Attila Heller

R.O.M.E.


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Dank, Gustav, Sie können jetzt gehen.“

      Gustav nickte, strich sich über den Schnauzer und trat mit einem Gruß rückwärts durch die offen stehende Tür. Dann schloss er diese sacht und ließ Jakob mit dem Komitee zurück.

      Jakob schaute um sich, verblüfft über die Inszenierung seiner Vorstellung. Er erblickte schräg an der Decke eine aus Modelliermasse gefertigte Landkarte, auf der die Grenzen der Mitgliedstaaten des Neuen Europas klar zu erkennen waren, farblich und durch ein Relief, eine Kunstform aus Plastik und Malerei, vom Hintergrund abgehoben. Er verfolgte die Linie, die, startend auf der Iberischen Halbinsel über die Bretagne und weiter durch die Meerenge zwischen Frankreich und den verfeindeten Briten hindurchführte. Hier im Kanal eröffnete sich auch der Nordwall, eine Bastion mitten auf dem Wasser, die sich bis nach Nordskandinavien ausdehnte und Großbritannien vom Festland lückenlos abriegelte. Im Osten führte die Reichsgrenze von der Düna zum Dnjepr und weiter entlang der Küste des Schwarzen Meeres, ihren Abschluss findend mit der Hölle auf Erden, dem Kaukasus. Hier stießen drei der vier Großmächte zusammen und kämpften um jedes Stück Land, das absolut nichts darstellte und keinen Wert besaß, außer in jemandes Besitz zu sein und die eigenen Grenzen zu bilden. Keine Rohstoffe, keine ertragreichen Äcker und auch keine prächtigen Sandstrände, sondern Berge, Schnee und eine karge Vegetation. Kommunisten schossen auf die von Süden herannahenden Streitkräfte der Arabischen Liga. Die Araber lenkten ihre Sprengsätze auf die Verbände der R.O.M.E. und diese wiederum zogen gegen die Russen und Chinesen in den Kampf. Ein Fass ohne Boden, von dem sich nur die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten fernhielten. Den Abschluss machte das Mittelmeer, das die Abgrenzung zum Schwarzen Kontinent bildete, von dem keine allzu große Gefahr ausging. Zu groß waren die inneren Streitereien über Religion, Territorien und Diamantenminen, als dass man sich hier vereinen könnte.

      Die Landkarte beeindruckte Jakob. Er war sich absolut sicher, dass jedes noch so kleine Teilstück penibel genau vom Künstler eingearbeitet worden war. Erst jetzt bemerkte er das zu einem Rundsaal gebogene, hellbraune Mauerwerk des warm wirkenden Raums. Unter der Deckenleiste waren längliche Fahnen angebracht, die bis kurz über den Parkettboden an der Wand herabhingen, alle einheitlich im Kreis. Jakob erkannte die Landesflaggen der Mitgliedstaaten, die gleichzeitig als Hinweis auf die dazugehörigen Personen dienten, die in um einen runden Tisch gruppierten Sesseln brüteten.

      „Also, Mr. Lemmon“, sagte die Stimme, die zuvor Gustav bei Jakobs Vorstellung unterbrochen hatte. „Willkommen im allerhöchsten Kreis, dem Ratsausschuss der Soziusse des Neuen Europas. Mein Name ist Oskar Braun.“

      Mit scharfem Blick musterte Jakob den Mann, der seit einigen Monaten die Rolle Deutschlands in diesem Gremium übernommen hatte und sich nun von seinem Platz erhob. Jakob erkannte ihn nicht wieder, was aber wenig zu bedeuten hatte, denn das einzige Porträt, das er jemals von dieser Person gesehen hatte, war eine unscharfe Aufnahme in einer politisch-kritischen Zeitung gewesen, die zum fünfundzwanzigsten Jahrestag der Bildung des Nationalen Sicherheitsdienstes ein Porträt von Oskar Braun erstellt hatte, in dessen damaliger Funktion als Abteilungsleiter für Innere Angelegenheiten. Jakob hatte ihn irgendwie anders in Erinnerung. Der Mann, der jetzt mit ihm im Saal stand, war ein dürres Skelett, nur aus Haut und Knochen bestehend mit eingefallenen Augenhöhlen und hervorstehenden Wangen. Das weißblonde Haar hing kraftlos vom seinem Haupt und auch der schicke Designeranzug mit der dunkelgelben Seidenkrawatte schien mindestens zwei Nummern zu groß zu sein. Man musste nicht näher an ihn herantreten, um zu wissen, dass die körperliche Verfassung dieses Mannes nicht die allerbeste war.

      „Wir sind erfreut, dass Sie es geschafft haben und, unter uns, dass es Sie noch gibt. Denn wie Sie es sich wohl denken können, haben wir von Ihrem kleinen nächtlichen Zwischenfall erfahren. Zum Glück scheint es Sie nicht allzu arg erwischt zu haben, was man von Ihrem Auto nicht gerade behaupten kann.“

      In der Mitte des Tisches wurden mit einem Mal auf einer gläsernen Säule, die wie von Geisterhand mittig im Zimmer schwebte, die Bilder des letzten Abends projiziert, wodurch Jakob und den Ratsmitgliedern aus der Vogelperspektive Kenntnis über die jüngsten Ereignisse verschafft wurde. Jakobs Auto brannte darauf lichterloh.

      „Wie geht es Ihnen jetzt?“

      „Eigentlich ganz gut.“,

      „Eigentlich oder gut?“

      „Gut“, täuschte Jakob vor und richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen Gesprächspartner aus, der beinahe parallel zu ihm vor einer schwarzrotgoldenen Fahne hinter einem Holztisch stand, der eine runde Tafel bildete und vom Polieren blendend glänzte.

      Skeptisch schielte Oskar zu Jakob hinüber.

      „Und da sind Sie sich sicher?“

      „Mir geht es gut, danke.“

      Oskar schmunzelte.

      „Wie Sie meinen.“

      Er trat einen Schritt nach links und begann.

      „Der Ratspräsident hat mich gebeten, diese Konsultation mit Ihnen zugleich im Beisein aller Mitglieder zu führen. Auch möchte ich alle Anwesenden noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass die hier besprochenen Angelegenheiten die Mauern dieses Raums nicht verlassen dürfen. Mr. Lemmon, Sie können sich also geehrt fühlen, als Außenstehender Zugang bekommen zu haben. Das ist ein besonderes Privileg. Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger auf die Folter spannen, es hat schon lange genug gedauert. Yves, kannst du bitte die Bilder auf unseren Bildschirm ziehen.“

      Yves drückte einige Male auf die Tastatur, unterdessen Jakob gebeten wurde, auf einem Stuhl zwischen einer Frau und einem Mann, genauer zwischen Polen und Tschechien, Platz zu nehmen.

      „Meine Damen und Herren, was Sie jetzt sehen werden, ist eine neue Dimension des Terrors, der sich gegen unseren noch jungen Staat richtet. Wir kannten ihn bisher nur vereinzelt und keinesfalls gezielt auf bestimmte Einrichtungen oder gar Personen. Doch mit Bilbao hat sich das geändert.“

      Yves zog die ersten Bilder aus der baskischen Metropole auf die gläserne Wand, ein Szenario, welches Jakob bekannt vorkam.

      „Sie erkennen hier ein Auto“, Oskar Braun räusperte sich und redete weiter, „oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben ist, in die Luft gesprengt und zerfetzt, als ob ein Leben nichts wert wäre. Im Auto Studenten der Future Group of Europe aus Bilbao.“

      Yves schob weitere Bilder auf den Bildschirm.

      „Wenige Stunden später in Madrid. Drei Studenten sterben durch gezielte Sprengsätze auf dem Campus der Future Group of Europe in Aravaca. Nicht anders als am darauffolgenden Tag in Marseille und später in Österreich. Zur Abwechslung mal eine Wasserleiche, eine Studentin, gefunden am Ufer des Inns bei Innsbruck.“

      Jakob wurde schlecht, als er den aufgequollenen Körper sah. Er hatte zuvor noch nie eine Leiche gesehen. Ihm reichte das Bild der jungen Toten aus, was man vom Rest der kalten Runde nicht behaupten konnte, die ohne mit der Wimper zu zucken die Aufnahmen betrachtete.

      „Verehrtes Gremium, wir haben einen neuen Staatsfeind. Letztlich bekannt, aber nicht in dieser geeinten, zielstrebigen und organisierten Form. Es ist ein Feind, der uns von innen heraus auffressen, unser System niederreißen will, um die perfekte Demokratie der R.O.M.E. auseinanderzusprengen. Dieser Feind dringt nicht von außen über die Landesgrenzen vor oder riegelt uns durch Abkommen von Verbündeten ab. Nein, jener Feind ist mitten unter uns und geht dabei über Leichen. Er eliminiert die Zukunft unseres Staates, unserer Erben, die Elite.“

      „Und eines ist gewiss“, ergriff Yves Liron das Wort. „Wir befinden uns erst in seichten Gewässern. Die endgültige Welle wird sicher noch über uns hinwegschwappen. Falls Sie es noch nicht selber bemerkt haben sollten.“ Er klickte auf die Bestätigungstaste, eröffnete dadurch allen anwesenden Personen im Raum einen Blick auf die Plattform der R.O.M.E. und schob den Cursor der Maus auf das Pop-up-Fenster.

      „Das war erst der Anfang.“

      Ein Tumult brach in der sonst so ruhigen Runde aus.

      „Und was schlagen Sie jetzt vor?“

      „Das kommt ganz darauf an, was wir