Hannah Albrecht

Eine von Zweien


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wohl gelohnt. Wie es scheint, hat er sich immer an das einander gegenseitig abgenommene Versprechen erinnert. Was ist mit dir?“

      Sie schaute mir direkt in die Augen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Was interessierte mich Lukas’ Erfolg? Sollte ich mich jetzt für ihn etwa noch freuen?

      „Lukas, tzzz, ja, der hat immer gemacht, was er wollte. Das durfte ich am eigenen Leib erfahren.“

      Eigentlich hatten wir schon alles gemeinsam geplant, und er hat es mit Füßen getreten. Einen Tag vor der Zeugnisübergabe ist er zu mir gekommen und sagte, wir müssten reden. Dumm und unerfahren wie ich war, dachte ich, wir würden über unsere Pläne sprechen. Nein, er hat mir mitgeteilt, dass er nach Australien gehen würde. Alleine! Er hätte dort Verwandte. Er würde dort erst mal anfangen zu arbeiten und dann von Australien aus die Welt bereisen. Ich war geschockt, ich schrie ihn an: ich würde ihn nie wieder sehen wollen ... und er sollte auch nicht versuchen, mich nach der Reise zu kontaktieren, weder per E-mail, noch über meine Familie. Ich wollte mit so einem Menschen nichts mehr zu tun haben. Auf keinen Fall! Ich gab auch meiner Familie die Anweisung, mir nie wieder etwas über ihn zu erzählen. Und von da an hütete ich mich, jemals wieder jemandem zu trauen. Er hat mich einfach sitzen lassen. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander geredet haben. Anfangs hatten alle immer mal vorsichtig versucht, mir Informationen über ihn zukommen zu lassen; aber das gewöhnte ich ihnen ganz schnell ab. Ich hatte ein Gespräch mit meinem Vater, in dem er mir vorschlug, ich sollte doch eine kleine Auszeit von allem nehmen. Das klang gut. Einfach weg von der ganzen Demütigung! Er arrangierte bei einem Partner ein Praktikum in einer Firma für Wirtschaftsprüfung in Berlin. Alles, womit ich bis dato noch nicht in Kontakt gekommen war, alles, was mich nicht an Lukas und mein vorheriges Leben erinnerte, war willkommen. Ich ging nach Berlin, machte das Praktikum und schrieb mich an der Uni ein. Ich verbannte alles aus meinem Gedächtnis, was mit Lukas zu tun hatte, und das war quasi mein ganzes Leben in Nürnberg. Dazu gehörten auch unsere Freunde. Ich wollte mich nie wieder an ihn erinnern und vor allem nicht an irgendwelche bescheuerten Versprechen, die ich mit ihm geschlossen hatte, mit jemandem, dem man nicht vertrauen konnte. Was brachte es, diese Erinnerungen nun wieder hochzuholen. Als ich aufblickte, merkte ich, wie Beth geduldig wartete. Sie hielt mir eine Taschentuchpackung hin. Ich hatte diesen Teil meiner Erinnerungen gut verschlossen gehabt. Jetzt kamen die ganzen Gefühle hoch. Mir liefen ungehemmt die Tränen über die Wangen, und ich konnte sie einfach nicht stoppen. Ich hasste es, wenn ich keine Kontrolle über meine Tränen hatte. Es machte mich immer nervös, wenn ich mich oder eine Situation nicht unter Kontrolle hatte. Als ich aufstehen wollte, um uns etwas zu trinken zu holen und mir etwas Luft zu schaffen, hielt Beth mich auf. Ich hoffte, Beth hätte Erbarmen und würde mir eine Verschnaufpause gönnen, aber nicht die liebe Beth. Sie hatte schon gleich die nächste Frage parat.

      „Wo wir gerade an dieser Stelle sind, ich habe noch eine Frage: was war das letzte Bild, das du gemalt hast? Ich frage es dich jetzt, weil ich befürchte, dass du alles wieder in die Kiste verpackst, mit Ketten verschließt und in tiefste Tiefen versenkst.“

      Jetzt war auch alles egal, ich konnte ebenso gut versuchen, mich zu erinnern. Und dann sah ich es plötzlich genau vor mir. Blau, gelb – eine schemaartige Welt und dann unsere beiden Gesichter. Es sollte unser Vorhaben darstellen, und ich wollte es Lukas nach der Zeugnisausgabe überreichen. Ich hatte mir all die Mühe gemacht, hatte es in seinen Lieblingsfarben gehalten. Ich wollte es ihm symbolträchtig überreichen. Aber es kam nie dazu. Die Tränen bahnten sich mit einer ungeahnten Kraft ihren Weg. Ich hatte keine Chance, ich griff zu einem Taschentuch. So ein Mistkerl! Auch nach so vielen Jahren konnte mich allein der Gedanke an die Situation rasend machen.

      Zum Glück ließ nun auch Beth Gnade walten.

      „Es ist ok, ich habe gespürt, was du gedacht hast, du musst es nicht noch einmal sagen.“

      Ich war Beth so dankbar. Ich hatte auch keine Kraft mehr, meine Erinnerungen laut auszusprechen. Ich hatte nie wieder in meinem Leben dieses Gefühl gehabt. Mein Inneres hatte sich damals zusammengezogen, bis ich nicht mehr atmen konnte. Alles verkrampfte sich, ich dachte, ich werde niemals wieder normal atmen können. So hatte ich daraufhin beschlossen, mich für immer vor diesem Gefühl zu schützen. Ich würde mir das nie wieder antun lassen. Ich entschied mich also für das Praktikum. Zahlen waren für mich zwar immer etwas Langweiliges gewesen, aber die Abwechslung habe ich dankend angenommen. Hauptsache, nichts, was mich an irgendetwas von früher erinnerte. Was folgte, wussten wir beide: ich ging nach Berlin, brach den Kontakt mit allen Freunden ab und besorgte mir eine neue Telefonnummer. Ich hatte komplett neu in Berlin begonnen. Ich habe sogar meinen Spitznamen von damals abgelegt, ich wurde von Beth zu Lissi. So war das, und jetzt bin ich hier. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich schaute Beth an. Alles machte wieder Sinn! Ich musste die Erinnerungen schnell wieder wegschieben. Es reichte!

      „Du bist also Beth geblieben? Du bist also die Gegen-Lissi?“ Ich erinnerte mich an meinen gestrigen Gedanken. Die perfekte Ablenkung. Jetzt konnte ich die Fragen stellen. Ich sortierte meine Gedanken, wischte mir die Schminke aus dem Gesicht und freute mich auf Beth’ Ausführungen.

      „Ich denke, irgendwie so lässt es sich beschreiben. Ich bin den geplanten Weg weitergegangen, auch ohne Lukas, den Weg, den du, den wir uns vorgenommen hatten. Es war ein sicherer Weg, den du gewählt hast. Manchmal habe ich mich auch nach Unbekümmertem gesehnt. Nach einem Weg, der vorgeplant und anerkannt war. Du bist sicher den einfacheren, den sicheren Weg gegangen. Vor allem in der Zeit, in der ich mich ganz alleine gefühlt habe, während der Auseinandersetzung mit unserem Vater. Er hätte es auch sehr gerne gesehen, dass ich erst was Vernünftiges lerne, bevor ich mich um die „brotlose Kunst“ kümmere. Da hätte ich jemanden an meiner Seite gebraucht. Da war ja sonst immer Lukas, der mir beistand. Auf den konnte ich nun nicht mehr zählen. Zum Glück hatte ich ja noch die Freunde. Die waren mir immer eine Rettung.“ Beth seufzte und wurde still.

      Mir wurde ganz schwindelig. Ich bekam also die Chance, mein Leben anzuschauen. Also das Leben, wie es gewesen wäre, wenn ich einen anderen Weg gegangen wäre. Genau an dieser Stelle. Also war das der Bruch, der Anfangspunkt?

      „Hast du also noch Kontakt zu Lukas?“ Mir wurde ganz flau im Magen, nachdem die Worte meine Lippen verlassen hatten. Im gleichen Moment wollte ich die Antwort schon gar nicht mehr hören. Die Wunde war heute schon genug aufgerissen worden. Warum noch Salz hineinstreuen? Aber das machte ich ja gerne, immer noch mal draufhauen! Wie war doch die Bezeichnung gleich für diese Art von Menschen? Masochisten. Zu dieser Gruppe musste ich wohl gehören. So eine musste ich sein.

      Beth sah nach unten, anscheinend ging ihr das Thema auch nahe. Sie antwortete mit leiser Stimme.

      „Nein, nicht direkt. Ich bin ihm danach nie wieder begegnet. Wir, du und ich, haben da gleich gehandelt. Lukas und ich haben aber quasi das Sorgerecht für unsere Freunde geteilt. Er hatte zwar versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber darauf bin ich nicht eingegangen. Die Informationen über ihn habe ich durch unsere Freunde und durch die Szene, in der wir beide verkehrten, bekommen. Ich wusste ungefähr, wo er unterwegs war. Aber ich war auch nicht die ganze Zeit in Nürnberg oder Umgebung. Ich hatte ja auch nach dem Gespräch die Heimat verlassen, habe in den verschiedenen Ländern und Kulturen meine Wunden heilen lassen und habe mich mit Inspiration angereichert, habe Europa bereist und an den verschiedensten Universitäten Kunst und Malerei studiert. Aber ich musste immer wieder an ihn denken. Die erste Liebe ist nicht so leicht zu vergessen. Vor allem, wenn sie so lange gehalten hat. Zum Glück hat der Schmerz mit der Zeit nachgelassen, und es kamen auch immer wieder gute Erinnerungen dazu. Jetzt kann ich auch sagen, keine andere Liebe verursacht solche Schmerzen, wie die erste. Alle Männer danach, die mir das Herz gebrochen haben, der Trennungsschmerz, hatten nicht diese Intensität. Lissi, ging es dir nicht ähnlich?“

      Ich brauchte nicht lange nachdenken, bevor ich antwortete. „Ich habe nie wieder jemandem die Macht über mich und mein Herz gegeben. Ich bin doch nicht selbstzerstörerisch.“ Ich haute zwar gerne auf mir herum, aber solche Schmerzen würde ich mir nicht noch einmal antun. Es gab Grenzen.

      „Außer jetzt Ben?“ Beth grinste mich an.

      Außer Ben, nein, auch dem nicht. Ich fasse doch auch nicht wieder auf eine glühend heiße Herdplatte, wenn ich mir dabei schon einmal die