Hannah Albrecht

Eine von Zweien


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alles so gemacht, wie du dachtest, dass es erwartet werden würde. Du hast immer zufriedenstellend gearbeitet und vor Auseinandersetzungen bist du einfach weggelaufen oder hast sie vorher schon verhindert. Fräulein, ich glaube, du erstickst gerade an deinem eigenen Leben. Wenn ich du wäre, würde ich mich lebendig begraben fühlen!“ Sie schaute mich direkt an. „Weißt du, was ich meine?“

      Ich wusste nicht, was sie meinte. Wollte es auch gar nicht wissen. Ich lebte mein Leben, war erfolgreich, hatte gerade einen sehr wichtigen Kunden für die Firma akquiriert, lebte gesund, hatte einen Freund – es war doch alles toll! Es kann doch nicht schlecht sein, in die Fußstapfen seines Vaters treten zu wollen. Manchmal sehen Eltern eben eher als man selbst, wo das eigene Potential liegt, und wir müssen doch alle erwachsen werden, und dann müssen wir aufhören zu träumen und realistisch werden. Das hatte ich gemacht, habe studiert und habe meine Verantwortung für mein eigenes Einkommen übernommen. Ich fand ihre Analyse sehr anmaßend. Gut, ich bin nicht den Weg der Künstlerin gegangen, aber trotzdem habe ich doch meinen Weg gemacht und das erfolgreich!

      „Eigentlich weiß ich nicht, was du meinst!“, sagte ich verteidigend. „Bei mir ist doch alles super!“

      „Ist das so? Dann kannst du mir sicher ganz genau erklären, warum du seit einiger Zeit nicht mehr schlafen kannst, oder?“

      Da war es wieder. Sie wusste ja schon wieder Dinge über mich, die sie nicht wissen sollte, und die ich auch sicher nicht erzählt hatte. Aber ich brauchte sie auch gar nicht anlügen. Ich musste den Pakt, den wir hatten, nicht brechen. Denn Fakt war: ich wusste selbst nicht, warum ich diese Träume hatte. Ich konnte nur raten.

      „Ich denke, das kommt vom Stress bei der Arbeit. Vielleicht hat es auch mit Max Schneider zu tun. Die Konkurrenz ist ja bei uns im Büro auch nicht ohne.“

      „Gut, dann habe ich noch eine weitere Frage: Kannst du mir sagen, warum du damals aufgehört hast zu malen, das würde mich sehr interessieren?“

      Ich schaute Beth verdutzt an. Sie wollte jetzt sofort eine Antwort. Ich hatte aber eigentlich keine Antwort darauf, glaubte ich. Das war so lange her. Ich hatte die Entscheidung damals getroffen und seither nicht ein einziges Mal mehr hinterfragt oder mich an sie erinnert. Das war wirklich lange her. Wer lebt schon in der Vergangenheit?! Aber der wahre Grund wollte sich mir nicht offenbaren. Wie ein ausradierter Abschnitt in der Vergangenheit. Das war schon merkwürdig.

      „Ich weiß nicht ...“, kam es vorsichtig aus mir heraus.

      „Das ist wohl die Wahrheit“, sagte sie, nachdem sie auf ihren Magen geachtet hatte. „Aber ich befürchte, das reicht nicht, du musst tiefer graben.“

      Ich stand auf und wollte gehen. Ich hatte den inneren Drang, nicht weiter über dieses Thema zu reden, geschweige denn tiefer zu graben. Ich hatte den Fluchtinstinkt, ich wollte nur noch weg.

      „Mir ist das alles zu doof. Ich kenne dich gar nicht und verstehe auch nicht, warum ich graben sollte. Alles ist gut, so wie es ist! Vielleicht nicht für dich, aber für mich. Warum sollte ich mich an Zeiten erinnern, die ich aus gutem Grund in den Tiefen des Meeres des Vergessens versenkt habe. Ich will mich nicht erinnern, und selbst wenn ich es jetzt wollte, ich kann mich nicht mehr erinnern.“ „Ok, dann muss ich dich zwingen, dich an Lukas zu erinnern. Meine Liebe, er ist der Schlüssel! Nachdem er ging, hast du aufgehört und dich geweigert, je wieder Gefühle zu haben. War es nicht so? Und gemalt hast du auch nie wieder.“

      „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!“, blaffte ich sie an.

      Wut, Panik, Trotz, eine Mischung von Gefühlen machten sich in mir breit. Was hatte Lukas damit zu tun? Lukas war mein bester Freund gewesen, als ich klein war, man konnte uns nicht trennen. Wir haben alles miteinander geteilt. Er war der Einzige, der mit meinem Lego spielen durfte. Ich war die Einzige, mit der er seine Süßigkeiten teilte. Wir waren immer schon unzertrennlich. Er hatte mich auch immer unterstützt, ich selbst zu sein. Er war mein größter Fan! Er liebte meine Bilder und unterstützte mich immer darin, meinen Traum, Malerin zu werden, zu verfolgen. Irgendwann, in der elften Klasse war das, da sind wir zusammengekommen. Für alle war es klar und nur eine Frage der Zeit gewesen, dass wir ein Paar werden würden. Wir waren die Letzten, die es dann auch merkten. Es war anfangs alles noch sehr vorsichtig und unschuldig gewesen. Aber es war ja für alle klar, dass wir zusammengehörten. Ich konnte mir auch nie ein Leben ohne ihn vorstellen. Er war schon immer die Stütze in meinem Leben gewesen. Wir wollten nach der Schule zusammen die Welt erleben. Wir hatten große Pläne und wollten erst einmal herausfinden, was wir wirklich mit unserem Leben vorhatten. Es kam alles anders. Er ist alleine die Welt erkunden gefahren, und wir haben uns nie wieder gesehen. Ich habe mich nach Berlin aufgemacht und habe mein heutiges Leben begonnen. Ich mache meinen Job gut, bin in einer Beziehung, bin sportlich und gesund – alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann. Wenn man jung ist, hat man noch viele dumme und naive Träume im Kopf. Wenn man dann aber älter wird, merkt man schnell, dass fürs Träumen in der Realität kein Platz ist. Das habe ich damals erfahren und mir bis heute zum Leitsatz gemacht.

      „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht angreifen. Das war heute wahrscheinlich alles ein wenig zu viel für mich!“ Beth sah geknickt aus. Es tat ihr wohl leid, so indiskret gewesen zu sein, und mir tat es leid, sie so angefahren zu haben. Ich versuchte einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, aber es wollte mir nicht gleich gelingen. Denn eigentlich wollte ich nur noch, dass sie geht. Dahin zurück, wo sie hergekommen war.

      „Ich muss sowieso noch arbeiten, ich muss das für Montag fertig machen. Ich habe jetzt schon zu viel Zeit mit diesem Mist hier vergeudet“, grummelte ich nur.

      „Bis später!“, sagte Beth mit einem Grinsen auf ihrem Gesicht. Sie dachte gar nicht daran, so schnell wieder dahin zurückzugehen, wo sie hergekommen war. Sie konnte sich wohl vorstellen, dass ich nicht so erfreut über ihre Ankündigung war. Ich nickte nur und ging schnell in meine Wohnung hinüber. Einfach nur schnell entkommen.

      Am liebsten wäre ich gleich sofort wieder losgelaufen und hätte etwas unternommen, aber ich war dazu einfach nicht in der Lage. Ich hatte Lust, mich einfach in mein Bett zu verkriechen und nur so dazuliegen. Was war denn heute passiert? Wie konnte das sein? Ich als fremde Person wohne mir gegenüber und sage mir, ich solle mal tiefer graben. Gut, wenn ich es selbst bin, bin ich mir nicht ganz fremd, aber sicher war, es war alles sehr ungewöhnlich.

      Also, warum passierte es? Ich ging ins Wohnzimmer und schaute mich um. Ben hatte seine Bücher einfach so ins Regal gestellt. Warum war mir das erst jetzt aufgefallen? Eigentlich wäre ich stinksauer, aber jetzt gerade war ich nur dankbar. Ich begann das Regal zu ordnen. Normalerweise war das die beste Methode, um mich von nervenden Gedanken abzulenken, nur heute nicht.

      Lukas! Ich hatte ein komisches Gefühl im Magen. Es fühlte sich merkwürdig an, über Lukas und damals nachzudenken. Ich hatte mich nie wieder gefragt, was aus ihm wohl geworden ist. Das ist jetzt auch schon fast 15 Jahre her. Warum aufrollen, was so lange her ist? Aber die Gedanken wollten nicht so schnell ruhig werden, wie es mir lieb gewesen wäre. Dann fiel mir ein, ich hatte heute doch noch familiäre Verpflichtungen.

      Es war ja Samstag, und ich sollte eigentlich meine Mutter anrufen. Wir hatten das so vereinbart, als ich nach Berlin gegangen war. Am Anfang hielt ich mich noch regelmäßig daran. Mit den Jahren hielt ich es immer seltener ein. Ich hatte immer zu viel zu tun, zu viel Arbeit. Das musste sie verstehen, und das verstand sie sicher auch. Sie lebte doch mit ihrem Mann, mit meinem Vater, zusammen. Bei ihm war es doch auch nicht anders. Heute war außerdem meine perfekte Schwester mit ihrem perfekten kleinen Töchterlein zu Besuch, da fiel es sicher nicht auf, wenn ich nicht anrief. So, damit hatte ich mein Gewissen beruhigt und eine unangenehme Sache von meiner To-do-Liste verbannt. Das Regal war endlich fertig. Ich hatte das Gefühl, dass es Stunden gedauert hatte. Ich setzte mich erschöpft auf den Boden. Warum hatte ich aufgehört zu malen? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich hatte es einfach getan. Ich hatte wohl den Spaß daran verloren. So muss es gewesen sein. Also mein letztes Bild, das ich gemalt hatte. Welches war das denn? Es wollte mir nicht einfallen. Komisch!

      Ich saß noch immer auf dem Boden, als mich die Idee wie ein Blitz durchfuhr und sich in meinem Kopf festsetzte. Was ist, wenn Beth die andere Seite meiner Medaille ist, mir die andere Seite zu allen