Manuela Tietsch

Der Gesang des Einhorns


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unfähig zu sprechen. Was hier geschah überstieg seinen Verstand. Er fragte sich ernsthaft, ob der Zauber nicht Höhepunkt der Ausstellung, also eine Vorstellung war.

      Ein lauter Donnerschlag zerriss die Luft. Freigelegter Strom lief in einem Kreis um den Kasten und die zwei Menschen herum. Unmittelbar nach dem Donnerschlag hörte Falko ein unheimliches Sirren. Ein Blitz schlug ein. Wie ein Zackenschwert sauste er auf die Hände herunter. Laut surrend umkreiste der Stromkreis den Glaskasten, wie ein Rudel Wachhunde, die Unbefugten den Eintritt verwehrten. Das Feuer fand Nahrung.

      Obwohl Runa und Lando vom Blitz getroffen zu Boden hätten fallen müssen, stöhnten sie lediglich, während unter ihren Händen die Flammen emporstiegen. Sie ließen die Hände der Toten los, blickten sich in die Augen, umrundeten den Sarg bis zum anderen Ende und ließen sich sachte zu Boden gleiten. Sie hielten ihre Blicke stetig aufeinander gerichtet, während einer den anderen entkleidete. Mit ruhigen, zielstrebigen Bewegungen, begannen sie ihren Liebesreigen. Unglaubliches, wie Jahrhunderte aufgestautes Verlangen beherrschte ihre Körper. Sie wussten wohin sie steuerten und nichts oder niemand hätte sie jetzt noch aufhalten können. Trotz ihres unbändigen Verlangens, begegneten sich ihre Körper mit größter Zärtlichkeit.

      Vera wollte auf Runa zugehen, noch ehe sie jedoch einen Fuß in den Stromkreis setzen konnte, krachte es erneut. Ein zweiter Blitz schlug ein, geradewegs vor ihrer Nase in den Boden. Erschrocken flüchtete sie sich in Jaromirs Arme.

      Die beiden Menschen im Liebesreigen steuerten einem Rausch entgegen, wie ihn keiner der Anwesenden je erlebt hatte. Mit Hingabe trafen sie auf einander, verschmolzen zu einem Ganzen, loderten wie die Flammen über ihnen.

      Im gläsernen Sarg tobte sich das Feuer aus. Die beiden Verstorbenen wurden von den Flammen verzehrt, als hätte es seit Jahrhunderten darauf gewartet. Im selben Augenblick, da sich die Leichen ein letztes Mal unter den Flammen aufbäumten, bäumten sich die beiden Liebenden in höchster Erfüllung ein letztes Mal entrückt auf.

      2 Im Norden Englands, 11. Jahrhundert

      Ängstlich öffnete Malinda die Augen, setzte sich ruckartig auf. Sie lauschte in das Morgengrauen hinein. Außer dem Rauschen des Windes in den Blättern, dem entfernten Grunzen einer Wildschwein Gruppe und dem rascheln der Eichhörnchen, konnte sie jedoch nichts wahrnehmen. Es beunruhigte sie in zunehmendem Maße, dass sie in der letzten Zeit ängstlich hinter jedem Busch einen Feind vermutete. In all den Jahren war sie nie ängstlich gewesen, vorsichtig ja, aber nicht ängstlich! Was sollte ihr auch noch Angst einjagen? Der Tod? Sie hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Schmerzen? Sie wusste was es bedeutete Schmerzen zu empfinden, mehr als sie glaubte ertragen zu können. Ja, sie hatte Angst noch einmal solche Schmerzen ertragen zu müssen, jedoch nicht mehr als all die Jahre bisher. Was bereitete ihr also Sorgen? Das Leben? Das Morgen, das noch im Dunkel lag? Das andere, alte Leben war in weite Ferne gerückt und selten übermannten sie die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse. Zehn Jahre war eine lange Zeit? Unvorstellbar inzwischen, wie eine Lady von edlem Blut zu leben. Des edlen Blutes war so viel vergossen worden, mehr als sie jemals Tränen hatte weinen können. Das Leben das sie führte war hart, doch war sie die Bestimmerin und kein anderer. Schon gar kein Mann!

      Im Stillen dankte sie einmal mehr dem alten Einsiedler, der damals ihre körperlichen Wunden geheilt und versucht hatte, sie die seelischen vergessen zu lassen. Sie dankte ihrem Kampfgeist und ihrem Lebenswillen? Nicht immer war es leicht ihren weiblichen Körper und seine Formen zu leugnen, ihn unter festen Binden und lockerer Kleidung zu verstecken, doch manches Mal vergaß sie beinahe selber, dass sie kein Junge, sondern eine junge Frau war. So wie sie vergaß, dass sie des Sprechens nicht mehr fähig war, seit diesem verhängnisvollen Tag. Das Leben in den Wäldern und der Einsamkeit forderte ihr keine Worte ab. Im Sommer liebte sie die Ruhe und Freiheit in den Wäldern. Nur der Winter, der hatte es in sich, und dennoch, auch in der kalten, oft nassen Jahreszeit hatte sie in den Wäldern immer Schutz gefunden? Warum war sie also nun so missgestimmt?

      Sie lehnte sich erneut an den Stamm der Buche zurück und schloss die Lider noch einmal. Der Tag begann erst zu erwachen, weshalb nicht noch ein wenig ausruhen? Wie um sie zu verspotten begannen in diesem Augenblick die ersten Vögel mit ihrem Morgengesang, dem Walderweckungsdienst. Ein Lächeln huschte über ihre schweigenden Lippen. Mit einem Mal wieder gutgelaunt öffnete sie die Augenlider.

      Mit schnellem, geübtem Griff packte sie ihr kleines Bündel zusammen, sprang federnd auf die Füße und lief aufs geratewohl in nördlicher Richtung. Sie war neugierig, wohin trugen sie ihre Füße dieses Mal?

      Sie schaute zum Himmel. Inzwischen musste sie seit etwa zwei Stunden unterwegs sein. Sie dankte dem Wald, der sie mit Beeren und Früchten versorgte und steckte die letzten Bissen in den Mund, während sie dem Lauf eines kleinen Baches folgte.

      Ein unerwartetes Geräusch ließ sie innehalten. Vor ihr im Gebüsch lag ein Wesen das laut stöhnte. Es stöhnte vor Schmerzen. Vorsichtig schlich sie weiter durch das Gebüsch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwa zwanzig Schritte entfernt lag ein Pferd im Gras am Bachufer. Sie beobachtete es eine Weile, suchte die Umgebung nach einem dazugehörenden Menschen ab. Offensichtlich war es alleine. Ebenso offensichtlich handelte es sich um eine Stute, die gerade im Begriff war zu fohlen. Sie stöhnte unter den Wehen. Doch die Geburt schien nicht die einzige Erschwernis zu sein. Ihr Körper war überzogen von blutigen Wunden. Ein Halfter lag viel zu eng um ihren Kopf geschnürt und ein abgerissener Strick schlängelte sich wie eine Schlange über den Boden bis zum Halfter. Ein Mensch hatte diese Stute grausam misshandelt, so viel stand fest. In ihrer Not war sie wahrscheinlich geflohen. Langsam trat Malinda aus ihrer Deckung, sie wollte weder die Stute erschrecken, noch einen Angriff des Tieres wagen. Bis zu diesem Augenblick war die Stute mit einer heftigen Wehe beschäftigt gewesen, nun schaute sie unerwartet auf und sah Malinda unmittelbar in die Augen. Einen langen Augenblick schauten sie sich an, bis Malinda sicher war. Sie musste ihr helfen.

      Fionna hatte Malinda schon seit einer Weile erwartet. Sie wusste wohl, dass sie ihre Hilfe nötig hatte, denn die vielen Wunden schwächten sie mehr als sie geglaubt hatte. Sie war lange nicht mehr so stark und unverwundbar wie vor ihrer Liebe zu Donn ruadh. Die weisen Einhörner der Insel hatten sie gewarnt, doch sie war bewusst in die Beziehung mit ihm gegangen. Was bedeutete übernatürliche Kraft oder die Unsterblichkeit, gegen die Liebe? Wenn die Geburt nur nicht so anstrengend wäre! Eine neue Wehe verdrängte alle Gedanken, ließ sie, sich wieder voll mit dem Gebären befassen.

      Malinda beugte sich herunter, langte, noch vorsichtig nach dem Halfter. Es war so eng geschnallt, dass es tief ins Fleisch einschnitt. Um die Stute schwirrten bereits die Schmeißfliegen auf der Suche nach Eiablageplätzen. Behutsam öffnete sie die Schnallen des Halfters. Die Stute ruckte kurz mit dem Kopf hoch, ehe sie das blutige Leder herunterzerren konnte. Verflucht sollte ihre Sprachlosigkeit sein. Sie wollte die Stute so gern mit Worten beruhigen. Was blieb, war, ihr beruhigend über den Kopf zu streichen, während sie in Gedanken mit ihr sprach. "Wer hat dich nur so zugerichtet? Bestimmt hatte sie großen Durst. Ich hole Wasser." Sie zog ihren Stiefel aus und holte damit vom Bach eine Ladung Wasser. Immer wieder schüttete sie sich anschließend etwas von dem Wasser in die hohle Hand, aus der die Stute gierig trank. Das ganze war sehr mühsam, aber notwendig.

      Als schließlich das kleine, dunkelbraune Hengstfohlen vor Fionna im Gras lag, vergaß sie die anstrengende Zeit der Geburt. Glücklich und erschöpft blickte sie ihren Sohn einige Augenblicke an, ehe sie müde zurücksank und einschlief.

      Malinda riss trockene Grasbüschel ab, sie musste den Blutkreislauf des Kleinen in Gang bringen. Auch er schien ermattet. Mit gleichmäßigen Bewegungen rieb sie sein Fell trocken. Es dauerte nicht lange bis er versuchte aufzustehen. Seine unförmigen langen Beine waren ihm dabei mehr hinderlich als nützlich. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Nach einiger Zeit schaffte er es tatsächlich zu stehen, wenn auch etwas wackelig, doch stolz. Was für ein kräftiger Kerl.

      Fionna erwachte aus ihrem flüchtigen Schlaf. Die kurze Reise zu ihren Ahnen, hatte sie gestärkt. Sie musste alle Kraft für ihren Sohn haben. Ach wäre sie doch nur bei Donn ruadh! Schon wieder kraftvoller erhob sie sich, der kleine brauchte endlich seine Milch.

      Malinda