Hannah Albrecht

Eine von Zweien


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im Bauch. Ich merke das, wenn du mich anlügst, Lissi. Ich kann das gar nicht erklären, aber warte, ich habe eine Idee.“ Sie kam auf mich zu, fast schon zu euphorisch.

      „Frag mich etwas, und ich erzähle dir eine Lüge, vielleicht klappt es ja auch anders herum.“

      „Okay!“, antwortete ich zögerlich. Der Gedanke gefiel mir gar nicht. Ich teilte meine Erfahrungen und mein Leben nicht gerne mit Anderen. Auch nicht mit Ben, und er war der Mensch, der mir im Leben am nächsten kam. Den ich am nächsten an mich heran ließ. Aber wenn Beth sozusagen ich war, dann musste ich wohl mitspielen. Ich überlegte, was mich interessierte und ich sie fragen konnte. Ich hatte eine Idee.

      „War es für dich einfach, unseren Eltern zu sagen, dass du Malerin wirst? Denn das ist ja wohl dein Beruf, oder?“

      „Ja, das ist mein Beruf, und es war ganz einfach. Ich habe mich mit unserem Vater hingesetzt. Dann habe ich ihm von meinem Plan erzählt, nicht Wirtschaft studieren zu wollen, um in seine Fußstapfen zu treten, sondern Kunst. Das sagte ich ihm genau so.“

      „Ok, ok!“, rief ich raus. „Dieses Gefühl ist wirklich unerträglich gemein. Ich weiß, was du meinst.“ Mir war ganz flau im Magen geworden. Ich hatte das Gefühl, mein Bauch würde versuchen, sich einmal um sich selbst zu drehen.

      Beth war glücklich, dass ich das gleiche Gefühl hatte. Das war ihrem Gesicht abzulesen. Freudestrahlend kam sie auf mich zu. Auch wenn ich ihr gerne Selbstgefälligkeit untergejubelt hätte und sie in ihrem Gesicht versuchte zu finden, sie war nicht da. Sie schien einfach nur zufrieden, das Problem mit den Lügen aus der Welt geschafft zu haben, beziehungsweise, sie machte sich jetzt bereit, es aus der Welt zu schaffen.

      „Ok, machen wir einen Pakt für die Zeit, die wir hier zusammen sein werden. Keine darf der Anderen etwas vorlügen oder verheimlichen, sobald sie gefragt wird. Wir müssen also alle gestellten Fragen der Anderen wahrheitsgemäß und ausführlich beantworten! DEAL?“

      Ich konnte mich ihrer Euphorie nicht anschließen. Ich wollte doch gar nichts wissen. Aber letztendlich hatte ich gar keine Wahl. Das üble Gefühl bei ihrer bewußten Unwahrheit saß mir noch in den Knochen, besser gesagt, im Magen, und ich wollte es nicht nochmal durchleben, und ihr wollte ich es auch ungern antun. Sie war ja schließlich auch irgendwie ich. Also musste ich wohl einschlagen. Ich umfasste vorsichtig die Hand, die sie mir entgegenstreckte.

      „Ok, abgemacht“. Damit waren wir durch einen Handschlag zur kompletten Offenheit einander gegenüber verpflichtet.

      Eine Sache interessierte mich dann doch. Aber ich werde erstmal noch ein wenig warten. Ich muss Beth ja nicht gleich heute fragen. Wie es aussieht, würde sie wohl noch eine Weile in meinem Leben sein. Ob ich es wollte oder nicht. Darauf musste ich mich jetzt einstellen. Wenn ich ehrlich war: wenn mich schon eine Person durch mein Leben begleiten sollte, dann doch eine zweite Version meiner selbst, das schien am erträglichsten. Mit dieser Einsicht lächelte ich in mich hinein und musste mir, unter Beth’ Drängen, den Rest der Wohnung anschauen. Ich war ja mal gespannt auf den Kleiderschrank. Ob sich auch ein paar Kleidungstücke, die nicht vollgemalt oder extravagant waren, darin versteckten. Ich war sehr gespannt. Meine Erwartungen wurden übertroffen. Der Kleiderschrank war ein durchstrukturiertes Chaos, nichts anderes hätte ich erwarten sollen. Es gab alle möglichen Stilrichtungen. Ein Bereich beherbergte die gemütliche Kuschel-Kleidung. Dann gab es sehr modische, sehr bunte, sehr ausgefallene Kleider, die sie wohl zu den Ausstellungen anzog. Aber auch der Alltagsmix zum Nichtmalen war vertreten. Eher sportliche Sachen. Alles war schön eingeräumt. Also hatte auch die Kleidung ihren Platz in dem Chaos gefunden. Ich konnte wirklich nicht glauben, dass Beth hier vor einigen Tagen noch nicht gewohnt haben sollte.

      „Beth, deine Wohnung sieht so bewohnt aus“, sagte ich, als sie mit der Führung durch war.

      „Ja, ich wohne doch auch hier.“ Sie sah mich forschend an und versuchte herauszufinden, was ich meinte.

      „Ja, das weiß ich schon, aber letzte Woche hast du hier nicht gewohnt, also hier in der Wohnung, in diesem Haus.“

      „Ah, ich weiß, was du meinst, aber in dieser Wohnung wohne ich jetzt schon seit Ewigkeiten. Nicht in deinem Haus, aber in dieser Wohnung. Ich kann dir das auch nicht wirklich erklären, wie das hier alles funktioniert. Ich bin aufgewacht und wusste, ich muss dir helfen. Bin aus meiner Wohnung gekommen und war deine Nachbarin, und alles fühlte sich ganz normal an. Als ob das Leben das alles geplant hatte, und für mich klar war, was jetzt kommen würde. Ich musste mir helfen, meinem parallelen Ich. Mehr kann ich dir nicht sagen. So ist es passiert.“

      Ich achtete auf meinen Magen, aber der blieb ruhig. Sie hatte also nicht gelogen. Es gab anscheinend Sachen, die nicht zu erklären waren. Unbefriedigend, aber was sollte ich mehr bohren, wenn sie nicht mehr wusste. Vielleicht macht alles irgendwann für uns mal Sinn. Ich hoffte es inständig. Sonst würde ich platzen.

      „Komm, Lissi, setzen wir uns in die Küche, da können wir es uns ein wenig gemütlich machen“, forderte Beth mich auf. Mit einem Nicken und einem Lächeln nahm ich das Angebot dankend an.

      Was war der Unterschied zwischen uns beiden? Wir waren im Lebensstil grundverschieden. Unsere Wohnungen glichen sich auf keinem Zentimeter. Ich betrachtete Beth aufmerksam und versuchte genau, die Unterschiede zwischen uns beiden zu erkennen. Von außen war sie einfach nur die Extravagante, die sich bewegte und kleidete, wie sie wollte. Gegen alle Konventionen verstieß ... naja, wohl gegen die Konventionen meiner Welt, in der Welt der Kunst war sie sicher eine von vielen bunten Vögeln. Sie hatte offensichtlich richtig Spaß daran. Hier mal eine Blume im Haar, hier mal einen grellen Ring am Finger, und trotzdem sah nichts unpassend aus. Sie kombinierte zwar Farben wild, aber die Muster und Farben waren trotzdem miteinander harmonisch. Gut, sollte man auch erwarten können von einer Malerin, aber ich hatte da so einige gesehen, die einfach aussahen wie von einem anderen Stern. Das war bei Beth nicht so. Das Beeindruckende war auch, sie versuchte nichts zu verstecken. Sie stand zu ihren wunderschönen weiblichen Formen. Das fand ich sehr außergewöhnlich. Ihr würde Max Schneider sicherlich nicht die Butter vom Brot nehmen können. Sie würde ihn mit ihren lebendigen, herausfordernden Augen anlächeln und ihn eiskalt in seine Schranken weisen. Das sollte ich von ihr lernen. Ich fühlte mich neben ihr grau und unscheinbar. Es schien, als ob sie, wie schon vorher, meine Gedanken lesen könne.

      „Wir sind grundverschieden, und doch sind wir die gleiche Person. Das bedeutet ja, dass alles, was ich habe, du auch hast, und alles, was du hast, auch ich habe, oder?“ Sie schien laut zu denken. Auch für sie war noch nicht alles ganz klar. Auch sie setzte noch alle Puzzleteile zusammen. Sie hatte einen grübelnden Gesichtsausdruck aufgesetzt.

      „Jetzt müssen wir nur herausfinden, wo die Unterschiede liegen und wie wir zu ihnen gekommen sind, richtig? Ich denke, das ist unsere Mission. Verstehst du, was ich meine? Also irgendwann bist du doch zu dir geworden, und ich bin einen anderen Weg gegangen und bin zu mir geworden. Aber wir sind ja noch irgendwie die gleiche Person. Das ist jetzt ein wenig verwirrend, oder?“

      Sie wiegte den Kopf hin und her. Ja, es war verwirrend und doch sehr verständlich. Aber wo hatten sich unsere Wege getrennt? Ich hatte keine Antwort auf diese Frage. Wo sah sie denn unsere Unterschiede? Ob es die gleichen waren, die ich auch sah? Naja, sie hatte wohl ein wenig Vorsprung im Beobachten.

      „Wo siehst du denn Unterschiede?“ Ich war sehr gespannt, was Beth mir jetzt sagen würde; ich hatte nicht das Gefühl, dass sie die Worte vorsichtig wählen würde.

      „Wenn du mich so fragst, dann bin ich mal knallhart offen: ich lebe! Soll heißen, ich bin glücklich, habe meine Freunde und habe ein gutes Verhältnis mit unseren Eltern. Ich habe die ganze Arbeit und die Auseinandersetzungen ausgetragen, als sie fällig waren. Ich habe mich meinen Emotionen und meinen Schmerzen gestellt, als sie aufgetreten sind, und habe mich nicht hinter der nächstbesten Lösung oder in der nächstbesten Höhle versteckt. Ich habe die Schlachten ausgetragen, als sie auszutragen waren, bin Risiken eingegangen, obwohl auch ich nicht sicher war, wie ich am Ende dastehen würde. Ich habe gelitten, gejubelt, war enttäuscht und habe mich riesig gefreut. Emotionen haben mein Leben ausgemacht. Naja, sie machen es immer noch aus. Wenn man bei dir schaut, dann sieht es so aus, als ob du einfach nur weggelaufen bist und den Kopf unter