Hannah Albrecht

Eine von Zweien


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Dinge passieren in Filmen oder in schlechten Vorabendsendungen, aber sicher nicht mir. Bei mir war alles geregelt und vorhersehbar. Ich hatte doch sogar schon geplant, wie ich wann in den Urlaub fliegen werde. Mein kompletter Jahresurlaub war eingereicht und geplant! Da gab es keine Überraschungen oder Platz für spontane Änderungen. So war mir das am liebsten. Eigentlich hatte ich schon geplant, wie mein ganzes Leben aussehen sollte. Das hier, diese merkwürdige Begegnung, die hatte ich sicher nicht geplant. Also war auch keine Kapazität dafür in meinem Leben. Ich wollte also schnellstmöglich aus dieser Situation verschwinden. Sie passte nicht in mein Leben rein.

      Als meine rotierenden Gedanken langsam stiller wurden, merkte ich, dass Beth mich lautlos musterte. Ich wurde rot. Ich wusste nicht, wie lange sie mich schon so anschaute und auch nicht, ob sie mir eine Frage gestellt hatte und eine Antwort erwartete. Ich versuchte mich aus der Situation herauszulächeln, in der Hoffnung, sie würde die Frage oder was auch immer gerade Thema war, noch einmal aus Mitleid wiederholen. Aber sie schaute mich nur an. Mit einem breiten Lächeln auf ihrem Gesicht, schaute sie mich einfach freundlich an und ließ mich zappeln. Mir blieb nichts anderes übrig: ich musste ihr gestehen, dass ich ihr in ihren Ausführungen nicht gefolgt war.

      „Sorry, was hattest du gerade gesagt, ich war kurz in Gedanken versunken und hab nicht mitbekommen, was du gesagt hast. Hast du mich etwas gefragt? Das war sehr unhöflich, ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Aber wenn du es nochmal fragst, dann kann ich dir auch antworten.“

      Beth blieb entspannt, ihr Gesicht verriet keine Gefühle, zumindest mir nicht. Wobei ich zugeben muss, dass das auch nicht meine Stärke ist. Ich kann nur erkennen, wenn jemand in einem Gespräch weich wird, das brauche ich für meine Arbeit, aber sonst kann ich Gesichter nicht gut lesen. Als ich klein war, konnte ich Gefühle aus den Gesichtern anderer sehr gut herauslesen. Manchmal, bevor sie es selbst wussten. Vor allem konnte ich für meine Schwester und meine Mutter oft dolmetschen und ihnen sagen, was die jeweils andere gerade fühlte. Aber das ist lange her, man verliert das wohl mit dem Älterwerden. Jetzt muss ich raten und liege da meistens falsch. Ich schaute ihr ins Gesicht, um irgendeine Regung zu entdecken. Plötzlich veränderte sich der Ausdruck, und sie lächelte mich an.

      „Gut, gehen wir!“

      „Wohin sollen wir denn gehen, sorry, ich hatte doch gesagt, das ich kurz abwesend war!“

      Hatte sie mir jetzt nicht zugehört? Sie hatte sich nicht einmal vorgestellt. Wo sollte es denn bitte hingehen? Ich hatte Pläne und freute mich auf mein Frühstück. Was wollte sie von mir?

      „Wo soll es denn hingehen? Und ich habe auch gar keine Zeit. Ich muss mich jetzt duschen und fertigmachen und dann noch etwas für die Arbeit beenden, was ich gestern nicht fertigbekommen habe. Es tut mir wirklich leid. Was immer du vorhast, ich habe keine Zeit.“ Ich hoffte, so bestimmt wie möglich zu klingen, aber ihre aufdringliche Art irritierte mich.

      „Das mit der Arbeit kannst du immer noch machen. Und auf deinem Plan für heute stand doch auch drauf, dass du herausfinden willst, wer ich bin und woher ich gekommen bin. Wenn du mich fragst, hast du da zwar deinen Plan falsch formuliert, aber das können wir später korrigieren. Hauptsache, wir machen erst mal den Anfang. Jetzt guck nicht so verwirrt!“ Sie schaute mich ermunternd an.

      Ich muss einen furchtbar perplexen Eindruck gemacht haben. Woher wusste sie das? Woher wusste sie von meinem Plan, sie auf das Rezept anzusprechen, beziehungsweise, woher wusste sie, dass ich sie aufsuchen wollte? Ich war komplett überfordert und ja, was war das für ein Gefühl? Woher wusste sie das?

      „Aber, aber woher wusstest du das?“ Ich stammelte die Worte nur so raus.

      „Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder? Du hast mich kein bisschen erkannt?“ Sie schaute mich neugierig an.

      „Nein, kennen wir uns denn? Du bist doch gerade erst hier eingezogen. Kennen wir uns denn aus Nürnberg?“ Ihr meine Irritation über das ähnliche Aussehen preiszugeben, war in diesem Moment zu viel verlangt.

      „Gut, dann stelle ich mich mal vor. Ich heiße Beth, Elisabeth Gold. Ich bin geboren in Nürnberg und meine Eltern sind Marlene und Bernd Gold. Ich habe auch eine Schwester die heißt ...“

      „Alice!“ Ich konnte es nicht fassen.

      „Ja genau, du hast es erfasst!“

      „Das heißt, du bist, also, du bist ich?“ Mir wurde flau im Magen, schwach in den Beinen. All meine Logik, auf die ich mich sonst so gut stützen konnte, verließ mich. Das konnte doch nicht sein. Das geht doch gar nicht.

      „Nein, so kannst du das nun wirklich nicht sagen, schau uns doch mal an. Wir sind doch nun wirklich sehr verschieden!“ Sie begann zu lachen. „Schau dich erst mal bei mir um, dann kannst du nochmal versuchen zu erraten, wer ich bin.“ Sie zwinkerte mir zu.

      „Du wirst schnell merken, dass du nicht ich sein kannst, aber ja, du hast Recht, wir waren mal ein und dieselbe Person. Das ist schon lange her, aber da kommen wir wohl her.“

      Sie fand das alles ganz normal, als ob sie davon erzählte, dass gestern jemand auf Toilette gegangen ist. Das Normalste der Welt. Wir waren mal die gleiche Person, sind es aber nicht mehr, sehen nur eigentlich gleich aus, haben die gleiche Familie, heißen gleich, aber sind nicht mehr gleich. Was ist schon dabei?! Sie redete auch einfach weiter, als ob gerade nichts Dramatisches offenbart worden war.

      „Am besten, du gehst erst mal duschen und kommst gleich danach zu mir rüber. Ach, besser, du gehst duschen, und ich schau mal in deinen und meinen Kühlschrank und mach uns was Leckeres zum Frühstück. Was hältst du davon?“, fragte sie, indem sie mir den Schlüssel aus der Hand nahm und mich in Richtung meiner Wohnung schob.

      Ich war einfach zu perplex, zu überrumpelt, um mich wehren zu können. Ich ließ es einfach geschehen. Unter der Dusche hatte ich ein wenig Zeit, mir für das Erlebte und gerade Erfahrene eine plausible, realistische Erklärung zurecht zu legen. Die einzige Erklärung, mit der ich auffahren konnte, war die Sicherheit, dass ich mir einen Termin beim Neurologen machen sollte, um meinen Kopf durchchecken zu lassen. So etwas kann nur bei einem Gehirntumor passieren, oder wenn sich die Psyche spaltet. Aber warte, Ben hatte sie doch auch gesehen. Und von ihr etwas zum Essen angenommen. Aber vielleicht war das ja eine andere. Ich werde Ben fragen müssen, sobald er wieder da ist. Oder besser noch, ich mache ein Foto von ihr und schicke es ihm auf sein Handy, dann habe ich schneller eine Antwort, dann muss ich nicht noch so lange warten, bis er wieder da ist. Das wäre eine Qual, da hätte der Tumor zu viel Zeit zu wachsen. So werde ich es machen. Ich schicke ihm gleich ein Foto von unserem gemeinsamen Frühstück. So konnte ich mich auch mit dem Gedanken anfreunden, dass sich eine eigentlich fremde Person gerade in meiner Wohnung frei bewegt. Aber ich hätte gerade alles getan, um eine kurze Denkpause für mich zu bekommen. Einfach kurz meine Ruhe. Ich wollte gerade meinen Kopf an die Wand der Dusche lehnen und mir das Wasser übers Gesicht laufen lassen, als die Badezimmertür aufgerissen wurde und Beths Stimme ertönte.

      „Pass auf, wenn du zu lange unter dem Wasser bleibst, löst sich vielleicht noch deine Haut ab. Komm nicht auf die Idee, dich in der Dusche oder im Bad verstecken zu wollen. Das Frühstück ist fertig, und du kennst mich, ich bin nicht gut im Warten. Ich habe Hunger.“

      Für sie war das alles selbstverständlich. Ich hätte die Tür abschließen sollen. Das mach ich sonst nie, aber ich habe sonst auch keine fremden Menschen in meiner Wohnung. Es war alles gerade nur surreal. Eine merkwürdige, unbeschreibliche Situation. Ich konnte das alles nicht verstehen und gab auf, mich dagegen zu sträuben.

      Ich stieg also aus der Dusche, machte mich schnell fertig und ging in die Küche. Der Tisch war gedeckt mit allen Leckereien, die ich mir schon lange nicht mehr gegönnt hatte. Nutella, Krabbensalat, Croissants, Butter, Kakao. Und alles, was direkt auf die Hüften geht. Beth saß mit einem seligen Grinsen am Küchentisch und dippte ihr Croissant in ihren Kakao. Ich war sprachlos und musste schmunzeln. Sie so dasitzen zu sehen, erinnerte mich an meine Kindheit. Jeden Sonntagmorgen zum Aufstehen wartete eine heiße Schokolade mit einem frischen Croissant auf mich und meine Schwester. Das war unser Inbegriff von Sonntag! Ich setzte mich an den Küchentisch und tat es meiner Kindheit und Beth nach. Ich glaube, nein, ich war mir sicher: ich hatte noch nie so einen leckeren