Manuela Tietsch

Der Gesang des Einhorns


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kam Falko vor ihm zum stehen. Als wäre es alltäglich und üblich sagte er, „Lando, darf ich dir Runa vorstellen? Sie leidet an derselben Krankheit wie du, sie ist begeistert von Moorleichen!“ Er lächelte belustigt auf Runa herab.

      Lando bemerkte ihr eher verlegenes Lächeln.

      Wie sollte sie diesem Mann nur entgegentreten?

      Er war so unnahbar. Genau wie Falko gesagt hatte. Sie fühlte Angst aufsteigen. Wenn sie nun etwas Falsches sagte? Musste sie denn unbedingt einen guten Eindruck machen? Sie war, wer sie war! Dennoch konnte sie die Schüchternheit nicht ablegen und so hauchte sie beinahe tonlos, „Hallo“ und hasste sich im gleichen Augenblick dafür.

      Lando war so weit entfernt. Sie hatte sich doch vorgenommen, Männer nicht als Herren zu betrachten, sondern als gleichberechtigte Menschen, vor denen sie keine Angst haben musste.

      Weshalb wirkte sie so verschüchtert? Wie ein verängstigtes Reh! Sah er so böse aus?

      „Ah!“ sagte er nur kühl und knapp. Verdammt, so schroff wollte er gar nicht sein. Er fing den giftigen Blick Falkos auf.

      Runa zitterte am ganzen Körper. Trotz ihres Ärgers, über ihr kindisches Verhalten und seine schroffe Herablassung, war sie doch zutiefst trunken von ihm. Verzweifelt suchte ihr Blick nach einer Ablenkung. Sie fand diese in der Tafel an der Absperrung. Eingehend las sie den Wortlaut darauf. Wie hieß die Frau? Warum stand ihr Name nicht da? Was war wohl geschehen? Weshalb war sie mit ihrem Mann im Moor gestorben? Hatte man sie getötet? War es ein Freitod gewesen? Ein Unfall? Ihre widersinnige Angst einmal im Moor zu ersticken oder ohne helfen zu können jemandem beim Sterben zusehen zu müssen, schnürte ihr jäh die Luft ab. Obwohl die beiden Leichen in dem geschlossenen Kasten lagen, glaubte sie den leicht süßlichen, harzigen Geruch des Moores zu riechen. Zögernd trat sie einen Schritt auf den Glaskasten zu. Sie rang um Luft.

      Sie näherte sich dem Glaskasten. Nahm sie denn den Moorgeruch nicht wahr? Überstürzt machte er einen Schritt auf sie zu. Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Sie sollte diese Menschen nicht aus der Nähe betrachten. Sie waren Tot! Die beiden Leichen verkörperten den Tod! Sie sollte sich aber dem Moor, dem Tod nicht nähern.

      Runa ging langsam weiter. Ihr fiel das Atmen schwerer, je näher sie dem Glaskasten kam. Die Luft war zum schneiden dick, stofflich, bleiern. Der Schweiß trat ihr aus den Poren. Unvermutet wandte sie sich Lando zu. In seinen Augen konnte sie Bestürzung erkennen. Er wollte nicht, dass sie an die toten Menschen herantrat. Auch er roch das Moor, das konnte sie in seinen Augen erkennen, ebenso wie das Flehen, sie möge nicht weitergehen.

      Es gab aber kein zurück, auch für ihn nicht, er konnte sich weigern das zu erkennen, es würde ihm nicht helfen. Sie hatte gefunden, wonach sie all die Jahre suchte. Dieses Mal würde sie das Museum nicht fragend wieder verlassen, um auf die nächste Ausstellung von Moorleichen zu hoffen. Von heute an würde sie nie wieder eine weitere Ausstellung mit Moorleichen besuchen müssen, das fühlte sie. Sie hielt ihm die ausgestreckte Hand hin, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Wie entrückt schritt sie weiter, machte einen Schritt über die Absperrung hinweg.

      Lando ertrug es nicht mehr, er folgte ihr dicht auf. Noch bevor sie den letzten Schritt getan hatte, holte er sie ein, griff nach ihren Arm. Sie sah ihn erstaunt an, doch nur für den Bruchteil eines Augenblicks. Jegliche Regung wich aus ihrem Gesicht als sie sich dem gläsernen Sarg zuwandte. Sein Herz schlug wild in der Brust. Gleich musste sein Brustkorb zerspringen. Die Luft wurde von Augenblick zu Augenblick unerträglicher, drückte bleischwer auf sein Gemüt. Dieser schreckliche Geruch von Moor. Er packte sich ihrer Hand.

      Warum überschritt sie die unsichtbare Grenze? Sie sollte diese beiden Menschen nicht sehen, nicht in diesem Zustand. Er wollte sie doch auch nicht sehen, jetzt nicht mehr! Er versuchte mit Nachdruck sich gegen die mächtige Kraft zu stemmen, doch der Drang sich neben Runa zu stellen, mit ihr in den Glaskasten zu blicken, war übermächtig. Alles andere verlor an Wichtigkeit. Sein Blick wanderte hinunter, er beugte sich dem unausweichlichen, der höheren Kraft.

      Runa tat es ihm gleich. Sie verflochten ihre Finger zärtlich miteinander. Hand in Hand blickten sie in die Gesichter der Verstorbenen. Wichtig waren nur sie beide.

      Jaromir konnte es nicht fassen. Eben waren sie noch Fremde, jetzt wie Liebende. Er tauschte einen Blick mit Falko, auch der begriff nicht was sich hier seltsames abspielte.

      „Was haben sie vor?“ fragte Vera mit zittriger Stimme.

      Jaromir schluckte hart, bevor er sprach, „Was Verbotenes!“

      Falko setzte einen Schritt über die Absperrung, um Lando am Arm festzuhalten. „Lando, hey, das gibt nur Ärger.“

      Er erhielt keine Antwort.

      „Verdammt Lando, hast du einen Sonnenstich?“ Falko ärgerte sich, dass sein Bruder ihn nicht einmal kurz ansah oder beachtete.

      Wieder schwieg Lando.

      Jaromir war sich sicher, dass weder Lando noch Runa ansprechbar waren. Sie blickten wie leblos in den Kasten hinunter, es hatte keinen Sinn. Er bekam eine Gänsehaut. Was hier geschah, gehörte nicht zum alltäglich Vertrauten und ganz gewiss nicht zu dem, was er bisher erlebt hatte.

      „Sie hören dich nicht,“ wandte er sich an Falko.

      Der schaute ihn zweifelnd an, ehe er einsah und wieder zu ihnen zurückkehrte.

      Vera drängte sich enger an Jaromir heran. „Hört ihr das Wetter? Als würde sich draußen ein Sturm zusammenbrauen.“

      Sie wischte sich fröstelnd mit den Händen über die Oberarme, obwohl es hier drinnen alles andere als eiskalt war.

      Jaromir blickte aus einem der Fenster und horchte nach draußen. Wirklich, sie hatte recht, das Wetter war in den letzten Augenblicken völlig umgeschlagen. Ein starker Wind trieb dicke Wolken vorbei. Die Luft kühlte sich spürbar und schnell ab. Ein schwaches, gelbliches Licht drang noch gerade so durch den schweren, wolkenverhangenen Himmel, der so trüb daherkam wie ein Winterabend. Das Licht tauchte die Umgebung in ein gespenstisches, grüngelbes Leuchten.

      Plötzlich stieß Vera einen spitzen Schrei aus.

      Jaromirs Blick folgte ihrem.

      Das unheimliche Leuchten drang in den Glaskasten, hüllte die reglos dastehenden, Runa und Lando völlig ein. Ein unirdisches Schimmern kam von dem unheimlichen Ort des Geschehens, lockte sie näher heranzutreten. Ein Zwang wollte sie alles sehen lassen. Die beiden Leichen wirkten mit einem Mal noch lebendiger als zuvor.

      „Oh mein Gott!“, rief Vera erstickt aus, „was ist das? Sie sehen aus, als, als würden sie gleich aus dem Kasten steigen!“ Sie griff nach Jaromirs Hand. „Da!“ schrie sie, „sie bewegen sich! Ihre Hände, sie bewegen sich!“

      Jaromir konnte nicht sprechen. Die Worte blieben ihm im Hals stecken, er sah es ja selber und konnte es nicht glauben.

      Die Leichen hoben ihre Arme.

      „Lando, Runa!“, rief Falko, als hätte er Jaromirs Gedanken gelesen und wie um ihm zu antworten. Wie gebannt starrte er auf seinen Bruder und Runa, und die beiden Toten, die sich offensichtlich völlig verjüngt und wiedererweckt in dem Glaskasten aufzurichten versuchten.

      Um sie herum tauchte das gelblichgrüne, schwefelige Leuchten alle Gegenstände in sein trübes Licht. Selbst aus den Toten schien es herauszudrängen. Inzwischen hielten die Leichen ihre Arme an den Ellenbogen abgeknickt und zeigten mit den Händen auf Runa und Lando.

      Ein Strahlen zog wie eine Welle über ihre nun wunderschön wirkenden Gesichter. Alles verschrumpelte war von ihnen abgefallen. In Runa und Lando kam Bewegung. Sie wandten sich einander zu, eingehüllt in das gespenstische Licht, das gleiche überirdische Strahlen auf den Gesichtern. Sich bei den Händen haltend, umrundeten sie den Glaskasten. Runa auf der einen, Lando auf der anderen Seite. Auf Höhe der Hände der Toten angelangt, senkten sie die eigenen Hände nieder und berührten an dieser Stelle das Glas.

      Ein lautes Klirren erschütterte die Luft. Das Glas zersplitterte, die Hände der Toten streckten sich Runa und