Attila Heller

R.O.M.E.


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der Fensterbank liegen und griff danach. Schön vereist war dieser und Petru malte sich schon Corvins schmerzverzerrtes Gesicht aus, wenn ihn der Eisball mitten in die Fresse treffen würde. Er blieb stehen, die Kugel gut versteckt zwischen seinen zu einer Höhle gekrümmten Händen. Der Mantel musste richtig hart sein. Er schaute zurück, Corvin gab ein gutes Ziel ab, der Zaun reichte diesem nur bis zur Brust.

      „Es tut mir leid“, hörte er Estera noch rufen, doch es war zu spät. Im selben Atemzug zischte der Eisball durch die kalte Luft und plättete Corvins Stirn, sodass dieser lauthals schreiend rückwärts zu Boden plumpste. Im Schnee liegend, hielt er sich die Schläfe und blickte orientierungslos um sich.

      „Petru!“, schrie Estera. „Spinnst du?“

      „Wieso ich?“

      Estera schaute ihn wütend an, der wiederum auf Corvin blickte.

      „Der hat angefangen, nicht ich. Es ist seine Schuld!“

      Plötzlich öffnete sich die Hintertür der Kirche und Pater Vadim stand mit verschränkten Armen im modrigen Gewölbe. Er blickte zu Corvin, auf dessen Stirn sich eine gigantische Beule von der Größe eines Hühnereis gebildet hatte, die damit drohte, augenblicklich das Küken freizugeben. Anschließend wandte er sich zu Petru. Mit finsterer Miene schaute er ihn an, umhüllt von einem faltenreichen Umhang, der nur so weit zusammengebunden war, dass stets das golden leuchtende Heilige Kreuz der Kette jedem ins Auge sprang.

      „Ist das dein Werk?“, mit dem Finger zeigte er auf Corvin.

      In diesem Moment realisierte Petru, was er soeben getan hatte. Er hatte sich einen vierzehnjährigen Draufgänger zum Feind gemacht, einen Jungen, der keine Gelegenheit auslassen würde, sich an ihm zu rächen. Er hatte Pater Vadim, einen Mann, der fortwährend Nächstenliebe predigte, enttäuscht und nicht zuletzt das Mädchen, in welches er vernarrt war. Alles geriet außer Kontrolle. Er spürte Angst und Scham in sich emporsteigen, die ihn regelrecht zwangen, sich nicht der Konfrontation zu stellen, sondern wegzulaufen, was er auch tat. Mit einer gewandten Drehung kehrte er seinen Problemen den Rücken und lief davon, einfach fort in Richtung Straße.

      „Eh, bleib stehen, du Mistkerl!“ Corvin war außer Rand und Band, als er realisierte, dass Petru sich aus dem Staub machen wollte. „Bleib stehen oder du kannst was erleben, das schwör ich dir!“

      Mit dieser Drohung sprang er über den wackeligen Zaun, das Herz voll Hass, die Gesichtszüge kalt und verschlossen, und nicht einmal Esteras Bitten konnte daran etwas ändern. Zu tief saß der Stachel der Demütigung.

      „Denk daran, mein Sohn“, waren die letzten Worte die er aus Pater Vadims Mund vernahm, bevor er auf die Straße einbog und sein Wild in einiger Entfernung die steile Böschung in den angrenzenden Wald hinaufsteigen sah.

      ***

      „Wo bist du, Petru? Komm endlich raus!“

      Regungslos hockte Petru, halb liegend und festgefroren, mit angezogen Beinen unter einem entwurzelten Nadelbaum, verborgen zwischen Erdklumpen, etwas Wurzelgestrüpp und feuchtem Schnee, der ihm in den Nacken tropfte. Er hatte die Hände gefaltet und sich so weit gedemütigt, dass er Gott um Hilfe dafür anhielt, dieser schmerzhaften Heimsuchung irgendwie entrinnen zu können. Und wenn ihm Gott da oben mit einem Wunder half, war ihm das inzwischen recht, denn seine eigenen Fähigkeiten hatten ihn ja nicht sonderlich weit gebracht. Corvin klebte ihm entsetzlich dicht auf den Fersen und je näher er Petrus Versteck kam, desto eindringlicher hinterfragte dieser seine Wahl.

      Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, in den Wald zu flüchten. Was, wenn dieser Hund kein Ende findet? Was, wenn Corvin den Ehrgeiz besitzt, ihn bis zum bitteren Ende zu jagen? Nicht auszumalen, wenn er sein Versprechen, vor dem Sonnenuntergang daheim zu sein, nicht einhalten könnte. Seine Mutter wäre enttäuscht und die Konsequenzen würden nicht lange auf sich warten lassen: Stallausmisten, Kerzenziehen, Hausarrest, Petru schluckte, und das über die Feiertage.

      Er überlegte. Genau genommen saß er doch bloß wegen seiner Schneeschuhe hier fest. Diese übergroßen Schlappen, die auf schneebedeckten Wiesen und Feldern ausgezeichnete Arbeit leisteten, freilich aber keinen Erfolg im Wettrennen mit einem gefühlskalten Jungen brachten. Und sie auszuziehen, schien hier im Wald als Alternative aus, denn er benötigte seine Zehen noch. Es waren schlichtweg diese Schneeschuhe, die ihn dazu genötigt hatten, in den dunklen Busch zu laufen, um seinem Jäger gegenüber im Vorteil zu sein. Doch dieser war schnell, höllisch schnell.

      Durch zwei unförmige Wurzelstrauche hindurch konnte Petru jetzt Corvin erkennen, den nur noch wenige Schritte vom Versteck trennten und der launig um sich blickend zu Boden spuckte. Bloß keine falsche und unkontrollierte Bewegung machen, befahl er seinem Körper, der weiterhin in Fötusstellung gekrümmt im Erdloch lag.

      „Komm jetzt raus und stell dich, Feigling!“

      Corvin hielt an, lässig in die Knie gehend und einen Blick auf die vor ihm weiß glitzernde Fläche werfend. Umsichtig begann er den Waldboden nach möglichen Spuren zu prüfen. Er tastete mit seinen Händen die Furchen aus, die Petru hinterlassen hatte, und fing an, fies zu schmunzeln. Auf perfide Art nahm er etwas Schnee zwischen seine breiten Fingerkuppen und eröffnete arglistig sein Spiel, indem er diesen zerbröselte und laut lachte. Dann hob er den Kopf und schaute direkt auf Petrus Schutz bietenden, entwurzelten Baum.

      „Na, Petru, hast du dich verkrochen?“

      Corvin richtete sich auf.

      „Hast du gedacht, du könntest einfach wegrennen?“

      Corvin begann zu laufen.

      „Ich finde dich, hörst du!“

      Corvin machte einen Satz nach vorn.

      „Falsch“, hallte es mit einem Mal durch den gedämpften Winterwald. „Vielleicht habe ich das ja schon. Was denkst du, Feigling?“

      Unter dem Eigengewicht Corvins brach knackend ein morscher Ast. Mit eisiger Gelassenheit kam er gemächlich Schritt für Schritt auf Petrus Versteck zu, bis er unmittelbar vor dem kleinen Erdloch, in welchem der besorgte Junge, halbverdeckt durch einen buschigen Schleier rausgerissener Wurzelwerke, kauerte, stehen blieb.

      „Nein, du wirst dafür bezahlen.“

      Petru hielt die Luft an. Sein Schal war triefend nass, zu viel Schnee war ihm in den Kragen seiner Jacke gefallen und dort geschmolzen. Auch sein Atem befeuchtete die stachlige Wolle, die sich um seinen Mund schloss. Er zitterte stark, Kälte und immer stärker werdende Angst setzten ihm zu, bis er kurz davor war, sich kräftig in die Hosen zu machen. Der Jäger neben ihm ruhte, er brauchte nur noch das dreckige Wurzelgestrüpp zur Seite zu ziehen.

      Corvin streckte seinen Arm aus und drückte die flache Hand in den Naturschleier, als wollte er diesen jeden Augenblick beiseitezerren.

      Petru kroch noch weiter in sich zusammen. Er wollte schreien und setzte gerade dazu an, als Corvin unerwartet seine Hand sinken ließ. Stattdessen holte er mit beiden Armen Schwung, sprang über den Baum, plumpste knirschend zu Boden und war aus Petrus Blickfeld verschwunden.

      „Was hat das jetzt zu bedeuten?“, dachte Petru. „Ein Wunder.“ Und während er über diese außergewöhnlich gnädige Wendung seines Schicksals nachsann, krachte Corvin durch das Geäst in sein Erdloch. Mit knappen Griffen packte er ihn und zerrte ihn ohne große Mühe auf den Rücken. Er hatte sich wie ein Raubtier angeschlichen und sich den Moment einer aufkommenden Hoffnung in Petrus kleiner Brust herzlos und barbarisch zunutze gemacht.

      Petru schrie, doch nichts als ein weinerliches Jammern kam hervor, zweckmäßig gedämpft durch Corvins Hand, die auf seinem Mund klebte. Wirkungslos waren seine Bemühungen, sich zur Wehr zu setzen. Untragbar das Gewicht, welches auf ihm lag und alles Winden und Zappeln erdrückte. Er spürte Corvins Knie in seiner Magengegend und bereitete sich innerlich auf die Faust vor, die ihm schonungslos eine derbe Abreibung verpassen würde. Er schloss die Augen.

      „Pst, sei ruhig.“

      „Hmm“, stammelte Petru.

      „Du sollst ruhig sein, verdammt