Attila Heller

R.O.M.E.


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an den Haaren herbeigezogen. Petru empfand seine Kindheit als eine schöne Zeit, auch wenn er kaum mehr als die Sachen besaß, die er an und bei sich trug. Er war sehr glücklich, denn das Allerwichtigste, was ein Kind überhaupt haben konnte, hatte er, ein sorgsames und liebevolles Zuhause. Er war gesegnet und gerne der Sohn von Dumitru, dem strebsamen Böttcher und Bergbauern, und seiner Frau Violeta.

      Petru schwang sich wieder zurück auf die Matratze und schlug seine Decke zurück, bis sein Glanzstück offen vor ihm lag. Selbstkritisch nahm er es unter die Lupe. Das kleine Reh, welches er seit einigen Tagen heimlich schnitzte, war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte, es war perfekt. Die Proportionen, beginnend mit den langen, zugespitzten Ohren bis hin zu den dünnen Läufen, stimmten auf den Millimeter. Er freute sich, mit diesem Geschenk konnte er nur punkten.

      Leise schlich er in die hinterste Ecke seines Raums und hebelte mit dem Messer eine Diele vom Boden auf. Darunter befand sich eine Schachtel, eingewickelt in ein Leinen, das Petru bedächtig abband. Stolz legte er das Reh neben die beiden anderen, kleineren Schnitzfiguren, die sich schon in der Kiste befanden, und wickelte das Leinen wieder drum herum. Die Geschenke für seine Eltern hatte er schon vor vielen Wochen fertiggestellt. Das süße Reh war für jemand ganz bestimmten reserviert.

      Nachdem Petru die Schachtel wieder sicher unter der Diele verstaut hatte, zog er den Vorhang auf und ging geradewegs auf Violeta zu, die in einem Topf auf der Kochstelle rührte und Mamaliga, eine Art Maisbrei, zubereitete, direkt neben der Tür zum Stall.

      „Mamà“, sagte Petru, „darf ich nach Valea Mare?“

      „Jetzt noch?“, fragte Violeta überrascht.

      „Ich bin auch pünktlich zum Abendessen zurück.“

      Sie schaute ihn ungläubig an.

      „So wie beim letzten Mal?“

      „Ach bitte, Mamà!“

      Mit dem Zeigefinger im Kochtopf kostete Violeta den Brei. Sie war sich nicht sicher, doch letztlich gab sie dem Drängen ihres Sohnes zögernd nach.

      „Meinetwegen, aber bitte halt dich an dein Versprechen und sei vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück, hörst du?“

      Petru nickte, nahm seine gepolsterten Wintersachen, zog die uralten Schneeschuhe über und verschwand schleunigst durch die Tür.

      Von dem bescheidenen Berghof, den Petru zusammen mit seinen Eltern bewohnte und der seit vielen Generationen in Familienbesitz war, waren es höchstens zwanzig Minuten bis zum Dorfplatz von Valea Mare. Ein eiskalter Wind fegte ihm um seine rote Nase, so ziemlich dem einzigen Körperteil, welches schlecht verpackt der Kälte trotzen musste und an dem ein zäher Rotztropfen hing. Doch kaum hatte er die Waldlichtung, auf der im Sommer die Schafe und der Ochse grasten, überquert, beruhigte sich das Wetter prompt. Bäume und Sträucher breiteten ihre Schutzmäntel über ihm aus und hielten den feindlich gesinnten Wind von ihm fern, der am Waldesrand wie an einer Mauer abzuprallen schien.

      Außer Atem erreichte er die Straße, die D17, und sprang wegen der sperrigen Schneeschuhe in Windeseile über den vereisten Asphalt. Dabei hätte er sich alle Zeit der Welt lassen können, denn kein Auto, kein Lastkraftwagen, nicht einmal ein wackeliges Ochsengespann war unterwegs und in der Lage, ihn ungebremst und ohne Rücksicht über den Haufen zu fahren. Der weiße Schnee lag noch immer so am Straßenrand, wie er seit Wochen gefallen war, keine Menschenseele machte sich daran, den Fußweg freizuräumen und die Massen gefrorenen Wassers zu beseitigen. Darum liefen er und ein altes Mütterchen, das ihm entgegenkam, auf der Fahrbahn.

      „Bunà ziua“, sagte er.

      Die Alte beachtete ihn nicht. Sicher dachte sie, er wäre einer dieser unverschämten Burschen aus dem Dorf, die nichts als Flausen im Kopf hatten und im Winter gerne die Türen von alten Menschen vereisten, indem sie einen ganzen Kübel Wasser darübergossen und dem Frost den Rest überließen. Er entdeckte seine Schule, eingeschneit auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jedes Jahr wurde sie mit dem Einbruch des Winters geschlossen, wodurch Petru gezwungen war, sich über etliche Wochen und Monate, je nachdem, wann der Frühling wieder erwachte, die Zeit auf dem Berghof zu vertreiben.

      Petru dachte an seine Klasse – im Übrigen die einzige an dieser Dorfschule – und zählte in Gedanken alle Schüler auf. Es waren dreizehn an der Zahl und fast alle stammten aus Valea Mare, außer ihm und zwei anderen Jungen, die von den umliegenden Höfen aus den hohen Bergen zum Unterricht ins Tal kamen. Der Priester, Pater Vadim, war gleichzeitig ihr Lehrer. Er unterrichtete alle Fächer: Mathematik, Rumänisch, Deutsch, Geschichte und Musik. Selbst den Sportunterricht ließ er sich nicht nehmen, auch wenn er dabei selten eine gute Figur machte, und natürlich Religion. Nichts war ihm wichtiger als der heilige Vater und sein zu Fleisch gewordener Sohn Jesus Christus.

      Petru lief es kalt den Rücken runter, wenn er nur daran dachte. Er assoziierte den Glauben, Gott und Religion mit den Schnitzbildern, die in seinem Klassenzimmer hingen. Düster und brutal zeigten sie einen immer büßenden Jesus, der, mit einer Dornenkrone bestückt, das Haupt schlaff geneigt und mit eingefallenem Gesicht, am Kreuze hing. Sollte der Glaube nicht etwas Befreiendes sein? Petru fühlte es jedenfalls nicht. Eher beklemmend und einschüchternd wirkten die Statuen auf ihn und liebend gerne hätte ihm dieser Teil der Schule gestohlen bleiben können. Jedoch war es Pater Vadim zu verdanken, dass er begann, auch etwas Sinnvolles und durchaus Befriedigendes aus den Lehren der Kirche zu ziehen.

      Mittlerweile hatte er den Dorfplatz erreicht. Die kleine Kirche mit dem Glockenturm leuchtete warm und freundlich, erleuchtet vom Licht unzähliger Kerzen. Durch die großen Fenster drang ihr Schein nach außen und spiegelte sich im Neuschnee der vergangenen Stunden, den Petru jetzt mit seinen Schneeschuhen zermatschte. Er schlich die Seitenwand des Gotteshauses entlang, begleitet von Pater Vadims Orgelspiel. Am hinteren Teil der Kirche angekommen, linste Petru über den dürftigen Zaun. Im Schuppen nebenan und direkt vor einem Häuschen brannte Licht. Sie war da!

      Petrus kleines Herz pochte jetzt schneller. Seit fast zwei Wochen hatte er Estera nicht mehr gesehen, da sie bei einer Tante in der Stadt auf Besuch gewesen war. Sie war alles, woran er seit Tagen denken konnte, anziehend, mit braunem Haar und einem makellos weißen Gesicht. Petrus Gedanken ließen ihm die Knie weich werden und mit einem Mal verließ ihn sein Mut. Wollte sie ihn denn überhaupt wiedersehen? Sein leerer Magen verknotete sich, Schmetterlinge kreisten, er fühlte sich unwohl und wollte schon unbemerkt wieder davonziehen, als sich plötzlich der Zugang des Schuppens öffnete und Estera freudestrahlend heraustrat.

      „Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht.

      Petru verschlug es die Sprache. Vor Scham rot werdend, zuckte er mit den Schultern und war nicht fähig, irgendeine Silbe herauszubringen. Und als dann auch noch Corvin den alten Schuppen verließ und ihn verwundert anstarrte, war es im Nu verflogen, sein Selbstbewusstsein.

      „Ach, ich verstehe.“ Corvin blickte zu Estera, die still am Zaun den Klettverschluss ihrer Jacke befestigte und Petru anteilnehmend ansah. „Estera verbringt den Nachmittag mit mir, kapiert? Verzieh dich, du halbe Portion.“

      Verdattert und ohne ein Quäntchen Mumm in den Knochen, stiefelte Petru los. Was konnte er, der nette Junge vom Berghof, schon gegen so eine Großschnauze ausrichten? Corvin war viereinhalb Jahre älter und mindestens zwei Köpfe größer als er und vermöbelte am liebsten seine Mitschüler. Wenn Estera unbedingt Zeit mit einem öligen Primaten verbringen wollte, musste er das akzeptieren, auch wenn es tief in seinem Innern schmerzte. Was sollte sie, eine Zwölfjährige, auch mit einem zehnjährigen Kind anfangen?

      Trübselig und niedergeschlagen folgte er seinen eigenen Spuren, die er auf dem Hinweg zu Esteras Heim im Schnee neben der Kirche hinterlassen hatte. Das Reh wird nun ganz bestimmt Mutter zu Weihnachten bekommen, schlussfolgerte er.

      „Ja, ja, schleich zurück auf deinen Berg, du Bauerntölpel. Was hast du schon zu bieten? Eine Kuh oder ein Schäfchen vielleicht? Oder schnitzt du klammheimlich Holzstatuen, weil ihr euch nichts Besseres leisten könnt?“

      Petru hielt inne. Dieser elende Hund kostete den Erfolg auf eine sehr gemeine Art und Weise aus, die weit unter die Gürtellinie reichte. Er machte sich lustig über seine