Attila Heller

R.O.M.E.


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tat er dies.

      „Darf ich nicht schreien, wenn du mich vermöbelst?“

      „Halt die Klappe.“

      „Was?“

      „Du sollst einfach deine dumme Klappe halten, oder ist das für einen Bauern zu schwer zu begreifen? Sei einfach still, sonst überlege ich es mir doch noch einmal anders!“

      Petru glotzte Corvin überrascht an. Unerwartet lockerte dieser seinen Griff, huschte von dem kleinen Körper herunter und legte sich neben diesen auf den Bauch, das Gesicht in Richtung Wurzelgestrüpp.

      „Also doch ein Wunder“, urteilte Petru und sah Corvins Stirn, die oberhalb der rechten Schläfe doppelt so groß wie auf der anderen Seite war. Dann schob er seine Mütze zurecht, eine wuschelige Kappe mit Ohrenlappen aus Kaninchenfell, die unterhalb seines Kinns mit einem Knoten geschlossen wurde. Zurückhaltend fragte er: „Darf ich?“

      Corvin nickte und Petru drehte sich vom Rücken auf den Bauch. Beide lagen jetzt dicht nebeneinander im Bau, Jäger und Gejagter, stumm, reglos und gleichmäßig atmend.

      „Siehst du den da?“

      Jakob schaute in den Wald.

      „Wer ist das?“

      „Wenn ich das wüsste, hätte ich mich wohl kaum zu dir ins Erdloch verkrochen. Du kannst von Glück reden, dass der da aufgetaucht ist.“

      „Vielleicht sollte ich mich bei ihm bedanken.“

      „Natürlich, klar. Vielleicht lädt er dich auch gleich zum Abendbrot ein, als Hauptspeise. Hast du denn nur Stroh in deiner Rübe? Du solltest mal dein Gehirn einschalten, bevor du von einem Schlamassel in das nächste hineinläufst.“

      Petru begriff langsam, was Corvin ihm damit sagen wollte, denn vor seinem Schneeballwurf hatte er tatsächlich keinen einzigen Gedanken an die Folgen verschwendet. Und dieser Mann da draußen, wer weiß, was der auf dem Kerbholz hatte, komisch sah er ja schon aus.

      „Verdammt!“

      „Was ist?“

      „Der hat gerade unsere Spuren im Schnee entdeckt.“

      Petru suchte sich ein größeres Guckloch.

      „Der kommt ja auf uns zu.“

      Mit einem Mal wurde beiden ganz unwohl zumute, denn mit jedem Schritt, den der Unbekannte näher trat, eröffneten sich immer weitere, beunruhigende Einzelheiten. Es war ein großer und kräftiger Mann mit mächtigen Pranken wie die eines Bären. Er trug seltsame Kleidung, untypisch für diese Jahreszeit. Dünne Hosen und eine legere Jacke, dunkelblau und weiß oder grau gestreift. Keine Mütze. Keine Handschuhe. Nicht einmal einen Schal, der ihn vor der Kälte geschützt hätte. Sein Äußeres schüchterte sie ein, allem voran ein abstoßender, durchgeknallter Gesichtsausdruck, der panisch und dennoch zu absolut allem entschlossen auf Corvin und Petru wirkte.

      „Und was jetzt?“

      „Ich weiß es nicht, Petru.“

      Ganz anders als Corvin vorhin, steuerte dieser Riese mit schnellen, zielstrebigen Schritten auf das Versteck zu. Nach nur wenigen Sekunden stand er vor dem umgefallenen Baum. Er musterte die halb im aufgerissenen Erdboden vergrabene Wurzel.

      Schnell, mit einem Schwenk hatte er die Wurzelstränge beiseitegerissen und die zwei zu Tode erschrockenen Jungen, die keinen Mucks von sich gaben, entlarvt. Mit aufgerissenen Augen starrte er die beiden an. Corvin und Petru waren vor Schreck so eng zusammengerückt, dass sich nun sogar Platz für eine dritte Person in der Erdmulde bot. Beide waren wie gelähmt. Die Bestürzung beim Anblick dieses Mannes beherrschte sie. Er kam näher und drückte sein hässliches, unrasiertes, ungewaschenes und von Rissen durchzogenes Gesicht in den Bau. Dann ermöglichte er den Jungen die Sicht auf seine gelben Zähne, zwischen denen man die Reste der letzten Mahlzeiten sehen und auch riechen konnte. Corvin wurde übel, Petru dagegen kämpfte erneut mit seinem Harndrang und beide fragten sich, was wohl jetzt mit ihnen geschehen würde, ob die Defensivtaktik, die sie eingeschlagen hatten, wirklich die Richtige war.

      Der Mann riss die beiden auseinander. Ohne Probleme zog er Petru aus dem Loch und schleuderte ihn einige Meter weit kopfüber in den Schnee. Corvin fing zu schreien und zu strampeln an, als ihm der Riese die Hand an den Hals legte. Doch anstatt zuzudrücken, knotete er Corvin den Schal auf, zog ihn herunter und legte ihn sich um den eigenen Hals. Dann ließ er von ihm ab, ging auf Petru zu, der noch halb benommen im Schnee lag, und klaute auch diesem mit einer Bewegung den locker sitzenden Wollschal. Anschließend zerriss er diesen und band sich die Fetzen um seine Hände. Er schaute noch einmal auf Petru, dann zu Corvin und im nächsten Moment war er im Unterholz einer angrenzenden Baumgruppe verschwunden.

      Petru und Corvin sahen sich an. Der eine im Schnee auf dem Rücken liegend, der andere im Erdloch hockend und sich die Kehle haltend.

      „Willst du mich immer noch vermöbeln?“

      „Nein, ich will nur noch nach Hause!“

      11. Kapitel

      R.O.M.E.

      Diese vier Buchstaben stachen Jakob ins Auge, als er, begleitet vom Untergang der Sonne und den drei Pinguinen im Rücken, über die Brücke des Regierungsgebäudes mitten in Wien ging. Die feurig rote Kugel, geheimnisvoll tief über der Stadt schwebend, stand in einem Winkel, der optimal war, um die goldbraunen Symbole der Republic of Modern Europe in einem eindrucksvollen Licht aufgehen zu lassen. Man hatte ihn schon erwartet, denn ein kleiner, dünner grauhaariger Mann mit einem gepflegten Schnauzer über der schmalen Oberlippe nahm ihn munter in Empfang.

      „Wurde ja auch Zeit.“

      Er unterschrieb schnell einige Papiere und gab sie kurz und bündig der schwarzweißen Eskorte, die bis dahin keine Sekunde ihren Auftrag vernachlässigt hatte, Jakob nicht beim NSD in Paris, dafür aber sicher beim Nationalen Komitee in Wien abzuliefern, das sich seit dem Ostzuwachs hier im ehemaligen historischen Museumsquartier gegenüber dem Heldenplatz befand.

      „Kommen Sie?“, fragte der Mann.

      Jakob folgte seinem neuen Begleiter den Aufgang hinauf, der über eine Betontreppe ins obere Stockwerk führte, wo seit heute Morgen die Abgeordneten des Komitees tagten.

      „Können Sie mir sagen, was die von mir wollen?“

      „Leider nicht, Mr. Lemmon. Nicht dass ich es nicht sagen würde, wenn ich es könnte.“

      Jakob verzog die Augenbrauen.

      „Verstehen Sie mich bloß nicht falsch. Ich weiß es nicht, bin nur der Laufbursche hier im Gebäude, für Botengänge und andere mindere Aufgaben. Aber so viel kann ich Ihnen sagen, Priorität haben Sie am heutigen Tag.“

      Der Alte zwinkerte gut gelaunt mit seinem rechten Auge und blieb stehen.

      „So, wir sind da, bitte warten Sie hier.“ Er legte seine Hand auf die vergoldete Klinke einer Tür, öffnete diese ein wenig und schob seinen Kopf durch den Spalt, bis er sich vollständig durch die enge Öffnung quetschte.

      „Was für ’ne selten dumme Frage: Können Sie mir sagen, was die von mir wollen.“ Jakob sprach mit sich selbst. Er war ganz sicher nicht wegen seiner ausgezeichneten Fähigkeiten als Bildhauer vor das Komitee zitiert worden. Er wusste schon warum. Schon fing die Bauchwunde wieder zu schmerzen an. Mit dieser ablenkenden Frage hatte er sich nur in Sicherheit wiegen wollen.

      Er stülpte die Taschen seiner Jacke nach außen und musste verbittert feststellen, dass er keine Tablette mehr hatte, um den beißenden Schmerz wirkungsvoll zu unterdrücken. Krampfhaft hielt er sich am geschmiedeten Handlauf des Geländers fest. Er fühlte dicke Schweißperlen seine sorgenvolle Stirn herunterrinnen und eine in seinem Körper aufsteigende Wärme. Die Tür ging auf.

      „Sie dürfen jetzt, Mr. Lemmon.“

      Unsicher trat Jakob über die Schwelle.

      „Meine Damen und Herren, Mr. Jakob Lemmon, Mitglied der Future Group of Europe und Student an