der Körper völlig ausgelaugt und die Kräfte erlahmt waren, dazu der Schmerz in den Füßen teuflisch brannte, vermochten es die Rekruten, die Kaserne stets mit einem Lied auf den Lippen zu erreichen.
Ausgetrocknet wie Schwämme, stürzten sie sich nach dem Wegtreten auf dem Kasernenhof in die Waschräume, tranken das eiskalte Wasser und ließen es sich über die Köpfe laufen. Dann rissen sie die Stiefel von den Füßen und hielten sie unter den kühlenden Wasserstrahl.
Noch schlimmer als der körperliche Schmerz war der seelische den ihnen einige Ausbilder zufügten. Einige von ihnen kannten weder Menschenwürde noch Barmherzigkeit. Für sie waren die Rekruten Hundepack, dreckige Zivilisten, Schmarotzer, Blindgänger und vieles mehr. Maßlos in ihrer Arroganz und Machtbesessenheit machten sie den Rekruten das Dasein zur Hölle. Erbarmungslos nutzten sie ihre Befehlsgewalt und die Ohnmacht der Untergebenen.
Ordnung und Disziplin waren Karl keineswegs zuwider; im Gegenteil, er war sehr dafür, denn in einer Gemeinschaft von Menschen kann nicht jeder tun und lassen, was er will. Doch was er in den Wochen der Ausbildung erlebte, erweckte Zweifel an den Methoden der Ausbilder.
Abschied von Margot
Obwohl erste Schatten des Kasernenlebens auf Karls Gemüt gefallen waren, erwähnte er davon nichts im Brief an seine Mutter. Er versuchte bildhaft auszudrücken, was er auf der langen Fahrt über Berlin bis Neuruppin erlebt und gesehen hatte. Auch schilderte er, mit welch prima Jungs er auf einer Stube läge und dass er einen sehr interessanten und klugen Dresdner kennen gelernt habe. Zum Abschluss wob Karl für die Umgebung von Neuruppin mit ihren herrlichen Seen und dunklen Wäldern, ein zaubrisches Landschaftsgemälde.
Für die Geschwister legte er einen extra Bogen bei – mit herzlichen Grüßen und der Bitte, zur Mutter immer freundlich und hilfsbereit zu sein.
Obwohl Karl die Zeit gehabt hätte, brachte er es nicht fertig, an Margot zu schreiben. Sein Inneres befand sich in chaotischer Verfassung. Er wusste um ihre ehrliche Hingabe und Liebe, wusste um ihre Erwartungen, ihre Träume und Sehnsüchte. Doch er liebte sie nicht. Wie würde sie seine Offenheit aufnehmen? Konnte sie ihn verstehen, wenn er ihr das schrieb? Karl war es völlig klar, sie würde aus tiefster Seele auch weiterhin um ihn werben. Unzufriedenheit nagte in ihm; er trug sie wie eine schwere Last mit sich herum.
Wenige Tage später – der Hauptfeldwebel teilte die Post aus –. Auch für Karl war ein Brief dabei. Der Blick auf die Handschrift bedrückte ihn: Der Brief war von Margot. Er schob ihn in die Tasche. Er dachte: Was hat sie geschrieben?
Nach dem Mittagessen suchte sich Karl ein ruhiges Plätzchen im Schatten der Bäume zwischen den Kompanieblöcken. Beim Öffnen des Umschlages, zitterten ihm die Hände. Ein Bild Margots fiel in seinen Schoß. Lange betrachtete er die gelungene Aufnahme. Er las:
Mein geliebtes Karlchen!
Am Dienstag nach Schulschluss fuhr ich, aufgeregt wie seit Tagen nicht mehr, zu Deiner Mutter, fragte, ob von Dir schon Post angekommen sei. Zufrieden und lächelnd überreichte sie mir Deinen Brief. Wie eine Ertrinkende verschlang ich Deine Zeilen. Oh, welche Enttäuschung! Nicht einmal einen Gruß hattest Du für mich übrig. Wie wild raste ich nach Hause. Erneut war der Briefkasten leer. Karli, Geliebter, kannst Du Dir nicht vorstellen, welche Seelenqualen ich erleide. Ich vergehe vor Sehnsucht nach Dir.
Mein Liebster, ich lechze nach ein paar Zeilen, nach Worten von Liebe. Nur sie können meine Begierde, mein Hoffen und Sehnen stillen. Was immer auch geschieht, ich kann die Licht durchwirkte Nacht vom 2. Juni einfach nicht vergessen. Jede Sekunde des Abends hat sich in mein Gehirn eingegraben. Es war die glücklichste Stunde meines bisherigen Lebens, weil unsere Liebe erblühte und wir ineinander aufgingen. Erinnerst Du Dich noch an die Nachtigallen? In jener Stunde, mein geliebter Schatz, begriff ich, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden. Dankbar genoss ich in Deinen muskulösen Armen das Reine, Schöne, Unbekannte – das freiwillige Begehren nach körperlicher und seelischer Befriedigung. Und jeder Kuss hat mich beglückt, hat mich ins Paradies der Seligkeit geführt.
Verzeih, mein Liebster, wenn ich noch immer diesem einzigartigen Abend unterm Sternenzelt in der Laube nachhänge. Aber es war so unsagbar schön, schöner noch als jeder Traum. Zugleich aber sitzt in meiner Seele auch der Schmerz der Trennung und die Angst, ich könnte Dich durch die Kriegswirren verlieren. Daher – Du wirst es mir nicht verübeln – habe ich nach Deiner Abreise eine Wahrsagerin aufgesucht. Ich wollte erfahren, ob ich an Dich glauben darf. Unruhig stellte ich ihr meine Fragen. Schon breitete sie ihre Karten aus – und Magie sprach durch ihren Mund: Ich dürfe alle Tränen der Trauer aus den Augen wischen. Ein junger Mann, vor kurzem Soldat geworden, überlebe den Krieg, und er werde nach dem Sieg, gefeiert als Held, in die Heimat zurückkehren. Das Schicksal würde es so fügen, dass ich diesen Soldaten heirate. Mit ihm würde ich zwei Kinder zeugen.
Kannst Du Dir vorstellen, Karlimann, wie selig ich auf dem Heimweg war? Am selben Abend noch trat ich auf den Hof und sah zu den Sternen auf, um den Himmel zu beschwören, uns durch alle Unbilden und Tiefen des Lebens gefahrlos zu führen. Aber noch in der Nacht erschütterte mich ein furchtbarer Traum. Ich stand plötzlich in einer düsteren Landschaft. Nebelschwaden überzieh`n das Land unter dem Schein des Vollmondes. Ein Käuzchenruf erscholl in der nächtlichen Stille und erlosch wie abgewürgt. Aus der Tiefe eines Abgrundes hob sich vor mir ein grässlicher Schatten. Ich vermochte es nicht zu erkennen – war es ein Mensch oder ein Tier. Ein ungewöhnliches Geschöpf, groß, gewaltig, breitschultrig und mit einer brutalen Fratze. In seinen roten Augen brannte ein zerstörerisches Feuer. Mich fror. Das Leichentuch der Hölle berührte mich. Langsam hob das Ungeheuer seine Arme, packte mich an den Schultern, zerrte mich ganz dicht an seine wulstigen Lippen. Ich versuchte mich zu wehren – vergeblich. Es drückte mir seinen hässlichen Mund auf die Wangen. Ich wollte fliehen. Aber der Dämon umklammerte eisern meine Schultern, lachte höhnisch und zwinkerte immerfort mit dem rechten Augenlid …
Schweißgebadet bin ich aufgewacht. Mein Puls jagte. Wie erschlagen blieb ich bis zum Wecker klingeln im Bett. Mein Kopf schmerzte. In diesem Zustand stellte ich mich unter die Dusche und ließ mir eiskaltes Wasser über den Körper laufen. Nur langsam löste sich meine Verkrampfung. Obwohl ich zum Frühstück kaum einen Bissen runter würgen vermochte, brauchte ich den ganzen Tag nichts mehr zu essen. Erst auf dem Weg mit dem Fahrrad zur Schule kühlte mir der Wind die heiße Stirn.
Karli, kannst Du mir erklären, woher diese Heimsuchung kommt? Ich fragte mich schon hundert Mal, was kann die Ursache dieses schrecklichen Traumes sein? Wie passt der Traum mit der Prophezeiung der Kartenlegerin zusammen? Ich bin ratlos! Geliebter, bitte, schreib mir bald! Ich vergehe vor Sehnsucht. Ich liebe Dich!
Tausend Küsse und Grüße sendet Dir
Deine nur Dich liebende Margot.
Karl ging die Seelennot des guten Mädchens sehr zu Herzen. Aber ihm selbst war auch unbehaglich. Reglos lag er im Gras und blickte zu den Kiefernkronen, wo die Sonne zwischen den Ästen funkelte und Spinnennetze wie silbernes Gewebe leuchteten.
Mit einem unguten Gefühl las Karl noch einmal Margots Brief. Er war erschüttert. Jäh tauchten die Brombeeraugen von Margot vor ihm auf. ,Mein Gott’, dachte er, ,wäre doch bloß nicht alles so plötzlich und unerwartet auf mich eingestürmt – die Leidenschaft und die Begierde nach dem weiblichen, so begehrenswerten Körper! O ja, Margot hatte mit ihrem Werben sein erstes Liebesbedürfnis geweckt und gleich beim ersten Kuss die Glut in seinem Herzen entfacht. Was Wunder, dass er voller Verlangen und mit zarter Hand ihren bernsteinfarbenen Körper streichelte, ihre knospenden Brüste, ihre Haare und den Nacken. Und ihre herrliche Nacktheit hatte seine Begierde ins Unermessliche wachsen lassen …’
Jetzt